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Abschied von Hermine (eBook)

Über das Leben, das Sterben und den Tod – und was ein Hamster damit zu tun hat - Von der Autorin des Bestsellers „Marianengraben“
eBook Download: EPUB
2021
288 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-25858-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abschied von Hermine - Jasmin Schreiber
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Wir müssen alle sterben
Wir Menschen, die Tiere im Wald und definitiv fast jede Büropflanze dieser Welt - alle müssen irgendwann sterben. Zieht der Tod in unserem Umfeld ein, bringt er Schmerz mit und hinterlässt Lücken in unseren Reihen und Herzen, die nur schwer oder gar nicht wieder zu schließen sind. Oft denken wir dann: warum, warum, warum? Und genau hier setzt dieses Buch an, denn als Biologin geht Jasmin Schreiber den Dingen gern auf den Grund. Sie sieht sich an, was Leben überhaupt ist und was mit uns im Laufe der Zeit passiert, wenn wir altern. Sie betrachtet die Zellen, aus denen wir bestehen, wir treffen mit ihr ungewöhnlich jung gebliebene Kiefern, schwimmen mit unsterblichen Quallen und durchschreiten gemeinsam das Tal der Trauer. Am Beispiel ihres verstorbenen Hamsters Hermine erfahren wir außerdem, was passiert, wenn ein Körper verwest. Und wieso dieser Prozess auch Chancen birgt - für andere. Denn es lebt und stirbt sich einfach besser, wenn wir verstehen, dass der Tod zwar unschön ist, wir ihn aber trotz allem brauchen.

»Wie liebevoll die Autorin das Leben erklärt! Ich will meine Begeisterung teilen wie eine Zelle.« Micky Beisenherz

Jasmin Schreiber ist Biologin, Schriftstellerin und eine der umtriebigsten Wissenschaftsjournalistinnen des Internets. Wenn sie nicht gerade zwischen Flora und Fauna kleine Expeditionen zu Farn und Gliederfüßern durchführt, schreibt sie sich auf die Spiegel-Bestsellerliste und bringt Geschichten aus Wissenschaft und Natur im Podcast bugtales.fm zusammen. 1988 in Frankfurt am Main geboren, studierte sie Biologie in Marburg und Wien. Ihr Debütroman Marianengraben erschien 2020, zuletzt erschienen der Roman Der Mauersegler und ihr aktuelles Sachbuch 100 Seiten über Biodiversität. Mit ihrem Newsletter Schreibers Naturarium bringt Jasmin Schreiber spannende Tiergeschichten, News zu Pflanzen, Ökosystem und die Welt der Wissenschaften ins Mail-Postfach. Dass Humor und Natur so wunderbar zusammengehen, beweisen auch Jasmins kluge Alltagsbeobachtungen auf Twitter und Instagram unter @lavievagabonde. Sie lebt aktuell zusammen mit einer Vielzahl von Tieren in Hamburg und Frankfurt.

VOR KURZEM HABE ich mein erstes graues Haar entdeckt, als ich im Dorf meiner Mutter im Feld spazieren war und dabei viele peinliche Selfies geschossen habe in der Hoffnung, dass mich niemand dabei beobachtet. Vielen Menschen macht die Vorstellung des ersten grauen Haares Angst, sie reißen es raus, holen im nächsten Drogeriemarkt eine Packung Farbe, würden gerne die Zeit anhalten. Meine Begegnung mit dem ersten grauen Haar war eine friedliche, ich dachte: aha! Ich werde alt! Dabei werde ich das ja nicht erst seit Kurzem. Während ich das hier tippe, bin ich zweiunddreißig Jahre alt. Das ist jetzt nicht sonderlich beeindruckend in der westlichen Welt im Jahr 2020 – wäre ich jedoch eine Ehefrau Heinrichs des Achten, hätte ich quasi meinen Lebensabend schon erreicht.

Bei der Definition von Altern ist es wie bei der eines Lebewesens: wirkt im ersten Moment recht einfach. Dennoch gibt es auch hier wieder einmal keine allgemein anerkannte Definition, die alles abdeckt und auf die sich alle Wissenschaftler:innen einigen können. Dennoch: Nehmen Sie mal einen Stift und ja, Sie sollen jetzt hier ins Buch kritzeln. Schreiben Sie bitte hier Ihre persönliche Definition hinein, und wir schauen dann gleich mal, ob sie nach diesem Kapitel bestehen bleibt oder sich ändert.

Wenn ich jetzt gleich über die Gesetzmäßigkeiten des »Alterns« schreibe, beziehe ich mich hier auf das sogenannte primäre Altern. Mit diesem Ausdruck beschreiben wir die zellulären Alterungsprozesse, also unser physiologisches Altern. Veränderungen, die unser Körper durchmacht, ohne dass eine Krankheit dafür ausschlaggebend ist. Dabei geht es um Prozesse, die wir auch durchlaufen würden, wenn wir für immer kerngesund wären – also Falten, Haarausfall, die plötzliche Fixierung auf das Einhalten mittäglicher Ruhezeiten in der Nachbarschaft, so was eben.

Es gibt noch eine weitere Form des Alterns, und zwar das sekundäre Altern durch Schäden. Das beschreibt Einflüsse, die das primäre Altern verstärken und auch beschleunigen: Krankheiten, zu wenig Sport, Drogen- und Alkoholkonsum, ein etwas lascher Umgang mit Strahlung (ja, auch Sonneneinstrahlung!) und falsche Ernährung sind nur einige Aspekte, die uns dem Grab schnell näher bringen**. Darum geht es aber jetzt erst einmal nicht.

Früher definierte man Altern grob gesagt so: als Verlust von Fähigkeiten im Laufe der Zeit. Wir haben also immer mehr körperliche und geistige Einbußen zu verzeichnen, Dinge, die zunächst kein Problem waren, gehen erst schlechter und irgendwann gar nicht mehr. Egal, wie sehr wir uns anstrengen und wie fit wir sind, wir werden mit 70 nicht mehr so gut und schnell Fußball spielen können wie mit 20. Das ist auch ganz unabhängig davon, ob wir immer noch viel trainieren, da mit Ende 20 unsere neuromuskulären Funktionen beginnen abzunehmen – ob wir wollen oder nicht. Sport und ein gesunder Lebensstil können diese Entwicklung verlangsamen, aber nicht stoppen.

Mittlerweile gibt es neuere Definitionen, von denen ich eine besonders spannend finde. Und zwar: Altern ist die Veränderung des Organismus im Laufe der Zeit4. Das klingt erst einmal sehr ähnlich, jedoch spricht man hier eher von Veränderungen als von Fähigkeitsverlusten, denn wenn wir sehr jung sind, gewinnen wir ja erst einmal ganz schön viele neue Kompetenzen dazu. Nach und nach können wir Dinge, die wir vorher nicht konnten: uns auf den Rücken drehen, sprechen, laufen, uns als eigenständiges Individuum begreifen – und dabei werden wir ja auch älter. Dinge, die heute für uns ganz selbstverständlich sind, waren es ein paar Lebensjahrzehnte vorher noch überhaupt nicht. Häufig wird man als Erwachsene:r im Laufe der Zeit ja ein wenig arrogant der Jugend gegenüber. Was hilft: einfach mal an die Zeit zurückdenken, als einem die Eltern geduldig beibringen mussten, wie herum man eine Gabel hält oder dass man den Haufen in das Töpfchen macht und nicht daneben (»und auch nicht damit spielen, Jonas!«).

Was ich damit sagen will: Altern heißt nicht automatisch Verfall, genauso wenig, wie unser Heranwachsen nicht immer nur ein Hinzugewinnen von Fähigkeiten bedeutet. So habe ich zum Beispiel größtenteils noch im Uterus meiner Mutter die Fähigkeit zur Eizellbildung verloren und kam mit rund 400.000 unreifen Eizellen (Oozyten) zur Welt. Neue kann ich jetzt nicht mehr bilden, auch wenn Forschungsteams zuletzt festgestellt haben, dass in den Eierstöcken erwachsener Menschen zumindest Stammzellen nachweisbar sind5. Und das ist ja noch nicht alles, kaum war ich auf der Welt, verloren meine Blutgefäße immer mehr an Elastizität, und auch mit meiner körperlichen Flexibilität ging es direkt bergab. Während ich mich als Baby in alle möglichen absurden Positionen verlagern konnte, habe ich diese Fähigkeit nach und nach während meines Heranwachsens verloren – Sie übrigens auch. Nicht mehr allzu lange, und ich komme an dem Punkt an, an dem ich mich nicht mehr nach dem eben heruntergefallenen Stift bücke, sondern aus pragmatischen Gründen warte, bis noch das Buch hinterhergeflogen ist, sodass ich mich nur einmal nach unten beugen muss. Und obwohl ich Sport mache, weiß ich als Biologin: Nun, das wird dann die nächsten Jahre jetzt nicht unbedingt besser. Und deshalb habe ich mir ein Nackenhörnchen für längere Zugfahrten gekauft, wie so eine Verliererin. Altern als Veränderung über Zeit – besonders gut spürbar auf Bürostühlen oder wenn man endlich diese eine schwere Kiste aus dem Keller trägt.

Diese Definition bedeutet jedenfalls, dass wir in den Phasen besonders starker Veränderungen intensiv altern. Die stärksten und schnellsten Veränderungen durchlaufen wir während der Embryonalentwicklung. Wir entwickeln uns von einer einzigen großen Zelle zu einem kompletten lebensfähigen Organismus, was ein ziemlich starkes Stück ist.

Die nächste Phase großer Veränderung findet nach der Geburt statt und hält an, bis wir ungefähr ein Jahr alt sind. In dieser Zeit verdoppeln Menschenkinder ihr Gewicht, das Skelett verändert sich und muss zum Teil noch aushärten, wie zum Beispiel an den Fontanellen am Schädel – das sind diese weichen Stellen, bei denen man bei Babys sehr aufpassen muss, um das darunterliegende Gehirn nicht zu verletzen. Anschließend wachsen wir zwar noch, die Prozesse in unseren Körpern laufen aber nach einem relativ ähnlichen Muster ab. Bis zur Pubertät, und da wird es richtig stressig.

Pubertät ist ein Albtraum – anders kann man es nicht sagen –, und zwar für alle Beteiligten. In einem Moment ist alles okay, wir gehen zur Schule, wir fahren auf unseren Tretrollern herum und schauen Kinderserien. Im nächsten Moment stellen wir fest, dass uns Körper und Psyche den Krieg erklärt haben. Wir sehen anders aus, bei manchen von uns wachsen plötzlich die Brüste, andere Teenies beten darum, nicht an die Tafel gerufen zu werden – und zwar nicht, weil sie die Hausaufgaben mal wieder vergessen haben, sondern weil sie definitiv nicht möchten, dass die ganze Klasse sieht, dass sie eine Erektion haben, von der sie nicht einmal selbst wissen, wo zum Teufel die jetzt ausgerechnet bei einer Kurvendiskussion herkommt. Uns wachsen Haare an ungewohnten Stellen, wir riechen anders, manche von uns geraten in den Stimmbruch, wir reagieren auf eine neue Art und Weise auf Gleichaltrige. Wir sind erst wild und euphorisch, dann auf einmal traurig und wütend, ängstlich und verunsichert, wir schämen uns für unsere Körper, wir fühlen uns unverstanden, weil wir uns selbst gerade auch überhaupt nicht verstehen. Unsere Gehirne werden von Hormonen überschwemmt und lassen uns Dinge fühlen, mit denen wir den Umgang noch lernen müssen. Wir werden aggressiv und patzig in einem Moment, dann wieder liebesbedürftig und anschmiegsam im nächsten, und das ganze Teenagerleben fühlt sich an wie eine Achterbahnfahrt. Und all das, während unsere Eltern in dieser absoluten Ausnahmesituation gerne auf Facebook Witze über sich nicht waschende Teenies teilen und uns im Freundeskreis grundsätzlich nur noch als »Pubertier« bezeichnen. Nebenbei gesagt ganz schön herablassend für Lebewesen, die selbst noch 40 Jahre zuvor versucht haben, einen Stock zu essen oder den eigenen Windelinhalt mit ihren Fingern zu untersuchen, aber das vergisst man gerne mal.

Kurz gesagt: Pubertät ist für alle anstrengend. Als betroffene Kinder wissen wir nicht, was gerade mit uns geschieht, und wir leiden. Und auch als Eltern fühlt es sich an, als seien die Kinder, die man seit über einem Jahrzehnt kennt, nachts von Aliens entführt und mit schwer berechenbaren Doppelgänger:innen ausgetauscht worden. Dabei sind das alles nur Nebenwirkungen der Umbauten, die notwendig sind, um uns zur Geschlechtsreife zu führen. Wir verändern uns massiv und rasant und werden auf ein Leben als erwachsenere, fortpflanzungsfähige Menschen vorbereitet, wir fangen an zu ergründen, welches Geschlecht wir anziehend finden, oft fangen Menschen in dieser Zeit an zu spüren, ob sie sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht wohlfühlen oder eben nicht. Es ist eine Zeit voller Umbrüche, heimlich geschauter Pornos und auch voll von Veränderungen – und damit: eine Zeit des massiven Alterns. Sobald wir diese aufwühlende Phase durchgestanden haben, wird es nicht nur psychologisch und damit bei Familienfeiern ruhiger, sondern auch zelltechnisch betrachtet – und zwar für die nächsten 15 Jahre.

In dieser...

Erscheint lt. Verlag 29.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abschied • Biologie • Bloggerin • Darm mit Charme • eBooks • Leben und Tod • Marianengraben • Sachbuch • Soziologie • Sterben • Trauer
ISBN-10 3-641-25858-8 / 3641258588
ISBN-13 978-3-641-25858-0 / 9783641258580
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