Zeitenwende - Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde (eBook)
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30249-3 (ISBN)
Michel Friedman, Prof. Dr. Dr., Philosoph und Jurist, ist Direktor des Center for Applied European Studies (CAES) an der Frankfurt University of Applied Sciences, Moderator verschiedener Talkshows für die Deutsche Welle, SWR und Welt. Autor der Tageszeitung Die Welt und Gastgeber einer politischer Gesprächsreihe im Berliner Ensemble.
Michel Friedman, Prof. Dr. Dr., Philosoph und Jurist, ist Direktor des Center for Applied European Studies (CAES) an der Frankfurt University of Applied Sciences, Moderator verschiedener Talkshows für die Deutsche Welle, SWR und Welt. Autor der Tageszeitung Die Welt und Gastgeber einer politischer Gesprächsreihe im Berliner Ensemble. Harald Welzer, Prof. Dr., Mitbegründer und Direktor von FUTURZWEI / Stiftung Zukunftsfähigkeit. Er lehrt an der Europa-Universität Flensburg sowie an den Universitäten Sankt Gallen so wie Zürich und ist Herausgeber von taz FUTURZWEI. Magazin für Zukunft und Politik. Seine Bücher (zuletzt »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen«) sind in 22 Sprachen übersetzt worden.
Zeitenwende. Ein Prolog
Es gibt vielleicht kein aussichtsloseres Unterfangen als den Versuch, seine eigene Gegenwart zu verstehen. Wir sind Teilnehmer eines Geschehens, und Teilnehmer sind schlechte Beobachter. Das gilt umso mehr, als ziemlich viel von dem, was im Jahr 2020 geschieht, nach Erosion aussieht – nicht nur von Erwartbarem und Gewohntem, sondern auch von politischen und sozialen Sicherheiten.
Als wir dieses Buch zu schreiben begannen, im März 2020, befanden wir uns gerade am Anfang der Corona-Krise, die uns da noch kaum einschlägig für unsere Beschreibung einer »Zeitenwende« erschien. Uns ging es um Prozesse der Entdemokratisierung, den Antisemitismus, die Umfiguration der geopolitischen Lage, die Rückkehr der scheinbar Wahnsinnigen in die Weltpolitik – und die alles überwölbende Frage, wie unsere Gesellschaft so zu stärken sei, dass sie den neuen Herausforderungen begegnen kann. Und sich als Demokratie, als Offene Gesellschaft modernisieren kann.
Fragen der Demokratie, ihrer Bewahrung und Modernisierung, der Stärkung der Menschenrechte und des Schutzes der Menschenwürde hatten uns beide auf unterschiedliche Weise und auch aus unterschiedlichen Gründen seit vielen Jahrzehnten beschäftigt. Gerade weil wir, wie wir aus unseren vorherigen Gesprächen wussten, keineswegs in jeder Hinsicht übereinstimmten, schien es uns wichtig, gemeinsam über die Gefährdungen der Demokratie nachzudenken, zu streiten und, wenn es gut liefe, zu Gedanken zu kommen, auf die man allein nicht käme. Dialog und Streit sind der Sauerstoff der Demokratie, also trafen wir uns für ein paar Tage im März, um die Grundzüge dieses Buches zu entwickeln.
Knapp zwei Monate später, als wir uns erneut zu Gesprächen trafen, war alles anders. Zu allen Erosionsfaktoren, die wir im Begriff der »Zeitenwende« zusammenzufassen versuchten, kam es mit dem Coronavirus im Frühjahr 2020 zum Ende aller Gewissheiten, die zuvor den selbstverständlichen Hintergrund unserer Existenz bildeten.
Tatsächlich war der ungewöhnlichste Erwartungsbruch für fast alle Menschen, sich plötzlich in einer Situation zu finden, in der man keine Erwartungen ausbilden konnte. Von jetzt auf gleich war komplett unabsehbar geworden, wie nachhaltig sich eine Pandemie ausbreiten würde, wie man sie eindämmen könnte, was die ökonomischen, die sozialen, die psychologischen Folgen sein würden und wie sie sich, je nach Dauer der Krise, ausprägen würden. Die Ereignisse überschlugen sich und verdichteten sich zu einem Nicht-Ereignis, genannt Lockdown. Nicht nur unserer Gesellschaft wurde radikal klar, wie schnell Pläne, die politische Statik, die ökonomische Basis, die alltäglichen Gewohnheiten blitzschnell der Vergangenheit angehören können.
Eine Vollbremsung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten – das kannte man nicht, jedenfalls wenn man das Glück hatte, irgendwann in den letzten Jahrzehnten in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein. Eine vollständige Entleerung des öffentlichen Raumes. Eine physische Kontaktsperre. Und das Ganze unter der Dominanz der Wissenschaft, die unmittelbar das politische Entscheidungshandeln zu bestimmen begann, bis hin zu der Konsequenz, Grundrechte auf eine Weise zu beschränken, wie wir das noch bei unserem ersten Treffen im März für unmöglich gehalten hätten.
Die getroffenen Maßnahmen fruchteten erstaunlich gut – ablesbar an Statistiken zu Infektions-, Genesungs- und Sterberaten. Die Bundesrepublik erwies sich einmal mehr als unglaublich gut funktionierendes Land mit einem – trotz aller Sparexzesse, die auch vor den Krankenhäusern nicht haltmachten – hervorragenden Gesundheitssystem. Allerdings zeigten sich im Verlauf der Krise eine ganze Reihe von Faktoren, die direkt auch für unser gemeinsames Buch wichtig sind:
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Wie unglaublich schnell unter Bedingungen des (durch ein eilends reformiertes Infektionsschutzgesetz begründeten) Ausnahmezustands Grundrechte widerspruchslos eingeschränkt und
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radikal veränderte Lebens-, Sozial- und Teilhabeverhältnisse etabliert werden können. Das mochte in einer stabilen liberalen Demokratie wie der deutschen noch hingehen, führte
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aber in den die demokratischen Standards abbauenden Staaten in der EU, namentlich in Ungarn und in Polen, zur sofortigen Instrumentalisierung der Krise, um autoritäre Systeme zu formen.
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Die Europäische Union zeigte sich in der Krise als unfähig zu koordiniertem Handeln – es gab weder orchestrierte Beschlusslagen zu Bewegungseinschränkungen noch zu Aufhebungen derselben. Im Abflauen der Krise gab es nicht einmal den Versuch, den Zeitpunkt der Grenzöffnungen und der Wiederaufnahme des Reiseverkehrs abzustimmen. Der Zerbröselungszustand der Europäischen Union erhielt während der Corona-Krise einen weiteren Schub. Nationale Rassismen bekamen in den Argumentationen der Politik einen deutlich größeren Raum.
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Es wurde schlagend deutlich, wie sich unter Krisenbedingungen soziale Ungleichheiten verschärften – vom sofortigen Stopp der Flüchtlingsaufnahme über die Bildungsungleichheit bis hin zur Geschlechterungleichheit inklusive Steigerung häuslicher Gewalt.
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Das Systemvertrauen hingegen nahm in ganz erstaunlichem Umfang zu, ablesbar an den Zustimmungswerten für die Maßnahmen, besonders aber auch für die Regierungspartei CDU und die Kanzlerin. Die AfD sackte auf einen einstelligen Wert. Trotz ganz erheblicher wirtschaftlicher Belastungen und Freiheitsbeschränkungen kam es zu keinerlei Aufständen oder Revolten, nicht einmal zu Protest in relevanten Größenordnungen.
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Die gesellschaftlichen Interessengruppen begannen nach kürzester Zeit, sich zu artikulieren, wobei sich die Autoindustrie und der Bundesverband der Deutschen Industrie mit Forderungen nach Kaufprämien für ihre Produkte hervortaten. Schon zuvor hatten sich viele Unternehmen als Krisenprofiteure versucht, etwa durch Stopp von Mietzahlungen, nachdem die Bundesregierung ein eigentlich für den privaten Mieterschutz gedachtes Kündigungsschutzgesetz verabschiedet hatte. Wie stark das Lobbysystem in Deutschland funktioniert, konnte man an dem eher überraschenden Beschluss erkennen, dass die Fußball-Bundesliga ihre Spiele – wenn auch ohne Zuschauer – wieder aufnehmen durfte.
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Während sich hier Akteure schnell zur Gewinnung von Vorteilen aufstellten, versuchte man aufseiten der ökologisch und klimapolitisch orientierten Interessengruppen in Richtung einer green recovery zu argumentieren, also den Post-Corona-Reset der Wirtschaft als Schub für eine postfossile Restrukturierung der Wirtschaft zu nutzen. Der Erfolg war begrenzt.
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Die Digitalisierung lässt sich als eindeutiger Gewinner der Krise identifizieren, da viele Arbeits- und Kommunikationsprozesse ohne digitale Technologien nicht aufrechtzuerhalten gewesen wären. Nichtsdestotrotz entlarvte die Corona-Krise, dass die digitale Infrastruktur in einer der mächtigsten und erfolgreichsten Volkswirtschaften der Welt um mindestens ein Jahrzehnt hinterherhinkt. Für die Unterstützung der Pandemiebekämpfung wurde mit einiger Verzögerung eine »Corona-App« entwickelt und der erstaunliche Begriff der »Datenspende« erfunden.
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Insgesamt war eine deutliche Vakuumierung des politischen Raumes zu verzeichnen. Das Monothema war über viele Wochen hinweg die Bekämpfung der Pandemie. Da diese unter virologischen und epidemiologischen Auspizien stattfand, machte das Politische buchstäblich Pause. Und mit ihm die Demokratie. Trotzdem: Sechs Wochen nach dem Beginn des Einfrierens der Normalität zeigte sich, wie unverzichtbar gerade in solchen extremen politischen Situationen ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat ist. Die ersten Gerichte korrigierten Regierungsbeschlüsse. Der Rechtsstaat funktionierte.
Insgesamt lässt sich die Krise als eine gigantische Versuchsanordnung beschreiben. In der Bundesrepublik wurde eine Demokratie im Ausnahmezustand getestet. Für unser Gespräch bedeutete das eine notwendige Erweiterung unserer Fragestellung. Hatten wir uns zunächst auf Fragen von Demokratie und Menschenrechten, von Rechtsextremismus und -terrorismus, auf die Latenz antisemitischer und rassistischer Einstellungen, die Erinnerungskultur und die politische Bildung in Deutschland konzentriert, öffnete sich uns nun ein viel breiteres Spektrum von Phänomenen, in denen sich eine Zeitenwende abspielt.
Zum Erscheinen des Buches wird längst noch nicht endgültig absehbar sein, wie nachhaltig die Krise die moderne Demokratie verändern wird – dazu ist unser Beobachtungszeitraum zu kurz. Aber immerhin wissen wir, dass Grundrechtseinschränkungen, wenn sie einleuchtend begründet werden, von großen Teilen der Bevölkerung ohne Murren akzeptiert werden. Das Prinzip, dass der Zweck die Mittel heilige, war insofern erfolgreich, als die Bekämpfung eines Virus für die Begründung des Aussetzens demokratischer Grundrechte ausreicht.
Vielleicht muss man darauf hinweisen, dass es ein Glücksfall ist, dass demokratische Parteien dieses Land regieren. Stellen wir uns die Bundesrepublik Deutschland vor, wenn Parteien wie die AfD Exekutivgewalt gehabt hätten und es sich um einen »Zweck« gehandelt hätte, der nicht objektiv die Frage des kurzfristigen Abbaus von Demokratie und...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2020 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • Antisemitismus • Autokratie • Klimawandel • Menschenrechte • Mitgestaltung • Ostdeutschland • Rassismus • Rechtsextremismus • Soziale Ungleichheit |
ISBN-10 | 3-462-30249-3 / 3462302493 |
ISBN-13 | 978-3-462-30249-3 / 9783462302493 |
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