Die Geschichte des Menschen (eBook)
360 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8028-8 (ISBN)
Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, ist promovierte Philosophin und Autorin des »Tagesspiegel«. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter die hochgelobten Biografien über Lou Andreas-Salomé, Frieda von Bülow, Elisabeth Förster-Nietzsche und Franziska zu Reventlow.
Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, promovierte Philosophin, ist Autorin des "Tagesspiegel". Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter "Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich" und "Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe". Im Berlin Verlag erschienen 2015 "Meine Farm in Afrika. Das Leben der Frieda von Bülow" und 2016 "Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche". Kerstin Decker lebt in Berlin.
ZUM GELEIT
Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Rattus rattus. Ich bin das Gattungssubjekt. Es ist unabdingbar, dass ich direkt zu Ihnen spreche, Sie kennen das aus Ihrer Geschichte: Solange die Schwarzen oder die Frauen nicht mit ihrer eigenen Stimme sprachen, wurde nur über sie gesprochen. Sie waren Exemplare, keine Autoren. Ich bin kein Exemplar, sondern ich verkörpere – philosophisch betrachtet – die Idee der Ratte. Ich bin Platoniker, wie Sie bemerken. Ich bin die integrierte Gesamtratte, der Genius meiner Art.
Genius? Sie empfinden das Wort im Zusammenhang mit uns als latent unpassend? »Schon eure Zahl ist Frevel!« Einer Ihrer Dichter hat es, glaube ich, einmal so formuliert. Allerdings sprach Stefan George nicht über Ratten, sondern über Menschen. Und recht hat er. Masse verdirbt alles.
Bald seid ihr acht Milliarden! Das pfeifen die Ratten schon von allen Dächern. Als George 1907 seine Vermutung über den Zusammenhang von Zahl und Frevel äußerte, wart ihr noch 1,5 Milliarden, und das ist kaum mehr als einhundert Jahre her. Kinder, Kinder, ihr seid wirklich rattenscharf! Beim 20. Jahrhundert fallen euch noch immer zuerst Hitler oder der Kommunismus ein, bloß die Hauptnachricht nie: Es war das Jahrhundert einer beispiellosen Bevölkerungsexplosion. Alle zwölf Jahre werdet ihr nun eine Milliarde mehr, und das ist bloß die gemäßigte Prognose. Ihr seid halt eine Wachstumsgesellschaft. Ihr wachst, bis nichts mehr wächst, bis alles ratzekahl weg ist. Das schöne Wort kommt von uns, den Ratzen, den Radikalen[1]. Selbst eure Sprache weiß um unsere ultimative Kompetenz für erschöpfte Vorräte. Entschuldigt, ich wollte euch nicht zu nahe treten. Doch an euch, nicht an uns, wird dieser Planet zugrunde gehen. Und wir werden die Einzigen sein, die euch vermissen, wenn wir unten in der Kanalisation eurer Städte sitzen und euch plötzlich nicht mehr riechen, nicht mehr schmecken können, weil ihr eure Existenz eingestellt habt. Aber davon später.
Ihr seid der absolute Spätling unter den Geschöpfen, und alle Tiere hoffen, ihr verschwändet bald wieder. Eine Million Arten weltweit sind vom Aussterben bedroht, fast alle viel, viel älter als ihr. Man kann nicht als Letzter in die Klasse kommen und sofort Klassensprecher werden wollen. Zumal ihr dieses Amt nie verstanden habt: Ein Klassensprecher spricht für alle, nicht bloß für sich. Das habt ihr nie gelernt. Wir sollten endlich ein Parlament der Tiere gründen. Meine Art würde sich bereit erklären, den Vorsitz zu übernehmen. Einem missglückten Tier wie euch können wir natürlich keine Vollmitgliedschaft anbieten, höchstens eine Hospitanz.
Vielleicht schreibe ich euren Nachruf. Denn wir sind uns ähnlicher, als ihr denkt. Wir sind beide Opportunisten, Kosmopoliten und Allesfresser, darin liegt unser beispielloser Erfolg, ich erkläre das später. Ihr hättet uns längst einen gegenseitigen Beistands- und Freundschaftsvertrag anbieten sollen, vielleicht hätten wir den sogar rattifiziert. Aber wahrscheinlich nicht.
Opportunisten, Kosmopoliten und Allesfresser? Ich kann schon eure Proteste hören: Ich bin kein Opportunist! Aber von diesen Dingen versteht ihr nichts. Ihr glaubt sogar, dass jeder von euch einzigartig ist. Me, myself and I, der moderne dreifaltige Gott. Vergesst es! Gattungsgeschichtlich betrachtet seid ihr Opportunisten wie wir. Kluge Opportunisten wie wir. Und wir können sogar lachen wie ihr. Wir lachen, wenn wir spielen, fragt eure Neurobiologen, wenn ihr schon keinem Nagetier glaubt. Es hört sich an wie Zwitschern. Natürlich hört ihr unser Lachen nicht, halb taub, wie ihr seid. Und riechen könnt ihr auch nichts. Euch scheinen unsere nackten Schwänze hässlich? Aber ihr seid doch ganz nackt!
Zum Tier hat es nicht gereicht, da wurdet ihr Mensch, ist es nicht so? Der Homo sapiens, was für ein Irrläufer der Evolution, ein gefährlicher Irrläufer der Evolution. Aber ich will nicht ungerecht sein, denn wir teilen den Tisch mit euch, genauer, wir sitzen darunter. Wir sind eure Nächsten. Keine Tierart hat ihre Sache so sehr auf den Menschen gestellt wie wir. Wir folgen euch überallhin, ob ihr wollt oder nicht. Wir sind mit euch sogar bis nach Amerika gegangen, gleich mit dem allerersten Schiff, auf der Santa Maria, das war kurz nachdem wir euch die Pest gebracht haben. Damals wart ihr noch nicht so schandhaft viele, genauer: Am Anfang der Pest 1347 wart ihr 100 Millionen in Europa, danach 30 Millionen weniger. Ihr habt uns das nie verziehen, ich weiß. Wusstet ihr, dass wir mit schuld sind am Untergang Roms? Es gibt wirklich viel zu erzählen.
Ich schreibe dieses Vorwort am 11. Februar 2021, dem letzten Tag des Jahres der Ratte, genauer: der Metallratte, das erkläre ich später. 2020 war also unser Jahr, euer Corona-Jahr. Die Ratte bringt grundsätzlich Neues, die Chinesen wussten das immer. Diesmal brachten wir euch eine ziemlich neue Welt. Ich glaube, ihr werdet das Jahr der Ratte nie vergessen, ich komme darauf zurück.
Um eure Nerven zu schonen, machen wir uns schon lange so unsichtbar wie möglich. Was man nicht sieht, existiert nicht, glaubt ihr in eurer hominiden Arroganz, dem Geschwisterkind der Dummheit. Aber wo einer von euch ist, sind mindestens zwei von uns, eher drei. Noch vor wenigen Jahren waren wir allein sechs Millionen Untergrund-Berliner, da lebten gerade mal drei Millionen von euch oben in der Stadt.
Seid ihr nicht alle Demokraten, habt ihr nicht einen natürlichen Sinn für den Ratschluss und das Vorrecht von Mehrheiten? Eure neuen politischen Bewegungen, die sich für die guten halten, treten unter bemerkenswerten Slogans auf: Wir sind mehr! – Aber das stimmt nicht. Wir sind mehr! Ihr seid 80 Millionen Deutsche, aber wir sind 340 Millionen deutsche Ratten. Was lernt ihr daraus?
Im Rom von heute wohnen bis zu neun Millionen meiner Abstammung. Und in Mumbai sind wir eine Milliarde. Seht ihr, jetzt ekelt ihr euch schon wieder. Wenn wir so alt würden wie ihr, aber unsere Fruchtbarkeit behielten, könnte eine einzige Ratte während ihres Aufenthalts auf Erden 5 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 Kinder, Kindeskinder, Kindeskindeskinder, Kindeskindeskindeskinder usw. zeugen.[2] Ich glaube, ich höre hier besser auf. Wenn ihr nachzählen wollt: Gern, es müssen genau 42 Nullen sein.
Was ihr über uns sagt, trifft auf euch genauso zu: Einzeln seid ihr recht possierlich, doch in der Masse werdet ihr schnell zur Plage. Nein, nicht nur wir haben Grund, über das »Seid fruchtbar und mehret euch!« nachzudenken. Das Christentum ist ohnehin keine gute Rattenreligion, der Hinduismus ist viel komfortabler. Im Hinduismus gelten wir als heilige Tiere und haben sogar ein eigenes Heiligtum. Die Menschen kommen zum Karni-Mata-Tempel, um uns zu opfern.
Mehrheiten machen immer unvorsichtig. Unsere Zahl ermutigte zuletzt einige Mehrheitsrömer, schon mitten am Tage aus den Gullydeckeln zu klettern und wie ihr durch die Straßen zu laufen. In einer Demokratie, sagt ihr, gehört die Stadt allen. Und dann hat eine der Unsrigen eine der Eurigen in den Fuß gebissen. Es geschah in einem Café auf der Piazza San Cosimato. Das war tadelnswert, und wir entschuldigen uns in aller Form. Denn wir sind eigentlich nicht feindselig, nur wehrhaft, egal was die Müllmänner euch erzählen. Und der Rat der Behörden, auch im Sommer die Stadt nur noch in geschlossenem Schuhwerk zu betreten, scheint mir doch sehr hysterisch zu sein. Ihr seid überhaupt viel zu hysterisch.
Ihr haltet euch für das Endziel der Evolution, und dann habt ihr Angst vor Ratten. In Schweden sprang 2014 eine Hausfrau auf ihren Küchentisch, als sie hinter ihrer Spülmaschine etwas entdeckte, das sie dort nicht abgestellt hatte. Es war sehr groß und ungemein beweglich. Dass etwas nicht stimmte, ahnte Signe Bengtsson-Korsas schon länger, mindestens seitdem der Familienkater Enok sich strikt weigerte, die Küche zu betreten. Und vielleicht hatte der Kater recht, die Ratte zählte nicht zu den zierlichsten unserer Art. 39,5 Zentimeter. Ohne Schwanz. Fast so groß wie Enok, der Kater. Das kommt vor. Als Casanova in den Bleikammern Venedigs saß, erblickte er über sich im Gebälk Artgenossen von mir, die ihm die letzte Gesichtsfarbe nahmen.
Es ist nicht überliefert, wie, wann und unter welchen akustischen Kundgebungen Signe Bengtsson-Korsas ihren Küchentisch wieder verließ. Ein Kammerjäger erschien und stellte eine riesige Falle auf. Als er wiederkam, um nach der Falle zu schauen, war die Falle weg. Der Hausgast der Familie Bengtsson-Korsas hatte sie fortgetragen, allerdings steckte sein Kopf drin. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Wir trauern um einen tapferen Vertreter unserer Art, er starb den Märtyrertod, wie so viele von uns.
Man hat Märtyrer noch nie besonderer Intelligenz verdächtigt, sie hätten sonst ein anderes Ende gewählt, vor allem ein späteres. Die Gattung Rattus aber zeichnet sich durch ihre stupende Lernfähigkeit aus. Intelligenz ist Lernfähigkeit! Haben gar Überernährung und Trägheit die natürliche Klugheit der Schwedenratte korrumpiert? Das Phänomen ist gattungsübergreifend, es zählt zu den typischen Zivilisationsschäden, wir werden es im Auge behalten. So möge denn das Bild einer anderen Ratte in der Mitte dieser einführenden Worte stehen. Sie ist ohne Namen wie wir alle, doch sie hätte fürwahr einen verdient.
Sie kam geradewegs von der Straße ins Büro einer amerikanischen Professorin der Biopsychologie, die ihr Leben mit Rattenversuchen verbringt.[3] Im Copley Science Center, Virginia, errichtete die Streunerin ihr Zuhause direkt im Regal über dem Schreibtisch der...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Allesfresser • Begleitratte • Europäische Kulturgeschichte • Geschichte der Menschen • Geschichte des Menschen • Kosmopoliten • Kulturgeschichte • Laborratte • Landratten • Leseratte • Menschheitsgeschichte • opportunisten • Pandemie • Pest • Ratten • Rattenversuch • rattus rattus • Sintflut • Wanderratten • Wasserratten |
ISBN-10 | 3-8270-8028-2 / 3827080282 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8028-8 / 9783827080288 |
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