Dreck (eBook)
544 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26863-0 (ISBN)
Bill Buford, Starautor des 'New Yorker', setzt sich gern Extremen aus. Er lebte unter Hooligans und arbeitete in Italien als Pastamacher. Nun unterwirft er sich den Regeln der französischen Spitzenküche. Dafür verpflanzt er seine Frau und seine dreijährigen Zwillingssöhne kurzerhand nach Lyon. Er wird Bäckerlehrling, Schüler des Institut Paul Bocuse und Praktikant im legendären La Mère Brazier, wo er lernt, wie man ein Fischfilet auf 62,5 Millimeter filetiert, Hummertürmchen baut und wie nah Kameradschaft und Intrige in der Küche beieinanderliegen. Aller Widerstände zum Trotz gibt Buford nicht auf, denn ihn treibt die Frage an: Liegt der Ursprung der französischen Küche in Italien? Eine faszinierende kulinarische Reportage.
Bill Buford, 1954 in Lousiana geboren, studierte in Berkeley und Cambridge, war Gründungsredakteur und sechzehn Jahre lang Herausgeber des Literaturmagazins 'Granta' und später Verleger bei Granta Books. Von 1995 bis 2002 arbeitete er als Literaturredakteur für den 'New Yorker', für den er auch heute noch tätig ist. Bei Hanser erschienen der Tatsachenbericht Geil auf Gewalt. Unter Hooligans (1992) sowie Hitze. Abenteuer eines Amateurs als Küchensklave, Sous-Chef, Pastamacher und Metzgerlehrling (2010). Buford lebt in New York.
"Der neue Buford: so wichtig wie Brot und Butter." Denis Scheck, April 2020
Am Montag, den 15. Dezember, waren wir endlich da. Frederick plagte ein Magenvirus, George hatte Fieber, und auch ihr Vater war nicht gerade in Hochform. Jessicas Pläne — Familien-Mittagessen im Restaurant, Marktbesuch auf dem quai, Weihnachtsbaum kaufen (sie hatte sogar einen englischsprachigen Babysitter organisiert, einen bärenstarken Lyoneser namens Stephen, um uns einen romantischen Abend zu ermöglichen) — waren alle hinfällig, weil montags offenbar fast ganz Lyon geschlossen hat. Wir kauften uns ein Sandwich in einem Casino-Supermarkt und hielten Mittagsschlaf, und als wir aufwachten, war es zu spät, um wegen der Jungs noch in der Vorschule vorbeizuschauen. Es reichte auch nicht mehr, ihre Pässe auf la mairie vorbeizubringen. Außerdem ging unser Rom-Flug am nächsten Morgen um fünf. Diesmal verpassten wir ihn nicht. Fünf Minuten vor Schließung des Gate kamen wir an und rannten.
Da auch unser Rückflug, am Freitag vor Weihnachten, frühmorgens ging, bestand immerhin die Chance, dass die École Robert Doisneau bei unserer Rückkehr noch geöffnet sein würde. Aber es tobte ein Schneesturm. Wir trafen mit Verspätung ein, erst kurz vor Schließung des Flughafens, und jetzt hatte in Lyon, einer traditionell katholischen Großstadt, aufgrund der Feiertage drei Wochen lang alles geschlossen: die Restaurants (wo ich mich hätte den Küchenchefs vorstellen können), die Behörden (etwa la mairie) und natürlich auch Schulen und Vorschulen.
Die Wohnung war kalt, zumindest kam es uns so vor. Als New Yorker waren wir offensichtlich schon zu lange an überheizte Räume gewöhnt.
Frederick, der blass und zerbrechlich wirkte, war in erstaunlich guter Stimmung und saß auf unserem neuen Ikea-Sofa vor dem schwarzen TV-Bildschirm (der Fernseher war noch nicht angeschlossen, denn auch die Kabelfernsehfirma hatte zu). Er sah sich in unserem neuen Ikea-Wohnzimmer um, spürte, wie isoliert wir jetzt waren, und fragte treuherzig: »Wo sind denn jetzt alle unsere Freunde?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich.
Am nächsten Morgen ging ich mit den Jungs in ein Café, um unser New Yorker Ritual des Samstagfrühstücks fortzusetzen. Sie bestellten sich heiße Schokolade, wie immer, und baten wie immer um mehr Zucker. Der Kellner schnaubte und kam mit ein paar Zuckerwürfeln zurück — ganz offenbar nicht aufgebrauchte Würfel, die man wieder eingewickelt hatte.
Hinterher schlug ich einen Besuch der Markthallen vor, Les Halles de Lyon Paul Bocuse, auf der anderen Seite der Rhône.
Wir nahmen uns ein Taxi, kletterten alle auf den Rücksitz. Die Fahrt dauerte fünf Minuten. Fahrpreis sieben Euro. Ich hatte einen Zehn-Euro-Schein dabei. Der Fahrer nahm ihn entgegen, und ich wollte schon sagen, er solle das Wechselgeld behalten — als er Frederick schlug.
Frederick hatte seine niedlichen Klettverschluss-Schuhe auf den Sitz gelegt — die Pummelbeinchen eines Dreijährigen, winzige Füße, eingerollte weiße Kindersöckchen.
»Füße runter!«, schimpfte der Fahrer und gab ihm zwei kräftige Klapse: auf jedes Schienbein einen, mit dem Handrücken (der Hand, an der er seinen Ehering trug).
Ich stieg aus und musste das erst mal realisieren: Ein Mann, ein Fremder, hatte soeben den Bezahlvorgang unterbrochen, um mein Kind zu schlagen!
Ich rang nach Worten, während ich meine Jungs auf dem Gehweg in Sicherheit brachte. Dann steckte ich den Kopf in den Wagen, um dem Fahrer in bestmöglichem Französisch zu sagen, er solle nie mehr (jamais!) meinen Sohn (mon fils) anrühren (toucher), sonst würde ich ihm die Augen aus der feisten Visage reißen und mir zum Essen braten. Im Grunde habe ich keine Ahnung mehr, was ich damals sagte.
»Merci, Monsieur. Merci beaucoup!«, erwiderte er. Und fuhr grinsend davon.
Ich besorgte uns einen Christbaum, einen Ladenhüter (mit trockenen Nadeln, halb verdorrt, ein richtiger Kümmerling), Jessica kaufte Kerzen, und ich zog los, um einen Festtagsvogel zu ergattern. Aber ich fand nichts. Weder Gans, Truthahn noch Ente. Alles ausverkauft. Schließlich entschied ich mich für den vermutlich letzten Kapaun der Stadt, einen riesigen kastrierten Hahn, meinen erster Einkauf hier, ein mühsamer Handel mit einem Metzger, der dauernd sagte »Quand?« — »Wann?« — ein völlig alltägliches Wort, das ich vor lauter Stress einfach nicht verstand. (»Quand?« »Quoi?« »Quand?« »Pardon?« »Quand, pour quand?« Ach so! Pour quand! Jetzt?)
Am Heiligen Abend versammelten wir uns zu viert um den kleinen Tisch in der Küche, dem einzigen warmen Raum. Es war eine stürmische schwarze Nacht, die Kerzen wollten nicht brennen, und ich tranchierte einen Vogel, der locker für 25 Leute gereicht hätte.
George, den der Kopf faszinierte — er sah zum ersten Mal einen essbaren Vogel mit Kopf —, aß nur vom Kopf, sonst nichts. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er um den Schnabel herum das Fleisch abnagte und auf dem Kehllappen herumkaute. Vor lauter Schlafmangel hatte er tiefe Ringe unter den Augen.
Es wurde kälter. Wir drehten den Thermostat höher.
Wie sich herausstellte, war er kaputt, aber egal, die Heizungsmonteure arbeiteten sowieso nicht.
Wir spürten einen kalten Luftzug und hörten das fauchende Geräusch des Sturms. Es kam nicht durch die prächtigen offenen Kamine (die zu betreiben gesetzlich verboten war), sondern durch einen Spalt zwischen zwei türhohen Fenstern, ein Handwerker hätte das schnell repariert, aber wir konnten ja keinen rufen.
Der Weihnachtsmorgen. (Keine Erinnerung.) Silvester. (Keine Erinnerung.) Der Neujahrstag. (Keine Erinnerung.)
Ich wurde krank. Die Bronchien. Auswurf. Ein grippaler Infekt.
Jessica wurde krank. Schlimmer. Lungenentzündung.
Wir riefen SOS Médecins an, einen Hausbesuchsdienst. Das kostete 120 Euro, weil wir in Frankreich ja noch nicht krankenversichert waren. Bevor wir uns nicht auf der Präfektur registriert hatten, existierten wir für die Regierung nicht. Aber auch die Präfektur hatte geschlossen. Es waren sehr lange Weihnachtsferien. Wir schlugen uns tapfer. Wir warteten auf Donnerstag, den 8. Januar, den Tag, an dem die Schulen wieder öffnen würden. Hoffentlich hatten unsere Jungs noch Anspruch auf ihren Platz in der Vorschule. Und wenn nicht?, fragte ich. Immerhin hätten sie dort schon vor drei Monaten erscheinen sollen.
Jessica war ungewöhnlich optimistisch. Zwischen ihr und der Leiterin hatte die Chemie auf Anhieb gestimmt, sie hatte ein gutes Gefühl. Aber taugte das als Basis für eine Schulanmeldung? Und letztlich waren die Plätze (falls überhaupt) ja nur auf die Vornamen reserviert. (Vornamen und ein Gefühl?) Beim Besuch eines Spielplatzes auf dem quai lernte ich andere Eltern kennen. Auch sie waren neu nach Lyon gezogen und hatten versucht, ihr Kind an der École Robert Doisneau anzumelden, ohne Erfolg, weil einfach kein Platz mehr frei war. Womöglich war dieses Kind wegen unserer Zwillinge abgewiesen worden, die zwei Plätze besetzten, ohne zu erscheinen?
Am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien machten wir uns ziemlich nervös auf den Weg. Die Schulleiterin, Brigitte, stand oben an der Treppe. Sie erkannte Jessica sofort. »Voilà les garcons!«, rief sie.
Alle waren erleichtert — sie auch, aber ganz besonders wir — und atmeten tief durch. Wir fühlten uns schwerelos. Wie Ballons. Brigitte führte die Jungen zu ihren Spinden. Sie war ganz aufgeregt. Noch nie zuvor hatte es an der L’École Robert Doisneau Kinder aus New York gegeben. (Das machte die Jungs zu Stars. Sie waren les New-Yorkais.)
Brigitte erwähnte die Schulkantine.
(Ja!)
Aber jetzt noch nicht, sagte sie.
(WAS?)
Da herrsche zu viel Krach, zu viel Lärm. Das sei noch zu viel für sie. »Es wäre besser, les garcons würden erst mal eine Weile zu Hause essen.«
(Ich: Aber eine laute Kantine ist doch absolut okay! Warum sollten wir unseren Tagesablauf unterbrechen, um unseren Kindern Mittagessen zu kochen?) Schreckliche Neuigkeiten.
Das häusliche Mittagessen unter der Woche ist in Frankreich ein altehrwürdiger Brauch und zeigt, was den Franzosen Mahlzeiten bedeuten. In unserem Mietshaus aßen alle Eltern mit ihren Kindern zu Mittag: Meist holte die Mutter die Kinder von der Schule ab, und oft kam auch der Vater von der Arbeit nach Hause und brachte aus der nahe gelegenen Bäckerei Baguettes mit. Um 13:45 Uhr kehrten die Kinder in die Schule zurück. Unsere Kinder aber weigerten sich. Demonstrativ, tränenreich,...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2020 |
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Übersetzer | Sabine Hübner |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dirt: Adventures in Lyon as a Chef in Training, Father, and Sleuth Looking for the Secret of French Cooking |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alltagsflucht • Baguette • Chefkoch • Croissant • Die Irren mit dem Messer • Ein Bauch lustwandelt durch Wien • Essen • Familie • Foie Gras • Frankreich • französische Küche • Französischer Wein • Französisch Kochen • Geil auf Gewalt • Gourmet • Granta • Hape Kerkeling • Haute Cuisine • Hitze • humorvoll • ich bin dann mal weg • Italienische Küche • Kochbuch • Küche • Lyon • Medici • New York • New Yorker • #ohnefolie • ohnefolie • Paul Bocuse • Ragout • Ratatouille • Reise • Renaissance • Roland Trettl • Serviert. Die Wahrheit über die besten Köche der Welt • spiegel bestseller • Spitzenköche • Sterneköche • Tim Mälzer • Tim Raue • Traumberuf • Verena Lugert • Vincent Klink • wie koche ich französisch |
ISBN-10 | 3-446-26863-4 / 3446268634 |
ISBN-13 | 978-3-446-26863-0 / 9783446268630 |
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