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Demokratie ohne Mehrheit? (eBook)

Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
272 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43844-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Demokratie ohne Mehrheit? -  Michael Koß
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Ein Beben geht durch das Koordinatensystem der Politik Die Dominanz der Volksparteien, die nach 1945 für Jahrzehnte Deutschland und Österreich geprägt hat, ist unwiderruflich vergangen. Nach dem Ende des Kalten Krieges durchkreuzen neue gesellschaftliche Konfliktlinien die bereits existierenden und damit auch die »alten« Parteien. Die Größenunterschiede zwischen »großen« und »kleinen« Parteien schrumpfen. Mehrheiten sind unter diesen Bedingungen schwerer zu organisieren. Der anerkannte deutsche Parteienforscher Michael Koß sieht darin eine gewaltige Herausforderung, aber trotz vermehrtem Streit und Konflikten keine Katastrophe. Bürger und Politiker sind nun gezwungen, die Demokratie und deren Regeln anders zu verstehen und die Austragung von Konflikten neu einzuüben. Das kann ein Gewinn sein.

Prof. Dr. Michael Koß, geboren 1976, ist ein deutscher Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Vergleichende Politikwissenschaft, Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland und Demokratieforschung. Zusammen mit Daniel Ziblatt zählt er 'zu den profiliertesten Demokratieforschern der Gegenwart' (Die Zeit). Seit Oktober 2019 ist Koß Professor für Politikwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg.

Prof. Dr. Michael Koß, geboren 1976, ist ein deutscher Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Vergleichende Politikwissenschaft, Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland und Demokratieforschung. Zusammen mit Daniel Ziblatt zählt er "zu den profiliertesten Demokratieforschern der Gegenwart" (Die Zeit). Seit Oktober 2019 ist Koß Professor für Politikwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg.

2. Am Anfang waren die Konfliktlinien: Wie Mehrheiten entstehen – und vergehen


Von echten und virtuellen Küchentischen


Denken wir uns ein Paar, der Einfachheit halber ohne Nachwuchs. Die Beziehung hält schon lange und funktioniert zur allseitigen Zufriedenheit. Klar, früher sahen beide vielleicht frischer aus, aber dafür war das Portemonnaie auch leerer. Überhaupt ist das Einkommen der Bereich, in dem beide Partner sich entspannt miteinander messen. Wer verdient mehr? Wer kann wen wozu einladen? Das gute Leben und seine Genüsse stehen für beide im Vordergrund. Da jeder immer mal wieder eine schöne Gehaltserhöhung bekommt, gibt es im Hinblick auf das Einkommen keinen eindeutigen Spitzenreiter, weshalb man auch nicht von einem verbissenen Konkurrenzverhältnis sprechen kann. Ein entspannter Wettbewerb eben – mit dem es allerdings eines Tages plötzlich vorbei ist. Einer unserer beiden Partner hat nämlich genug davon, dass mit dem Kontostand auch der Leibesumfang stetig wächst. Jetzt spielt auf einmal Sport eine sehr wichtige Rolle. Damit eröffnet sich ein völlig neuer Wettbewerb, der deutlich weniger entspannt geführt wird. Dies nicht zuletzt deshalb, weil beide Partner sich nicht gleichermaßen gern auf die vermeintlichen Freuden der Fettverbrennung einlassen. Außerdem haben Fitness- und Einkommensmaximierung nur wenig miteinander zu tun, vor allem dann, wenn das vormals zentrale Luxusleben auch noch gelebt werden will. Insbesondere der Partner, der die Idee mit dem Sport nicht aufgebracht hat, verliert zusehends die Contenance: Warum muss man sich jetzt auch außerhalb des Büros noch abstrampeln, wenn früher das Einkommen allein Garant der eigenen Satisfaktionsfähigkeit war? Was soll dieses Konkurrenzgehabe in einem neuen, vormals mangels Relevanz vollkommen unkontroversen Bereich?

Keine Angst, Sie sind nicht in einem Beziehungsratgeber gelandet. Unser Beispiel soll nur verdeutlichen, was passiert, wenn einfache Konflikte kompliziert werden. Dies ist meistens dann der Fall, wenn nicht nur deren Zahl und Intensität zunehmen, sondern neue Konflikte zusätzlich quer zu den alten verlaufen. Dann nämlich tun sich Zielkonflikte auf. Genau dies war das Problem: Wie lassen sich ein steigendes Einkommen, regelmäßiger Sport und Müßiggang vereinbaren? Die Vereinbarkeit von materiellen und immateriellen Zielen ist auch das Problem der gegenwärtigen Politik. Das, was bei unserem Beispielpärchen das Einkommen war, ist in der Politik seit Ende des Zweiten Weltkriegs die Frage nach der Verteilung wirtschaftlichen Wachstums zwischen den Vertretern von Arbeits- und Kapitalinteressen: der dominierende Konflikt, um den traditionell relativ verhalten gerungen wurde. Das funktionale Äquivalent zum Sport ist heute der Konflikt zwischen vor- und nachmateriellen Zielen. Nach- oder, wie es im sozialwissenschaftlichen Jargon heißt, postmateriell ist der Einsatz für Ziele über den Nationalstaat hinaus – nochmal im Jargon: transnationale Fragen –, wie etwa die Schaffung internationaler Regeln zu Fragen der Migration, des Umweltschutzes und generell der vertieften Zusammenarbeit, vorrangig im Rahmen der EU. Vor- oder prämateriell sind stärker traditionelle politische Ziele, die auf einen eher autoritär verfassten Nationalstaat abzielen und der Bekämpfung des Klimawandels keine, um es freundlich zu formulieren, zentrale Bedeutung beimessen. Genau diese Auseinandersetzung um transnationale Fragen verstärkt sich seit den 1990er-Jahren allerorten rasant, und sie liegt quer zum vormals dominanten Konflikt über die Verteilung von Wohlstand.

Bevor wir uns diesen Konflikten als Grundlage der Politik näher widmen, gilt es, einen zentralen Unterschied zwischen Beziehungs- und gesellschaftlichen Problemen näher zu beleuchten. Zwei Partner, die sich lange kennen und schätzen, dürften bei allem Verdruss einander überkreuzende Konflikte lösen können. Ganze Gesellschaften stellt dies allerdings vor fundamentale Herausforderungen. Auf gesellschaftlicher Ebene fehlt eben der Küchentisch, auf den man in einer Beziehung im Zweifelsfall mal hauen kann, um seinem Ärger Luft zu machen und sich wieder zusammenzuraufen – das würde bei großen Gruppen wie Gesellschaften zum reinen Chaos führen. Dies ist der Hintergrund des berühmten Zitats von Thomas Hobbes, dem ersten modernen Staatstheoretiker, demzufolge das Leben ohne politisch garantierte Sicherheit »einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« (Hobbes 1966, S. 96) sei. Hobbes lebte in der Zeit des englischen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert und wusste, wovon er sprach.

Um Sicherheit und Übersichtlichkeit ins gesellschaftliche Chaos zu bringen, braucht es jemanden, der stellvertretend für die Einzelnen haut, und zwar am besten auf einen virtuellen Tisch. Das stellvertretende Hauen steht für das Prinzip der Repräsentation: In der Politik müssen Entscheidungen und insbesondere deren Umsetzung delegiert werden. Der virtuelle Tisch ist in allen Demokratien das Parlament, und derjenige, der stellvertretend für andere auf ebenjenen haut, das sind die Parteien. Deshalb gilt es, in einem Buch über politische Mehrheiten in erster Linie die politischen Parteien zu analysieren.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Elmer Schattschneider hat es schon zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Punkt gebracht: »Moderne Demokratien sind ohne Parteien nicht denkbar« (Schattschneider 1942, S. 1). Der Grund dafür lautet, dass nur Parteien »Themenbündel« verarbeiten können (Rosenbluth & Shapiro 2018, S. 4). Natürlich kann jeder von uns sich grundsätzlich zu jedem Thema schlaumachen, und erst recht können das die von uns gewählten Abgeordneten. Aber in der politischen Wirklichkeit kommt es eben nicht nur darauf an, in einem einzigen Thema kompetent zu sein, sondern in einer sehr großen Zahl von Themen, und zwar – hier steigt dann auch der einzelne Repräsentant aus – gleichzeitig. Dazu ist es nicht nur nötig, arbeitsteilig zu agieren, sondern auch Prioritäten zu setzen. Beides gleichzeitig können nur politische Parteien bzw. deren Parlamentsfraktionen leisten.6 Sie bilden in Arbeitsgruppen Positionen zu den unterschiedlichsten Politikfeldern und aggregieren diese dann in einem – mehr oder weniger kohärenten, aber immer grundsätzlich alle Mitglieder verpflichtenden – Programm. Deshalb sind Parteien unschlagbar darin, gesellschaftliche Konflikte zu bündeln und in politische Entscheidungen zu übersetzen.

Allerdings bleiben die Parteien ihrerseits unterbelichtet, wenn wir sie nicht in ihrem gesellschaftlichen Kontext betrachten. Um dauerhaft überleben zu können, müssen Parteien an gesellschaftliche Konflikte struktureller Natur anknüpfen. Strukturell sind solche Konflikte, die auf kaum veränderlichen Eigenschaften der Mitglieder einer Gesellschaft beruhen. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht deshalb zunächst die Frage, welche gesellschaftlichen Konflikte uns umtreiben. Dazu soll die Idee der Konfliktlinien vorgestellt werden. Konfliktlinien bilden quasi das Magnetfeld, das es den Parteien ermöglicht, politische Eisenspäne (Wähler) anzuziehen und auf bestimmte Problemlösungen auszurichten. Im zweiten Teil des Kapitels geht es dann um den Zusammenhang zwischen Konfliktlinien und Parteiensystemen in Deutschland und Österreich. Wie wir sehen werden, geht mit einander überkreuzenden Konfliktlinien eine Zersplitterung und Polarisierung von Parteiensystemen einher. Grüne, Linke, Neos sowie die AfD und deren Anhänger mag dies freuen, denn ihre gesellschaftlichen Nischen sind erst in jüngerer Zeit entstanden und mittlerweile zu veritablen Einkerbungen geworden. Die Mehrheitsbildung wird allerdings ungleich schwieriger, wenn mehr Parteien miteinander konkurrieren und diese sich ideologisch voneinander entfernen. Mag die Mehrheit für die Demokratie auch stehen, in der Demokratie sind Mehrheiten angesichts der neuen Konfliktstruktur mit ökonomischen und transnationalen Spaltungslinien zusehends schwieriger zu finden.

Die Anatomie der party crasher


Es sollte bereits jetzt klar geworden sein, dass gesellschaftliche Konflikte, die dauerhaft politisch mobilisierend wirken, eine überaus voraussetzungsvolle Angelegenheit sind. In Deutschland und Österreich fanden sich nahezu alle dieser Konflikte, weshalb sie mit Fug und Recht als die party crasher der europäischen Politik bezeichnet werden können. Seymour Lipset und Stein Rokkan, die die Idee der Konfliktlinien als Grundlage von Parteiensystemen als Erste formuliert haben, führen diese denn auch auf nichts Geringeres als zwei Revolutionen zurück: die nationale, in deren Verlauf der uns wie stets vorhanden vorkommende Staat überhaupt erst zu existieren begann, und die Industrielle Revolution, die unsere moderne, hochgradig arbeitsteilige Wirtschaftsweise begründete (Lipset & Rokkan 1967, S. 13–26). Es ist nicht zu viel behauptet, dass beide Revolutionen unser gesellschaftliches Leben bis heute umfassend prägen. Um von Staat und Kapitalismus unbeeinflusst zu sein, muss man schon sehr tief in den Wald gehen – wohlgemerkt mit handgenähten Schuhen und ohne Mobiltelefon in der Tasche. Und dann steht da doch irgendwo ein Schild, dass ein Wasser- oder Naturschutzgebiet ausweist …

Nationale und Industrielle Revolution waren in ganz Europa umwälzend genug, um potenziell jeweils zwei Konfliktlinien zu begründen. Im Hinblick auf die seit der Reformation im 16. Jahrhundert Fahrt aufnehmende und im Zuge der Französischen Revolution allgegenwärtige nationale Revolution...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abgeordnete • AfD • Bundeskanzler • Bundeskanzlerin • Bundesrat • Bundestag • CDU • Demokratie • FDP • FPÖ • Gabriel Byrne • Grüne • Kanzler • Linke • Linke und Konservative • Mehrheit • Merkel • Minderheit • NSDAP • ÖVP • Parlament • Parlamentarismus • Partei • politisches Geschenkbuch • Regierung • SPD • SPÖ • Steinmeier • Vokspartei
ISBN-10 3-423-43844-4 / 3423438444
ISBN-13 978-3-423-43844-5 / 9783423438445
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