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Das Erbe sind wir (eBook)

Warum die DDR-Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-86962-576-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Erbe sind wir -  Michael Meyen
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Michael Meyen erzählt in diesem Buch drei Geschichten: die Geschichte der Journalistenausbildung in der DDR, die Geschichte der Kommunikationswissenschaft in der westlichen Welt und seine eigene Geschichte, die eng mit den ersten beiden Geschichten zusammenhängt. Der Autor ist 1988 nach Leipzig gekommen, um Parteijournalist zu werden, und hat erlebt, wie erst der Staat verschwand, in dem er aufgewachsen ist, dann die Sektion Journalistik und schließlich auch jede Erinnerung an die Menschen, die dort gelehrt haben. Damit ist zugleich ein Paradigma entsorgt worden, das Forschung und Berufspraxis verbunden hat und deshalb eine Antwort auf die Medienkrise der Gegenwart liefern könnte.

Michael Meyen, Prof. Dr., Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus.

Michael Meyen, Prof. Dr., Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus.

1. Was nach Redaktionsschluss passiert ist
2. Warum das Fass noch einmal aufgemacht werden muss
3. Wie ich Geschichte schreiben will
4. Warum die Vergangenheit nicht vergeht. Ein Podium, in dem alles drin ist–sogar die Ostsee-Zeitung
5. Wie ich Parteijournalist werden wollte. Ein sehr persönliches Kapitel, das von Rügen über einen T-34 in den Leipziger Herbst führt
6. Wo Brigitte Klump studiert hat. Eine Reise in die 1950er-Jahre, vermittelt von Ingeborg Schmidt
7. Wie die Leipziger Journalistik der Nabel der Welt werden konnte. Eine kurze Geschichte der Kommunikationswissenschaft
8. Wie Ilse, Nikolai und Tilo zu ihrem Diplom gekommen sind. Drei Studentenleben, stellvertretend für mehr als 5000 andere
9. Was ein westdeutscher Pastorensohn aus dem ›roten Kloster‹ gemacht hat. Ein Ost-West-Seminar, Studenten auf der Suche und ein Minister, der mit sich reden ließ
10. Was der Abriss der Leipziger Journalistik mit der Krise der Gegenwart zu tun hat. Eine Erbengeneration, die ihren größten Schatz nicht zeigen kann322

Personenregister

3.WIE ICH GESCHICHTE SCHREIBEN WILL


Eigentlich sollte dieses Buch Rückkehr nach Leipzig heißen. Ich wollte schon im Titel einen Anspruch signalisieren, der weit über die Journalistik hinausgeht, und mich deshalb an Didier Eribon anlehnen.1 Der Bestseller Rückkehr nach Reims erklärt, was viele nicht nur in Frankreich unerklärlich finden: Wie konnte es passieren, dass die extreme Rechte in diesem Land heute ausgerechnet von denen gewählt wird, die auf den ersten Blick nichts zu verlieren haben als ihre Ketten und deshalb früher, in den 1960ern und vielleicht sogar noch in den 1980ern, gewissermaßen mit einem roten Parteibuch zur Welt kamen? Als wenn diese Frage nicht schon außerordentlich genug wäre, widmet sich ihr ein Autor, der Ungewöhnliches erlebt hat. Homosexualität in der Provinz, der Bruch mit dem Vater und mit der Familie, Freundschaften mit Bourdieu und Foucault. Das ist der Stoff, der soziologische Analysen auf die große Theaterbühne bringt.2

Wer 2020 Rückkehr nach Leipzig auf einen Buchdeckel schreibt, sagt: Ich werde den Osten Deutschlands erklären. Ich werde erzählen, warum die Menschen dort ›drüben‹ unzufrieden sind. Warum sie all das nicht zu genießen scheinen, was die Einheit ihnen beschert hat, Autobahnen, hübsche Fassaden, Kreuzfahrten in die weite Welt, und stattdessen so wählen, dass die großen Medienhäuser in München, Hamburg, Frankfurt immer wieder Reporter ausschwärmen lassen müssen. Und: Ich werde das alles mit einer persönlichen Geschichte verbinden, die so unerhört ist und so spannend, dass sie ein ganzes Buch trägt.

Ich habe gemerkt: Dieser Titel ist zu groß. Es geht um die DDR, das schon. Es geht auch um das, was aus diesem Land geworden ist und aus den Menschen, die dort gelebt und gearbeitet haben. Es geht aber nicht um alle, sondern nur um die, die ich am besten kenne: Journalistinnen und Journalisten und ihre Ausbilder an den Universitäten. Ich bin 1988 zum Studium nach Leipzig gegangen, um Heinz Florian Oertel zu beerben oder Chefredakteur zu werden. So ganz genau weiß man das nicht, wenn man 21 ist und seine Jugend auf der Insel Rügen verbracht hat. Vor allem wusste ich damals nicht, dass der Weg auf den Kommentatorensessel bei einem Fußball-Länderspiel unendlich viel weiter ist, wenn man sein Volontariat bei der Ostsee-Zeitung macht und nicht beim Fernsehen, vielleicht sogar mit dem großen Oertel als Mentor. Dass Leipzig dann in die Geschichtsbücher eingehen würde, konnte ohnehin niemand wissen.

Heute bin ich Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität München. Das heißt: ein kleines Licht, verglichen jedenfalls mit Didier Eribon und all jenen, die sonst glauben, ihre Lebensgeschichte in ein Buch gießen zu müssen. Die Kommunikationswissenschaft ist in diesem Land so unbedeutend, dass man den meisten erst einmal erklären muss, was wir da machen. Nein: Wir interessieren uns nicht für Gespräche wie das, was wir gerade führen, und auch nicht für das, was zwischen dir und deiner Chefin gerade läuft. Wir untersuchen Medien. Massenmedien. Öffentliche Kommunikation. Bei uns studieren auch Menschen, die in den Journalismus wollen, sie lernen dabei aber nicht, wie man einen Artikel schreibt oder einen Film dreht, sondern wie man solche Medienprodukte analysiert und ihren Wirkungen auf die Spur kommt.

Die öffentliche Resonanz auf unsere Forschung geht gegen Null. Wenn irgendetwas schief läuft mit den Medien, werden eher Soziologen gefragt, Philosophen oder Politiker. Welterklärung verkauft sich besser als eine Sozialwissenschaft, die jeden ihrer Befunde mit einem ›Wenn und Aber‹ versehen muss und schon deshalb nicht dazu neigt, irgendeinen Alarmismus zu bedienen. Vermutlich war diese Bedeutungslosigkeit mein Glück. Ich kann mir immer noch schwer vorstellen, dass man mit meiner Kaderakte in diesem Deutschland einen Posten bekommt, der außerhalb der kleinen akademischen Disziplin, die ich vertrete, für wichtig gehalten wird. Dafür war ich aller Jugend zum Trotz schon zu tief drin in einer DDR, die im hegemonialen Diskurs als Diktatur konstruiert wird. Die Stasi und die Mauer. Bautzen und Torgau. »Wenn ich DDR höre, dann denke ich an Schmerz«, sagte Jan, ein Schüler aus Bayern, damals 16 Jahre alt und ohne jeden Kontakt in den Osten, als wir ihn 2012 in einer Studie zum kollektiven Gedächtnis befragt haben. »Diese Unterdrückung. Die Leute wurden da mehr oder weniger eingepfercht. In so ein großräumiges KZ. Jeder musste immer genau angeben, was er tut.«3

In diesem Lager (um in Jans Bild zu bleiben) war ich dazu ausersehen, für gute Laune zu sorgen. Ist doch schön hier. Was nicht schön ist, wird schon noch. Habt Geduld. Im Zweifel ist der Kapitalismus schuld. Egal ob bei der Presse in Rostock oder beim Fernsehen in Berlin-Adlershof: In der DDR wurde man nur dann Journalist, wenn einem dieser Staat und seine Idee vom Sozialismus irgendwie gefielen. Ich habe mich immer amüsiert, wenn meine Studenten in München akribisch aufzählen wollten, was sich die SED alles ausgedacht hatte, um den Spielraum in den Redaktionen zu begrenzen. Agitationskommission, Abteilung Agitation, Donnerstags-Argu, Presseamt. Die Nachrichtenagentur ADN. Die Staatssicherheit. Und über allem der General-Chefredakteur, eine Rolle, die Erich Honecker viel mehr geliebt und gelebt hat als Walter Ulbricht.4 Das gab es, keine Frage. Nur: Wie überall steht und fällt auch in den Medien alles mit der Personalauswahl. Die Ostsee-Zeitung hätte nie und nimmer einen unsicheren Kantonisten eingestellt. Es war dort Mitte der 1980er-Jahre schon schwer, ein Volontariat zu bekommen, wenn man nicht versprechen wollte, gleich nach seinem 18. Geburtstag Kandidat der führenden Partei zu werden.

Ein SED-Mitglied an der Universität München. Ein kommunistischer Agitator. Ich werde später berichten, wie Ulrich Hörlein darauf reagiert hat, lange Ministerialdirigent im bayerischen Wissenschaftsministerium und dort 2002 für meine Berufung zuständig. So aufregend das für mich und meine Familie auch war (meine Frau bekam in dieser Zeit eine Gesichtslähmung, die man noch sehen kann, wenn man ganz genau hinschaut): Eigentlich ist das alles nichts, was man vor einem größeren Publikum ausbreiten sollte. Aus meinen Studien zur Medienlogik weiß ich, dass es dafür Prominenz braucht, Konflikte mit Spitzenleuten oder irgendetwas, das es so noch nicht gegeben hat.5 So vermessen kann niemand sein, der jeden Tag aus einer 60-Quadratmeter-Wohnung in Haidhausen in ein kleines Universitätsinstitut am Rande des Englischen Gartens spaziert und dort Mühe hat, drei Retweets zu bekommen und den Vorlesungssaal bis zum Ende des Semesters wenigstens nicht ganz leer zu spielen.

WER WARUM DDR-GESCHICHTE SCHREIBT


Ich schreibe dieses Buch, weil es sonst niemand tut. Fast bin ich geneigt zu sagen: niemand tun kann. Wer Geschichte schreiben darf, bestimmt der Staat. Es braucht dafür eine Position im Wissenschaftsbetrieb (an einer Universität oder in einem Forschungsinstitut, in einem Museum oder in einer Behörde, die die Akten hütet). Natürlich kann sich jeder daheim an den Computer setzen und vorher vielleicht sogar in die Archive fahren, wenn sein Partner das denn toleriert und das Konto ein Auskommen sichert. Ohne eine Position im akademischen Feld aber bleibt das Selbstbefriedigung. Mehr noch: Es braucht eine Position am Machtpol dieses Feldes, um gehört (rezensiert, zitiert) zu werden. In der Wissenschaft ist Reputation alles und jedes Urteil über die Qualität von Forschung in diesem Licht zu lesen. Der Matthäus-Effekt6: »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe. Wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat«.

Den Bürgerinnen und Bürgern der DDR ist ihre Geschichte genommen worden – zumindest all denen, die sich nicht wiederfinden in einem Narrativ, das vom Diskurs ›individuelle Freiheit‹ bestimmt wird und so ganz automatisch alles abwertet, was diese Freiheit einschränkt.7 Ein Staat, der sich offen einmischt in die Erziehung der Kinder, der den Feierabend in den Betrieben mitgestalten will und das Leben in Wohngemeinschaften und der zum Beispiel auch entscheidet, wie viele Menschen Journalistik studieren dürfen, und als Gegenleistung für den Studienplatz erwartet, dass jeder Absolvent die ersten drei Jahre nach dem Abschluss dort arbeitet, wo man ihn hinstellt.

Für meine Freundin und mich war das eine sehr konkrete Drohkulisse. Was tun, wenn der eine zurück an die Ostsee geschickt wird und der andere nach Karl-Marx-Stadt oder gar nach Hainichen? Wo würde unsere Tochter bleiben, die gerade ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte, als wir nach Leipzig kamen? Wir haben uns deshalb im Frühsommer 1989 einen Termin beim Standesamt besorgt (für den 1. September 1990, kurz vor Beginn des dritten Studienjahres, in dem die Kommission entscheiden sollte und das dann hoffentlich zum Wohl des frisch vermählten Paares tun würde), und ich habe schon im zweiten Semester begonnen, auf eine...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Kommunikation / Medien Journalistik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte DDR • Geschichte • Journalistik
ISBN-10 3-86962-576-7 / 3869625767
ISBN-13 978-3-86962-576-8 / 9783869625768
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