Das weibliche Kapital (eBook)
400 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26869-2 (ISBN)
Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich gehört zu den drängendsten Problemen der internationalen Politik. Die Suche nach Lösungen wird stetig intensiviert - und hat doch einen blinden Fleck: die Rolle der Frauen.
'Das weibliche Kapital' liefert die wissenschaftlichen Grundlagen für den entscheidenden nächsten Schritt. Anhand eigener Forschung, empirisch belegt und mit zahlreichen Fallbeispielen, zeigt Linda Scott, dass die Gleichstellung der Geschlechter kein Luxusprojekt des reichen Westens ist, sondern der aussichtsreichste Schlüssel zur Armutsbekämpfung. Damit schließt sie eine Lücke, die die großen Entwürfe von Thomas Piketty und Jeffrey Sachs in den vergangenen Jahren offen gelassen haben.
Linda Scott hat mit Das weibliche Kapital ihr Lebenswerk vorgelegt. Die emeritierte Professorin für Entrepreneurship und Innovation an der Universität Oxford ist für ihre jahrzehntelange Forschung zur wirtschaftlichen Rolle der Frauen - der XX-Ökonomie - rund um den Globus vom Prospect Magazine zweimal unter die Top 25 of Global Thinkers gewählt worden. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit berät sie UN-Panels, Think Tanks und international tätige Unternehmen.
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DIE XX-ÖKONOMIE
Das Auto raste durch die unbeleuchteten Straßen von Accra. Mein Herz klopfte. Der Fahrer erklärte wütend und zugleich besorgt, was links und rechts zu sehen war.
Hunderte obdachloser jugendlicher Mädchen bewegten sich wie Schatten durch die Nacht. Manche wuschen sich halb nackt in großen Eimern, weil sie keine andere Möglichkeit hatten. Andere lagen übereinander und schliefen. »Sie flüchten aus den Dörfern«, sagte der Fahrer. »Die Eltern wollen sie an fremde Männer verkaufen und verheiraten. Tagsüber müssen sie wie die Tiere schuften und sich nachts den Männern sexuell unterwerfen. Im Glauben, alldem entkommen zu können, flüchten sie in die Stadt.«
Viele der Mädchen waren schwanger oder hielten Babys in den Armen. Vergewaltigung sei in den Dörfern Alltag, erzählte der Fahrer, aber hier auf der Straße sei es auch nicht sicherer. »Eine ganze Generation ist auf der Straße aufgewachsen«, fuhr er gequält fort. »Sie werden nie ein Leben in einer Familie oder Gemeinschaft kennenlernen. Wie sollen sie lernen, richtig und falsch zu unterscheiden? Was wird aus Ghana wenn diese Kinder erwachsen werden?«
Viele Mädchen arbeiteten auf den Märkten als Trägerinnen. Sie balancierten die Einkäufe der Kunden in Körben auf ihren Köpfen. Manche rutschten in die Prostitution ab. Andere waren in einem jahrtausendealten Albtraum gefangen – dem Sklavenhandel, der noch immer die riesigen Kriminalitätsnetzwerke der Welt bedient.
Die Lobby meines Hotels fühlte sich an wie ein anderes Universum. Ich recherchiere schon lange in den Armenvierteln dieser Welt, aber nie zuvor hatte mich etwas so sehr verstört wie das, was ich in der ersten Nacht in Ghana sah.
Ich war am Nachmittag angekommen, um ein vielversprechendes Projekt zu beginnen: Mein Team von der Universität Oxford wollte eine Maßnahme erproben, die jungen Mädchen vom Land helfen sollte, länger zur Schule zu gehen. Die Methode war einfach, aber einen Versuch wert – wir stellten kostenlose Binden zur Verfügung. Zum Zeitpunkt unserer Studie war bereits bekannt, dass arme Länder große wirtschaftliche Vorteile hatten, wenn Mädchen die Mittelschule absolvierten. Mädchen mit besserer Bildung erhöhen Qualität und Menge der Arbeitskräfte, wodurch das Wirtschaftswachstum steigt. Mädchen, die ihre Ausbildung abschließen, bekommen auch später ihr erstes Kind und haben somit insgesamt weniger Kinder, wodurch das oft enorme Bevölkerungswachstum verlangsamt wird. Gut ausgebildete Frauen erziehen ihre Kinder zudem anders: Sie begleiten sie eher bis zum Schulabschluss, ernähren sie gut und stellen eine gute gesundheitliche Versorgung sicher. Diese Mütter durchbrechen den Teufelskreis der Armut, der viele Länder Afrikas fest im Griff hat.
Doch an jenem Abend bekam ich das Gegenteil zu sehen, nämlich was geschieht, wenn die Kräfte, die die Mädchen aus den Schulen drängen, sie gänzlich in die Flucht schlagen. Die geflohenen Mädchen geraten in eine Abwärtsspirale, die in der gesamten Region für ganze Generationen Leid und Gefahr bedeutet. Ich wusste, dass diese destruktiven Dynamiken auf der ganzen Welt am Werk sind und auch in anderen Ländern zu Gewalt und Destabilisierung führen – denn Menschenhandel ist eine der gewinnbringendsten Sparten des internationalen Verbrechens. Doch was ich in dieser Nacht erlebte, veränderte meinen Blick auf meine Arbeit für immer und verlieh mir ein Gefühl der Dringlichkeit, das ich nie wieder verloren habe.
Im Zentrum dieses Buchs steht die überraschende Wahrheit, dass die wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen einige der teuersten Übel der Welt beheben und zugleich Wohlstand für alle aufbauen würde. Auf den folgenden Seiten werde ich Geschichten erzählen, die jener aus den Schatten von Accra ähneln. Ich werde über persönliche Erfahrungen aus afrikanischen Dörfern und asiatischen Slums berichten, aber auch aus Londoner Vorstandszimmern und amerikanischen Universitäten. Ich werde zeigen, wie Frauen an all diesen Orten wirtschaftlich ausgeschlossen werden und welche negativen Folgen das hat.
Seit 2005 kann diese Realität zunehmend durch eine zuvor nicht verfügbare Menge an Daten belegt werden: Die weibliche Bevölkerung aller Länder ist durch ein besonderes Muster ökonomischer Benachteiligung geprägt, und diese Benachteiligung wird überall mit den strukturell gleichen Mechanismen aufrechterhalten. Die eingeschränkte wirtschaftliche Inklusion von Frauen geht allerorten über Arbeit und Lohn hinaus und umfasst auch Besitztümer, Kapital, Kredite und Märkte. Zu diesen ökonomischen Hindernissen kommen kulturelle Beschränkungen, die Frauen gemeinhin auferlegt werden, etwa geringere Mobilität, die vulnerable Position, die sie im Zusammenhang mit der Fortpflanzung innehaben, oder die allgegenwärtige Bedrohung durch Gewalt. Zusammengenommen entsteht so eine spezifisch weibliche Schattenwirtschaft, die ich als »XX-Ökonomie« oder das »weibliche Kapital« bezeichne.
Entschiede sich die Weltgemeinschaft, die wirtschaftlichen Hindernisse für Frauen abzubauen, könnten wir in eine nie dagewesene Ära des Friedens und Wohlstands eintreten. Im vergangenen Jahrzehnt ist eine kleine Bewegung entstanden, die von dem Ziel getrieben wird, eben diese Hindernisse abzuschaffen. An dieser Bewegung zur wirtschaftlichen Stärkung und vor allem auch Selbstermächtigung von Frauen beteiligen sich zwar noch nicht viele, doch sie hat bereits eine globale Reichweite und kooperiert mit einer wachsenden Zahl der mächtigsten Institutionen der Welt: Staatsregierungen, internationalen Behörden, großen Stiftungen, weltweit tätigen Wohltätigkeitsorganisationen, religiösen Organisationen und multinationalen Konzernen.
Ich selbst war von Anfang an Teil der Bewegung. Zunächst habe ich in meiner Forschung Möglichkeiten erprobt, Frauen zu finanzieller Autonomie zu verhelfen. Anfangs war ich in ländlichen Gebieten tätig, vor allem in Afrika. Ich habe sowohl eigene Ideen als auch Vorschläge anderer getestet und in verschiedenen Ländern und unter verschiedenen Umständen direkt mit den betroffenen Frauen zusammengearbeitet. Zudem habe ich eine jährliche Konferenz von Spezialisten auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Stärkung von Frauen unter dem Titel »Power Shift Forum for Women in the World Economy« ausgerichtet, auf der Experten sich über ihre Erkenntnisse austauschen konnten. Seit 2015 konzentriere ich mich auf andere Dinge. Ich forsche zwar immer noch in entlegenen Gebieten, aber inzwischen reise ich auch in die Hauptstädte dieser Welt, um mich auch an politischen Gesprächen auf höchster Ebene zu beteiligen. Dabei geht es um die Frage, wie weltweite Reformen implementiert werden können.
Dabei mache ich oft bestürzende Beobachtungen. Die nationalen Finanzminister, die die Weltwirtschaft lenken, unterminieren die Fürsprecherinnen der Frauenrechte, indem sie sie wie einen weiblichen Hilfstrupp behandeln. Die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) und die G20 veranstalten zwar eine »Frauenwoche«, gründen eine »Arbeitsgruppe« oder bauen sogar einen Satz über Frauen in ihre Communiqués ein, aber sie weigern sich, in ihren Planungen die besonderen Bedürfnisse der Hälfte ihrer Bevölkerung zu berücksichtigen. Sie weigern sich, zu erfahren, wie die Ausgrenzung von Frauen ihrer Wirtschaft schadet oder wie die Einbeziehung von Frauen in ihre nationalen Budgets das ersehnte Wachstum bringen könnte. Aufgrund von Vorurteilen übergehen sie die XX-Ökonomie.
Deshalb brauchen wir euch. Ich hoffe, mit diesem Buch viele Unterstützer und Unterstützerinnen zu finden, die sich der wirtschaftlichen Einbeziehung der Frauen verschreiben. Ich schlage konkrete, vernünftige und wirksame Maßnahmen vor. Ich rufe euch auf, euch dieser Bewegung anzuschließen, unabhängig von sexueller Orientierung, Geschlecht, Nationalität oder Herkunft. Unabhängig davon, ob ihr in einer Fabrik, einem Büro, auf einem Bauernhof, zu Hause oder online arbeitet. Jedes Mal, wenn ich in diesem Buch schreibe, »wir sollten dieses tun« oder »wir können jenes daraus schließen«, meine ich uns alle.
Warum sehen wir diese Schattenwirtschaft erst jetzt so deutlich? Bislang gab es zwei Schwierigkeiten: fehlende Daten und eine engstirnige Vorstellung davon, wie unsere Tauschsysteme funktionieren. Wirtschaft wird hauptsächlich am Austausch von Geld bemessen, aber ein Großteil der Beiträge von Frauen zur Wirtschaft ist unbezahlt – etwa in Form von Hausarbeit oder landwirtschaftlicher Arbeit. Außerdem wird normalerweise der Haushalt als kleinste Dateneinheit benutzt, doch Einkünfte von Frauen werden typischerweise einem männlichen Haushaltsvorstand zugerechnet. Allein aus diesen beiden Gründen berücksichtigen unsere Beschreibungssysteme die wirtschaftliche Aktivität von Frauen meist nicht.
Zusätzlich verschlimmert wurde die Situation lange deshalb, weil Institutionen – von Universitäten bis hin zu Regierungen – Daten meist nicht nach Geschlecht erhoben und analysiert haben und es aus armen Ländern zudem ohnehin kaum Informationen gibt – erst recht keine nach Geschlecht differenzierten. Während der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren waren nur sehr wenige Frauen im akademischen Betrieb tätig, sodass keine wissenschaftliche Disziplin ihnen besondere Beachtung schenkte. In den letzten 50 Jahren stiegen sowohl Anzahl als auch Bekanntheitsgrad der Wissenschaftlerinnen. Eine Disziplin nach der anderen – Geschichte, Anthropologie, Psychologie, Soziobiologie, Archäologie, Medizin und Biowissenschaften, um nur einige zu nennen – veränderte sich durch eine einfache Frage: Was ist mit den Frauen? Einige Gebiete sind allerdings bis heute von diesem intellektuellen Wandel unberührt...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2020 |
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Übersetzer | Stephanie Singh |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Double X Economy |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Afrika • Arm und Reich • Armutsbekämpfung • Asien • Bangladesch • Besitz • Bezahlte Arbeit • Blinder Fleck • Care Arbeit • Care-Arbeit • Chancengleichheit • Criado Perez • Davos • Donut-Ökonomie • Double-X-Economy • Empowerment • Ende der Armut • Entwicklungsländer • Erbrecht • Europa • faire Wirtschaft • Feldstudie • Feminismus • Frauen • Frauenatlas • Frauenbewegung • Frauenrechte • Gender • genderblind • Gendermedizin • Gender Pay Gap • Ghana • Gleichberechtigung • gleiche Rechte • Gleichstellung • Gleichstellungsbeauftragte • globale Politik • Globale Wirtschaft • Hausarbeit • Industrieländer • Jeffrey Sachs • Joni Seager • Kapital • Kapital im 21. Jahrhundert • Kapitalismus • Kapital und Ideologie • Karl Marx • Kate Raworth • Mädchen • Marginalisierung • Neokapitalismus • Neoliberalismus • Netzfeminismus • neues Wirtschaftsmodell • #ohnefolie • ohnefolie • Oxford Business School • Raubtierkapitalismus • Revolution • Sexismus • Sexuelle Übergriffe • Sisterhood • Solidarität • Solidaritätswelle • Südafrika • Teilhabe • Thomas Piketty • unbezahlte Arbeit • Unsichtbare Frauen • Wertschöpfung • Wirtschaft • Wirtschaftsmodell • Wirtschaftssystem • XX-Economy • XX-Ökonomie |
ISBN-10 | 3-446-26869-3 / 3446268693 |
ISBN-13 | 978-3-446-26869-2 / 9783446268692 |
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