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Ein Mann seiner Klasse (eBook)

Der eindringliche Roman zum gefeierten Film
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2244-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Mann seiner Klasse -  Christian Baron
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»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.« Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden. Mit großer erzählerischer Kraft und Intensität zeigt Christian Baron Menschen in sozialer Schieflage und Perspektivlosigkeit. Ihre Lebensrealität findet in der Politik, in den Medien und in der Literatur kaum Gehör. Ein Mann seiner Klasse erklärt nichts und offenbart doch so vieles von dem, was in unserer Gesellschaft im Argen liegt. Christian Baron zu lesen ist schockierend, bereichernd und wichtig.

Christian Baron, geboren 1985 in Kaiserslautern, lebt als freier Autor in Berlin. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier arbeitete er mehrere Jahre als Zeitungsredakteur. 2020 erschien bei Claassen sein literarisches Debüt Ein Mann seiner Klasse, wofür er den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Literaturpreis »Aufstieg durch Bildung« der noon-Foundation erhielt.  Die von ihm zusammen mit Maria Barankow herausgegebene Anthologie Klasse und Kampf erschien 2021 bei Claassen.

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. Nach Stationen bei der Lokalzeitung Die Rheinpfalz und Neues Deutschland sowie Veröffentlichungen bei nachtkritik, Neue Zürcher Zeitung und Theater der Zeit arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung der Freitag.

Zorn


Am Sterbebett hielt er ihn an der Hand. Ihn, der vor lauter Schläuchen und Verbänden und Kanülen nicht mehr reden konnte. Also waren die Tränen ihre Sprache. Tränen der Trauer, Tränen der Wut, Tränen der Reue – und Tränen der Erleichterung. In diesem Moment auf der Intensivstation des Westpfalz-Klinikums in Kaiserslautern erhielt ein Vater von seinem Sohn das Wertvollste, das ein Vater von seinem Sohn erhalten kann: einen Freispruch in allen Anklagepunkten.

Er sprach den Vater frei von jeder Schuld an den Wunden, die sich in die Kinderseele eingebrannt hatten. Er sprach den Vater frei von jeder Schuld an der Armut, in der die Familie leben musste. Und er sprach den Vater frei von jeder Schuld am Krebs, an dem acht Jahre zuvor die Mutter gestorben war, im Alter von zweiunddreißig Jahren. Ohne ein einziges Wort, nur mit einem Händedruck und einem sanften Blick, sagte der Sohn dem Vater während dessen letzten Atemzügen im Oktober 2003: »Ich verstehe dich. Ich verzeihe dir. Ich hab dich lieb.«

Ich hab dich lieb. Das ist ein Satz, der dem Vater niemals über die Lippen gekommen wäre. Mir aber auch nicht. Zumindest nicht ihm gegenüber. Für meinen Vater war das ein Frauensatz. Darum war es das auch für mich. Wenn ihn ausnahmsweise die Zuneigung zu seinen Söhnen übermannte, dann nannte er mich und meinen Bruder Benny »Meine Gutsten«. Den sprachlichen Fehler und den daraus sich ergebenden Witz erkannten wir schon damals, und ohne es als Kinder wirklich begreifen zu können, fühlten wir uns mit diesem ironischen Bekenntnis des Vaters wohler, als wenn er uns »in Frauensprache« bezärtelt hätte.

An Gott hab ich nie geglaubt. Aber wen hätte das je vom Beten abgehalten? Also lag ich wispernd unter der Bettdecke: Heute Abend, nur heute Abend möge der Sturm bitte schnell vorüberziehen. Ich dachte an die Nachbarin von gegenüber, die beim Müllrausbringen immer die Dresche überhörte. Ich dachte an den Mann von oben mit dieser Elvisfrisur, der beim Treppenhinabsteigen seine Kopfhörer aufsetzte und die Technomusik aufdrehte, bis das Wummern seines Walkmans das Wimmern meiner Mutter verschlungen hatte. Und ich dachte an das Keuchen der Alten aus dem Erdgeschoss, die vor ihrer Wohnungstür spätabends den Staub von der Fußmatte klopfte, im gleichen Rhythmus, wie die Schläge und Schreie durch das Treppenhaus hallten. Sie war die selbst ernannte Hausmeisterin, die über alles Bescheid wusste, aber nichts mit dem zu tun haben wollte, was sich bei uns abspielte.

Mein Bruder Benny und ich, zwei Jungs von neun und acht Jahren, ich blond und klein, er mit dunkler Mähne und ein echter Schlaks, teilten uns im Jahr 1994 ein Etagenbett. Unsere Eltern schliefen direkt neben unserem Zimmer. Darum drang es dumpf bis zu uns, wenn Mamas Kopf gegen die Wand donnerte. Niemals verloren wir darüber ein Wort. Wir spürten den Schmerz, wir betrachteten unsere zitternden Hände, wir warfen einander Blicke zu. Das Flehen und das Flennen wurden uns mit der Zeit zur Normalität.

Heute ließ beides besonders lange auf sich warten. Ich vergrub mein Gesicht unterm Kissen und genoss die letzten Minuten der Abendstille. Wie lange wartete ich? Vielleicht fünf Minuten. Kurz zog ich das Kissen weg, um frische Luft zu schnappen. Nichts. Oder doch? Draußen schlurfte mein Vater umher. Aus den halbwegs regelmäßig vernehmbaren Schritten schloss ich, dass er diesmal unter zehn Flaschen Bier geblieben war. Das aber musste noch nichts heißen. Auf der Türschwelle blieb er stehen. Der Schatten seiner starken Arme wanderte die Tapete entlang, da versenkte ich meine Nase wieder in das mit Tränen und Schweiß getränkte Kissen.

Schon vor Monaten hatte ich daraus einen Wettbewerb gegen meine Lunge gemacht. Mit jedem Mal nahm ich mir vor, einen neuen Rekord aufzustellen. Irgendwann würde ich bei den Paralympischen Spielen antreten. Ja, ich würde dort antreten und als Asthmakranker im Luftanhalten die Goldmedaille gewinnen. Irgendwann. Jetzt war ich durchgeschwitzt und brauchte Sauerstoff. Nichts war zu hören. Warum, dachte ich, bringt er es nicht hinter sich? Wieso zögert er? Was soll das alles?

Alle paar Monate tauschten Benny und ich die Plätze im Bett. Gerade lag ich oben. Von da konnte ich durch die offene Tür direkt ins Wohnzimmer blicken. Dort fuhrwerkte mein Vater am Fernseher, er verschob das Sofa, er rülpste sein Scheißegal-Rülpsen, und dann stand er wieder auf der Schwelle zum Kinderzimmer.

Seine glasigen Augen starrten mich an. Seinen rechten Arm hob mein Vater an, als schwinge er einen Hammer. Da kam aber kein Hammer zum Vorschein, sondern nur seine Hand. Seine winkende Hand. Wollte er sein Werk also diesmal im Wohnzimmer vollbringen?

Wie zwei zum Tode verurteilte Verbrecher auf ihrem letzten Gang, verließen mein Bruder und ich gesenkten Hauptes unsere Zelle und schritten dem Henker hinterher. Im Wohnzimmer spendete nur der flimmernde Fernseher ein wenig Licht.

»Wo ist Mama?«, fragte ich.

»Weg«, sagte mein Vater.

»Weg?«

»Weg.«

Sie war noch nie »weg« gewesen. Schon gar nicht ohne Vorwarnung. Ich musste ziemlich verdutzt dreingeschaut haben, denn das folgende Lächeln und der erklärende Zusatz »Krankenhaus« sahen meinem Vater so gar nicht ähnlich. Was sollte sie im Krankenhaus schon machen? War dort irgendwer eingeliefert worden, den wir kennen? War gar Mama krank?

»Was macht sie im Krankenhaus?«, fragte Benny.

»Hinsetzen«, befahl mein Vater, während er sich wieder am Fernseher zu schaffen machte und kniend den Kabelsalat entwirrte.

Als ich mich auf das Sofa setzte, starrte Benny schon auf den Bildschirm. Ich tat es ihm nach, und mein Mund blieb offen stehen. Ich las die riesigen Buchstaben auf der Mattscheibe: Super Mario Bros. Darüber ein paar Zahlen, darunter »1 Player Game« und »2 Player Game«, und ganz unten links stand ein winziges Männlein mit roter Mütze und in roten Latzhosen mitten in der Landschaft. Die Anspannung entwich mir so heftig wie die Luft einem platzenden Ballon.

Am nächsten Tag würden wir nicht zur Schule gehen. Wir würden ausschlafen. Eine traumschöne Aussicht vor einer traumschönen Nacht. Bis zum Morgengrauen spielten wir zu dritt Super Mario Bros. auf dem Nintendo. Konsole und Spiel hatte unser Vater am selben Tag klargemacht. Als Möbelpacker schleppte er für viele rund um Kaiserslautern stationierte US-Soldaten die Umzugskisten. Nicht immer, aber immer wieder fand er darin Dinge, die wir uns in hundert Jahren nicht hätten leisten können – und ließ sie »mitgehen«, wie er es formulierte. Das sei nicht recht, sagte er, aber es sei gerecht.

Beim Ausmisten finde ich im Keller in einer beinahe vergessenen Kiste diese verloren geglaubte Konsole. Meiner Geburtsstadt Kaiserslautern hatte ich schon mit neunzehn den Rücken gekehrt. Genau neun Mal bin ich in den vergangenen sechzehn Jahren umgezogen, ich habe in fünf Städten gelebt, und unbemerkt ist dieser Nintendo-Kasten mitgereist.

Den Tod meiner Mutter hat er überstanden, meinen unwahrscheinlichen Weg zum Abitur, den Tod meines Vaters, meinen noch unwahrscheinlicheren Universitätsabschluss, meine Ausbildung zum Zeitungsredakteur, vor allem aber mein Hineinwachsen in ein akademisches Milieu, das jedem Einzelnen in meiner Familie bis heute wie eine Parallelgesellschaft erscheint.

Eine intensive Lust am Spielen und eine eigentümliche Erinnerung an eine verdrängte Kindheit packen mich. Als ich die Konsole aus der Kiste nehme, entdecke ich auf dem Boden des Kartons eine Kassette. Super Mario Bros. Mein letztes noch erhaltenes Nintendo-Spiel. Ich versuche, das Ding an mein Smart-TV anzuschließen. Stundenlang klappt es nicht. Zwar signalisiert die Konsole Einsatzbereitschaft, doch es blinkt abwechselnd schwarz und grau, ich denke nach, stecke um, schnaufe schwer, schalte um, diesmal sind da nur diese zufällig flackernden Punkte, die ich früher immer »Schnee« genannt und in diesem fünfzig Zoll großen Heimkino noch nie gesehen habe.

Wenn meine in Akademikerhäusern aufgewachsenen Freunde erstmals meine Wohnung betreten, dann fällt ihr Blick immer zuerst auf diesen riesigen Fernseher. Zwischen überfüllten Bücherregalen hängt dieser Klotz an der Wand, und wenn mich der Besuch noch nicht gut kennt, dann führt diese Entdeckung regelmäßig zu erstaunten, ja peinlich berührten Reaktionen, so als hätte die jeweilige Person gerade erkannt, dass der Papst sich jede Nacht auf Sport 1 die Sexy Sport Clips reinzieht. Ein Fernseher gilt vielen Bildungsbürgern als Statussymbol der Ungebildeten. Sie selber pfeifen aufs lineare Fernsehen, denn sie bingewatchen ihre Serien auf dem Laptop oder über einen Beamer.

Als Kind war der Fernseher für mich ein Schaufenster in die große weite Welt, die ich normalerweise niemals hätte zu Gesicht bekommen können. Seit meinem Bildungsaufstieg habe ich viele Länder gesehen, aber die Sehnsucht nach einem Fernseher werde ich nicht los. Dazugehören zu den jungen, gesunden, progressiven Großstadtakademikern will ich aber auch. Darum ist es heute bei mir so: Wenn der Flachbildschirm ausgeschaltet ist, dann verdeckt ihn ein Vorhang, so als verstecke ein Teenager seine Schmuddelhefte unter dem...

Erscheint lt. Verlag 31.1.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
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ISBN-10 3-8437-2244-7 / 3843722447
ISBN-13 978-3-8437-2244-5 / 9783843722445
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