Wir werden ewig leben (eBook)
432 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32164-7 (ISBN)
Christoph Biermann, geboren 1960 in Krefeld, lebt in Berlin und arbeitete für die taz, Stern, Die Zeit und war Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und beim SPIEGEL. Seit 2010 beim Fußballmagazin 11Freunde, inzwischen als Reporter. Biermann gehört seit Jahren zu den profiliertesten Fußballjournalisten Deutschlands und hat zahlreiche Bücher zum Thema Fußball veröffentlicht. »Die Fußball-Matrix« und »Wenn wir vom Fußball träumen« wurden jeweils zum »Fußballbuch des Jahres« gewählt. Zuletzt erschien von ihm »Wir werden ewig leben« (KiWi 1813), 2020.
Christoph Biermann, geboren 1960 in Krefeld, lebt in Berlin und arbeitete für die taz, Stern, Die Zeit und war Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und beim SPIEGEL. Seit 2010 beim Fußballmagazin 11Freunde, inzwischen als Reporter. Biermann gehört seit Jahren zu den profiliertesten Fußballjournalisten Deutschlands und hat zahlreiche Bücher zum Thema Fußball veröffentlicht. »Die Fußball-Matrix« und »Wenn wir vom Fußball träumen« wurden jeweils zum »Fußballbuch des Jahres« gewählt. Zuletzt erschien von ihm »Wir werden ewig leben« (KiWi 1813), 2020.
Hinter der Tür
Von Christian Arbeit wurde ich mit einem kleinen Plastikchip ausgestattet, den ich an meinem Schlüsselbund befestigte. Damit hatte ich Zutritt zum Stadion und zum Kabinentrakt. Ich kannte bereits die Rezeption in der Haupttribüne und den Vorraum, wo an Spieltagen die sogenannte Mixed Zone aufgebaut wurde und Journalisten die Spieler befragten. Im Presseraum, in den der Klub nach Spielen und einmal unter der Woche zu Pressekonferenzen einlud, war ich ebenfalls schon häufiger gewesen. Doch die Kabine der Profimannschaft, diesen für alle Außenstehenden mythischen Raum, hatte ich noch nie betreten. Sie war hinter einer weißen Tür, an der nichts darauf hinwies, was sich dahinter befand. Um sie zu öffnen, musste man den Plastikchip an ein weißes Plastikrechteck mit einem leuchtenden roten Punkt halten, dann leuchtete er grün, und man konnte die Tür aufziehen.
Erst einmal kümmerte sich Susi um mich. Vor ihrem Zimmer stand hochkant »Susi« an der Wand, als sei das eine Funktionsbezeichnung. Die anderen waren »Trainer«, »Scouting« oder »Waschküche«, aber Susanne Kopplin war nicht nur Zeugwartin, sondern alles Mögliche. Als Teammanagerin war sie für alle versprengten Seelen in diesen Räumen zuständig, ob sie als Neuzugänge eine Wohnung brauchten, einen Kitaplatz oder eben für einen wie mich, der plötzlich noch mit Rudelkleidung ausgestattet werden musste. Sie hatte in der DDR Elektromontiererin für Fernsehelektronik gelernt, obwohl sie eigentlich lieber Maurerin geworden wäre, schulte nach der Wende auf Tischlerin um und zog einen Sohn groß, der Fußballprofi wurde – unter anderem bei Union Berlin. Auf der weißen Tafel in ihrem fensterlosen Büro neben der Umkleidekabine hatte ein Spieler mit blauem Filzstift »Susi meine Sonne« geschrieben und eine Sonne daneben gemalt. Unter den Spielern war das die Mehrheitsmeinung, wie ich herausfinden sollte.
»Dann komm mal mit«, sagte Susi zu mir, und ich trottete hinter ihr her zum Wäschelager. Dort bekam ich ein rot-weiß-schwarzes Poloshirt, ein grau-schwarzes Trainingshemd, eine kurze Sporthose und eine lange Trainingshose (alles in Schwarz). »Was hast du für eine Schuhgröße?«, fragte sie und gab mir dann ein passendes Paar himbeerroter Joggingschuhe. Damit hatte ich die Grundausstattung an Dienstkleidung, denn in der Kabine lief niemand in Zivil herum. Es gab auch eine Art von Ordnung, wann man was zu tragen hatte. So gehörte es sich etwa nicht, auf dem Trainingsplatz die sogenannte »Ausgehhose« anzuziehen, die sich von der Trainingshose dadurch unterschied, dass sie locker, nicht wurstpellenartig am Körper saß und aus anderem Material war. Es gab für Spieler andere Shirts als fürs Trainerteam, aber eigentlich sollte ich bis zum letzten Tag nie ganz kapieren, wann eigentlich wer was anzuziehen hatte, im Zweifelsfall hatte ich das Falsche an.
Ich nahm meine neuen Sachen mit in die kleine, fensterlose Kabine der Trainer und zog mich um. Leider war kein Spind mehr frei, also legte ich meine Klamotten auf ein weißes Regal, wo die Trainingshemden, Jacken, Shorts und etliches mehr mit den jeweiligen Kürzeln der Trainer lagen. UF für Urs Fischer, MH für seinen Co-Trainer Markus Hoffmann, aber BS für den anderen Assistenten Sebastian Bönig. Vielleicht waren seine Initialen vertauscht, weil er aus Bayern stammte, der Bönig Sebastian.
Als ich das gegenüberliegende Trainerzimmer betrat, wurde ich mit demonstrativer Selbstverständlichkeit begrüßt. Urs Fischer teilte sich mit seinen beiden Co-Trainern einen Raum, nebenan saßen Athletiktrainer Martin Krüger, Spielanalytiker Adrian Wittmann und Torwarttrainer Michael Gspurning, wie Hoffmann ein Österreicher. Zur morgendlichen Besprechung um halb neun kam noch Rehatrainer Christopher Busse dazu. »Wie ihr wisst, wird Herr Biermann uns durch die Saison begleiten, um ein Buch zu schreiben. Er wird erst mal hier bei uns sitzen«, sagte Fischer, und dann ging es auch schon los. Busse hatte einen kleinen Zettel mitgebracht, auf dem die Namen der Spieler standen, die nicht würden trainieren können. »Kroos, Ryerson (Reha) und Hübner fehlen«, las er vor. »Und Schmiedebach hat immer noch leichten Husten.« Fischer saß am Schreibtisch, nickte, strich die Namen derer, die nicht mittrainieren konnten, und zählte die verbliebenen Spieler durch.
Um neun Uhr wurde ich der Mannschaft vorgestellt, und von hinten machte ich mich anschließend mit der Sitzordnung im Besprechungszimmer vertraut, die sich in den kommenden Monaten kaum verändern sollte. Mittendrin in der zweiten Reihe bildeten Subotic, Gentner und Parensen ein Kraftzentrum der Erfahrenen. Weiter außen an der Wand saß Mittelstürmer Sebastian Andersson. Neben ihm war ein Platz frei, und das sollte auch so bleiben. Torwart Rafał Gikiewicz saß ganz vorne, dem Trainer am nächsten. Mannschaftskapitän Christopher Trimmel saß in der dritten Reihe ganz rechts, weil er auf dem Tisch neben sich seinen Kaffee abstellen konnte. Robert Andrich, neu vom Zweitligisten Heidenheim gekommen, hatte einen Einzelplatz an dem in die hintere linke Ecke geschobenen Tisch. Die Neuzugänge Anthony Ujah, der Nigerianer war aus Mainz gekommen, und der Holländer Sheraldo Becker, aus Den Haag nach Berlin gewechselt, hockten vor ihm links an der Wand hintereinander, damit Ujah ihm auf Englisch zuflüstern konnte, was Fischer sagte. Mittelfeldspieler Felix Kroos und Torwart Jakob Busk saßen gesondert, direkt neben dem rollenden Pult, das Spielanalytiker Wittmann zur Besprechung in den Raum gefahren hatte. Er hatte sein Laptop mit dem Beamer verbunden, der unter der Decke hing.
Urs Fischer saß vor der Mannschaft mit einem Laserpointer in der Hand, um in den vorgeführten Spielszenen auf das deuten zu können, was ihm wichtig war. Der Rest des Trainerteams saß hinten auf den beiden braunen Ledersofas, wo ich Platz gefunden hatte. Der Raum hatte keine Fenster, an den beige gestrichenen Wänden hingen Fotos von Kaffeemaschinen, von Gewürzen und Landschaften am Meer. Sie sahen aus wie ausgedruckte Bildschirmschoner. Die Grünpflanzen auf den Tischen und neben meinem Sofa waren aus Plastik. Das Ganze wirkte wie der Frühstücksraum eines Zweisternehotels.
Nach der Besprechung stellten die Trainer die Tische und Stühle wieder so auf, dass hier mittags gegessen werden konnte, der Besprechungs- war auch der Essraum. Die Spieler machten sich inzwischen fürs Training fertig. Weil ich nicht richtig wusste, was ich nun tun sollte, schaute ich mich um, und mir fiel ein Plakat auf, das an verschiedenen Stellen im Kabinentrakt aufgehängt worden war. Darauf stand:
Unsere Saisonziele 2019/20
40+
Stimmung in der Kabine
Überzeugung zu gewinnen
Freude und Spaß
Von Spiel zu Spiel denken
Trainingsniveau hochhalten
Saisonstart
»40+« stand dafür, mehr als 40 Punkte zu holen. Mit 40 Punkten war noch nie eine Mannschaft aus der Bundesliga abgestiegen. Union war ein klarer Abstiegskandidat, in fast jedem Expertentipp und in fast jeder Vorschau auf die langsam nahende Saison landeten sie auf einem der letzten beiden Plätze. Nur Mitaufsteiger SC Paderborn konnte noch weniger Geld für seine Mannschaft ausgeben, alle anderen Bundesligisten oft ein Vielfaches. 16 der 17 Konkurrenten in der neuen Spielklasse konnten sich also besser bezahlte Spieler leisten, mehr Betreuer, bessere Trainingsbedingungen, komfortablere Reisen und was sonst noch eine Rolle spielen mochte, um sportlich erfolgreich zu sein. Um trotzdem mindestens drei Teams hinter sich zu lassen, musste in diesen Räumen etwas ganz Besonderes geschehen: ein Fußballwunder.
Inzwischen hatten sich die Spieler im hinteren Teil der Kabine in zwei Bereichen verteilt. Einer war mit grünem Kunstrasen ausgelegt, der andere war der Kraftraum, in dem neben Hanteln und diversen Kraftmaschinen in zwei Reihen Spinningräder standen. Die Spieler hatten überall Gymnastikmatten auf dem Boden verteilt und begannen die »Prevention«, eine Folge von gymnastischen Übungen, Dehnungen, Streckungen, die sie weitgehend wortlos und ohne große Begeisterung absolvierten, von Athletiktrainer Krüger mit fester Stimme angesagt. »Prevention« hieß das Programm deshalb, weil hier präventiv dafür gesorgt werden sollte, dass es möglichst wenig Muskelverletzungen gibt.
Als sie damit fertig waren und die Matten weggeräumt hatten, gingen sie zum Trainingsplatz. Ihr Weg führte hinter der Fantribüne entlang, die an einen Wald grenzte. Die Spieler machten sich warm, und ich setzte mich auf eine Bank in den Schatten. Ich schaute hinüber zum Wald und zum Stadion, wo man Handwerker arbeiten hörte. Auf den Plätzen der Jugendmannschaften, die durch einen Zaun und Sichtschutz getrennt waren, war es still. Ein wunderbarer, nicht zu heißer Sommermorgen, hier würde es mir gefallen können.
Am nächsten Tag fand im Stadion ein geheimes Testspiel gegen den spanischen Erstligisten Celta de Vigo statt. Beide Mannschaften hatten so viele Spieler, die sie alle einsetzen wollten, dass sie sich darauf geeinigt hatten, zusätzlich zum offiziellen Spiel am nächsten Tag ein weiteres anzusetzen. Nach 65 Minuten der ersten Partie setzte aber ein gewaltiger Sommerregen den Platz so unter Wasser, dass nicht weitergespielt werden konnte. Die Spieler beider Mannschaften warteten erst noch auf der Treppe, die von den Kabinen zum Platz führte, darauf, dass es weiterging, aber selbst als die Sonne wieder hervorkam, standen noch zu viele Pfützen auf dem Platz.
Anschließend fuhren alle zu einer Party für...
Erscheint lt. Verlag | 8.10.2020 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 11 Freunde • Aufstieg • Berlin Köpenick • Bundesliga • DDR Verein • Fußballbuch des Jahres • Fußball EM 2020 • Fußballmannschaft • Fußball Matrix • Insider-Informationen • Matchplan • Max Kruse • Reportage • Stadion An der Alten Försterei • Urs Fischer |
ISBN-10 | 3-462-32164-1 / 3462321641 |
ISBN-13 | 978-3-462-32164-7 / 9783462321647 |
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Größe: 2,3 MB
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