Journal (eBook)
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491420-6 (ISBN)
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff »kollektiver Identitäten«. Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University. Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage »Krieg erzählen« am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen ?Von den Kriegen. Briefe an Freunde?, ?Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF?, ?Wie wir begehren?, ?Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit? sowie ?Gegen den Hass?. »Emckes Texte halten die Frage lebendig, ob es gleichgültig ist, wenn Menschen übertönt werden und verstummen, während andere beredt ihre Macht ausüben.« Elisabeth von Thadden, Die Zeit »Gut also, dass mit dem Friedenspreis [...] eine Autorin ausgezeichnet wird, die erfolgreich an der moralischen Aufladung der politischen Auseinandersetzung des öffentlichen Geredes arbeitet.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung Literaturpreise: »Das Politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung (2005) Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises (2006) Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay für den Beitrag »Stumme Gewalt«, erschienen im »ZEITmagazin« vom 06.09.2007 (2008) Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus 2010 Deutscher Reporterpreis 2010 für die beste Reportage Journalistin des Jahres 2010 (ausgezeichnet vom ?medium magazin?) Journalistenpreis für Kinderrechte der Ulrich-Wickert-Stiftung 2012 Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache (2014) Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2015) Preis der Lichtenberg Poetik-Dozentur (2015) Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2016)
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff »kollektiver Identitäten«. Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University. Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage »Krieg erzählen« am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen ›Von den Kriegen. Briefe an Freunde‹, ›Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF‹, ›Wie wir begehren‹, ›Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit‹ sowie ›Gegen den Hass‹. »Emckes Texte halten die Frage lebendig, ob es gleichgültig ist, wenn Menschen übertönt werden und verstummen, während andere beredt ihre Macht ausüben.« Elisabeth von Thadden, Die Zeit »Gut also, dass mit dem Friedenspreis […] eine Autorin ausgezeichnet wird, die erfolgreich an der moralischen Aufladung der politischen Auseinandersetzung des öffentlichen Geredes arbeitet.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung Literaturpreise: »Das Politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung (2005) Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises (2006) Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay für den Beitrag »Stumme Gewalt«, erschienen im »ZEITmagazin« vom 06.09.2007 (2008) Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus 2010 Deutscher Reporterpreis 2010 für die beste Reportage Journalistin des Jahres 2010 (ausgezeichnet vom ›medium magazin‹) Journalistenpreis für Kinderrechte der Ulrich-Wickert-Stiftung 2012 Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache (2014) Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2015) Preis der Lichtenberg Poetik-Dozentur (2015) Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2016)
Wenn Tagebuch, dann besser das von Carolin Emcke.
Das, was ihre Reden und Reportagen so fasslich, so nahbar macht, entfaltet sich im "Journal" mit voller Kraft.
Man kann Carolin Emcke für ihre klugen reflektierten Gedanken in dieser Chronik nur dankbar sein.
Montag, 30. März 2020
»Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Fall: die Zeit. Sonst und schwerwiegender: die Furcht.«
Hans Blumenberg
Die Woche beginnt mit einer Lüge. Es mag ein Detail sein, das nicht stimmt, aber es ist eben doch eine Lüge. Ich schreibe dies nicht am Montag, dem 30ten. Montag war gestern. Ich schreibe mit einem Tag Verzögerung, das Schreiben hinkt dem erlebten Tag hinterher wie ein versteiftes Bein, das nachgezogen wird und einen synkopischen Rhythmus erzeugt. Gestern konnte ich nicht. Gestern war bloß stumme Lähmung. Verflogen alle wachsame Konzentration der ersten Wochen, all das hungrige Verstehenwollen der medizinischen, sozialen, politischen Facetten der neuen Wirklichkeit, all das eifrige Umstellen, Anpassen von Körpertechniken und sozialen Codes, all die rastlosen Gespräche, wer wie versorgt ist, wer allein, wen es zu begleiten gilt, all die geistigen Behelfs-Strukturen, die die Strukturlosigkeit des Alltags retouchieren sollten – all das funktionierte nicht mehr.
Als ob es nichts mehr zu entdecken gäbe, als ob die steile Lernkurve, die den Anfang der Corona-Krise noch gekennzeichnet hatte, nun abbremste, flatten the curve, das war damit natürlich nicht gemeint, dass wir langsamer lernen würden oder gar nicht mehr. Aber so fühlte sich das an. Gestern. Als ob es in dieser Woche nicht mehr darauf ankäme, etwas zu analysieren, sondern als ob ich nun beginnen müsste, es wirklich zuzulassen: das hier, das wird nun also unser soziales Leben sein, jeden Tag, über viele Wochen, vielleicht Monate, das also wird die Stille sein, die wir ertragen müssen, das also wird die räumliche Zone sein, das Viertel, die Nachbarschaft, in der wir uns aufhalten dürfen, das also ist, worauf wir verzichten müssen, nicht nur mal eben, als fürsorgliche Geste, sondern als anhaltende Praxis, das also, was uns belastet, die fehlenden Einnahmen, die wegbrechenden Aufträge, das wird sich potenzieren, der Verlust, der sich irgendwann nicht mehr ausgleichen lässt, Verlust, nicht nur an Erspartem, an Arbeitsplatz, sondern auch an geliebten Menschen, von denen wir nicht bedacht hatten, wie alt sie sind, oder von denen wir nicht wussten, was ihre Körper in sich trugen von früheren Krankheiten oder Verletzungen, das also werden unsere Nächte sein, schlaflos oder durchzogen von Träumen, in die das, was wir tagsüber zu denken nicht zulassen, verschoben wird, das also wird wahr sein, jeden Tag, den wir überbrücken, bis wir uns schließlich fragen: wie lang und tief das, was überbrückt werden soll, eigentlich sein kann.
Vielleicht irritiert sie mich deswegen so, die Frage nach dem »Danach«. Nicht die Frage nach den Kriterien für eine Öffnung, Bedingungen, die erfüllt sein sollten, damit die Beschränkungen wieder aufgehoben werden – das ist nötig zu besprechen. Aber dieses: Wie soll es »danach« werden? Wer werden wir »danach« sein? Was wird »danach« für immer verloren sein? Was werden wir »danach« erst in seinem Wert verstanden haben? »Danach«, »danach«, »danach«. Ich bin so mit Epidemie im Jetzt befasst, in der Gegenwart, die sie formt, verformt, diktiert, die wir beobachten, begreifen, uns aneignen müssen. Es ist die Gegenwart, in der wir alle, jeden Tag, einzeln, aber auch miteinander, nach Spielräumen suchen müssen, nach »temporary autonomous zones«, wie der Schriftsteller und Philosoph Hakim Bey das genannt hatte, »temporär autonome Zonen«, soziale und kreative Praktiken, die für einen kurzen Augenblick etwas unterbrechen, die subjektive oder kollektive Autonomie anbieten, für eine begrenzte Zeit.
Es ist die Gegenwart, die mich umtreibt, jeden Tag, wie sie sich verwandeln lässt in etwas, das mir gehört, wie ich handlungsfähig, zugewandt, wach bleiben kann. Das Nachdenken über das »Danach« ist nur ein Fluchthelfer der Phantasie.
Was werden wir »danach« als erstes tun, wenn es vorbei ist? Natürlich habe ich auch imaginäre Listen für das »Danach«: In eine überfüllte Bar gehen und wildfremde Frauen küssen; all die Orte besuchen, an denen Freund*innen eingeschlossen oder ausgeschlossen sind, Menschen, um die ich jetzt bange und von denen ich mich nicht verabschiedet habe, vor dieser Zeit, weil ich nicht wusste, dass ich es vielleicht bald müsste; in ein Konzert mit einem Orchester in größtmöglicher Besetzung, wo die Musiker*innen eng aneinander sitzen müssen. Irgendeine Bruckner Symphonie vielleicht. Auch wenn, wie ich mich kenne, mir eher nach etwas Kammermusikalischem oder einer Passion sein wird.
Ich war durch einen unglücklichen Zufall im September 2001 in Downtown Manhattan. Ursprünglich hatte ich mich in New York ausruhen wollen von den Reisen in Kriegsgebiete. Einige Tage Downtown bei einer Freundin, das hatte ich mir erholsam vorgestellt – als alles zerbrach am Morgen des 11. September. Zehn furchtbare, traumatische Tage später gab der Dirigent Kurt Masur mit den New York Philharmonics in der Avery Fisher Hall ein Benefiz-Konzert, das ich nie vergessen werde. Das »Deutsche Requiem« von Brahms. Wir hatten vier Karten ergattert, jeweils zwei Plätze in zwei Reihen hintereinander. Per Zufall hatten wir uns so aufgeteilt, dass ich und die andere Heulsuse (der einzige Mann unter uns) zusammen saßen und die anderen beiden durch unsere Erschütterung nicht abgelenkt wurden.
Ich vermute: niemand in diesem Konzert damals glaubte, dies sei schon ein »Danach«, ganz gleich, was die Musik versprach, auf welchen Horizont seine Zeilen uns verweisen wollten, nichts war vorbei, ich vermute, niemand von uns war in einem »Danach« angekommen. Aber es war der erste Moment, an dem sich trauern ließ. Daran muss ich denken, wenn jetzt alle vom »Danach« sprechen, und mir das »Danach« noch nicht wahrscheinlich scheint. Vielleicht ist das Reden über das »Danach« nur der Versuch einer Abkürzung, als ließe sich die Trauer, zu der wir tausendfach Anlass haben werden, übergehen. Wir werden »Danach« unsere wiedergewonnene Freiheit feiern, wir werden einen Wiederaufbau oder, besser, einen echten anderen Aufbruch organisieren, wir werden hoffentlich eine gerechtere Gesellschaft, ein solidarischeres Europa schaffen, wir werden internationale und lokale Strukturen festigen, all das … aber wir werden das Trauern nicht auslassen können. Wir werden um die Toten trauern, die geliebten Menschen, die wir nicht besuchen, nicht begleiten durften, wir werden nachholen wollen, was schmerzlich untersagt oder unmöglich war, das Abschiednehmen.
Der französische Soziologe Bruno Latour hat diese Tage zu einer Übung angeregt, in der die Erfahrungen des gegenwärtigen Ausnahmezustands abgeklopft werden auf ihre Tauglichkeit für ein Später. Latour regt an, sich allein oder, wenn möglich, gemeinsam mit anderen unter anderem folgende Fragen zu stellen:
1. Welche der Aktivitäten, die im Augenblick verboten sind, möchten Sie anschließend auch nicht wieder zugelassen sehen?
2. Beschreiben Sie, warum Sie diese Tätigkeit für schädlich, überflüssig, gefährlich halten und warum ihr Verschwinden, ihr Verbot oder ihr Ersatz andere Tätigkeiten, die Ihnen wichtiger sind, erleichtern würden?
3. Welche Maßnahmen würden Sie empfehlen, um den Arbeiter*innen, Angestellten, Unternehmer*innen zu helfen, die nicht mehr das tun können, was Sie als Tätigkeiten abgeschafft haben?
Mich interessiert merkwürdigerweise keine einzige dieser Fragen. Mich treiben ganz andere um.
1. Welche der Aktivitäten, die Sie im Augenblick als existentiell erleben, welche der sozialen Praktiken, welche der solidarischen Gesten, welche der kreativen Formate, welche der ökonomischen Hilfsangebote sind unverzichtbar, spenden Trost, mildern die Not, verweisen auf eine Gemeinschaft, die es auch anschließend geben sollte?
2. Welche Berufe, die Sie im Augenblick als besonders notwendig und unverzichtbar erleben, sollten anschließend auch personell ausgebaut und finanziell gewürdigt werden? In welche soziale Infrastruktur, die Ihnen im Augenblick besonderen Schutz oder Fürsorge bietet, sollte anschließend massiv investiert werden? Welche Quellen, Verlage oder journalistischen Angebote, die Ihnen im Augenblick besonders zuverlässig Informationen liefern oder Orientierung bieten, sollten besser unterstützt und bezahlt werden?
3. Wie ist es mit all den Tätigkeiten und Aufgaben, die im Augenblick als nicht »notwendig« oder nicht »systemrelevant« deklariert werden, die aussetzen müssen mit etwas, das ihnen wertvoll ist, die nicht als Logopädinnen oder Kellner, die nicht als Anlagenmechaniker oder als Kamerafrau, nicht als Koch oder als Schauspielerin arbeiten können, was ist mit all den Tätigkeiten und Aufgaben, die es doch auch braucht, die ausdifferenziert und arbeitsteilig erst das herstellen, was wir nutzen oder lieben? Wie signalisieren wir ihnen unsere Wertschätzung, wie ersetzen wir ihre Verluste?
Am späten Vormittag wirbelten Schneeflocken vor dem Fenster. Die ersten des Jahres. Meine lateinamerikanische Freundin vertritt die These, dass Deutsche nur deshalb an Schnee sich erfreuen, weil sie von Kindheit an mit Schnee romantisierendem Liedgut und Gedichten indoktriniert...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2021 |
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Zusatzinfo | 31 s/w-Abbildungen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ausgangssperre • Ausnahmezustand • Corona • Covid-19 • Dresden • Epidemie • Flüchtlinge • Hygiene • Kontaktbeschränkung • lockdown • Nazi • Normalität • Pegida • Rechtsradikale • Ressentiment • Tagebuch • Virus |
ISBN-10 | 3-10-491420-6 / 3104914206 |
ISBN-13 | 978-3-10-491420-6 / 9783104914206 |
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