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Die Neuerfindung der Diktatur

Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert
Buch | Softcover
336 Seiten
2020 | 3
Piper (Verlag)
978-3-492-31629-3 (ISBN)
CHF 19,55 inkl. MwSt

China ist Boomland, längst einer der Motoren der Weltwirtschaft. Innenpolitisch blieb das Land dabei immer autoritär, außenpolitisch zurückhaltend. Doch unter Xi Jinping, dem mächtigsten Staats- und Parteichef seit Mao, erfindet sich der autoritäre Staat neu, in offener Konkurrenz zum Westen. China marschiert nun selbstbewusst in die Welt, gleichzeitig gewährt sich sein System ein Update mit den Instrumenten des 21. Jahrhunderts: Peking setzt auf Big Data und künstliche Intelligenz wie keine zweite Regierung. Die Partei glaubt, den perfektesten Überwachungsstaat schaffen zu können, den die Erde je gesehen hat. Das Ziel ist die Kontrolle der KP über alle und alles. Kai Strittmatter beschreibt die Mechanismen der Diktatur, er zeigt, wie Xi Jinping China umbaut und was diese Entwicklung für uns bedeutet.

»Beeindruckend - die bislang anschaulichste und sachkundigste Darstellung von Chinas Wandel hin zum digitalen Totalitarismus.«
The Observer

Kai Strittmatter, Jahrgang 1965, studierte Sinologie in München, Xi’an (Volksrepublik China) und Taipei (Taiwan). Für die »Süddeutsche Zeitung« war er ab 1997 acht Jahre lang Korrespondent in Peking. Von 2005 bis 2012 berichtete er für die SZ von Istanbul aus über die Türkei und Griechenland, von 2012 bis 2018 war er wieder deren Korrespondent in Peking. Er gilt als einer der besten China-Kenner Deutschlands. Inzwischen ist er Skandinavien-Korrespondent für die Zeitung. Kai Strittmatter lebt mit seiner Familie in Kopenhagen, Dänemark. Bei Piper sind von ihm außerdem »Gebrauchsanweisung für Istanbul«, »Die Neuerfindung der Diktatur« und zuletzt »Chinas neue Macht« erschienen.

Neues China, neue Welt - Eine Vorrede7

Das Wort - Wie der Autokrat unsere Sprache entführt18 Das Gewehr - Wie Terror und Gesetz einander ergänzen33 Der Stift - Wie Propaganda funktioniert47 Das Netz - Wie die Partei das Internet lieben lernte59 Das Blatt Papier - Warum das Volk vergessen muss92 Das Mandat des Himmels - Wie die Partei sich einen Kaiser wählte112 Der Traum - Wie Karl Marx und Konfuzius Hand in Hand mit der großen Nation wiederauferstehen123 Das Auge - Wie die Partei ihrer Herrschaft mit künstlicher Intelligenz ein Update verpasst144 Der neue Mensch - Wie Big Data und ein soziales Bonitätssystem den braven Untertanen gebären sollen180 Der Untertan - Wie die Diktatur die Seelen verkrümmt198 Das eiserne Haus - Wie sich ein Häuflein Unbeugsamer der Lüge verweigert216 Die Wette - Wenn die Macht sich selbst im Weg steht223 Der Schein - Wie jeder sich sein eigenes China einbildet231 Die Welt - Wie China Einfluss nimmt237 Die Zukunft - Wenn alle Wege nach Peking führen265 Dank274 Anmerkungen275

»(...) (Strittmatter) bietet dem Leser tiefe Einblicke in die Geschichte der chinesischen Überwachung.« Neue Züricher Zeitung 20190228

»(…) (Strittmatter) bietet dem Leser tiefe Einblicke in die Geschichte der chinesischen Überwachung.«

»(…) fachlich exzellentes Sachbuch(…)«

»China ist potentiell überall. Künstliche Intelligenz muss nur in die Hände einer hemmungslosen natürlichen Intelligenz fallen. Das ist der dunkelste Abgrund, in den Kai Strittmatter uns blicken lässt. Deshalb sollten sich auch diejenigen für dieses Buch interessieren, denen China sonst egal ist.«

»Nicht nur für China-Interessierte absolut lesenswert.«

»Das neue Werk von Kai Strittmatter ist ein absolutes Muss für alle China-Interessierten, denn er widmet sich einem Thema, das noch viel zu wenig Beachtung findet: das Ende der Liberalisierung Chinas.«

Neues China, neue Welt Eine Vorrede Dieses Buch ist eine Botschaft aus der Zukunft. Wenn’s dumm läuft. Aus Ihrer Zukunft. Aus unserer Zukunft. Im Moment läuft es gerade ziemlich dumm. Für Sie. Für uns. Deshalb ist dieses Buch entstanden. Geboren wurde es in der Nacht, in der Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde. Beendet wurde es in den Monaten, die Xi Jinping zu einem »von der Geschichte Auserwählten« machten, wie die Wahrheitssuche schrieb, die Zeitschrift der Parteihochschule in Peking. Die Geschichte ist oft ein träger Strom, auf dem wir treiben, ohne überhaupt wahrzunehmen, dass er fließt. Im Moment ist das anders. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, Zeuge zu sein bei einem jener Momente, in denen das Schauspiel, das sich Geschichte nennt, fast physisch greifbar wird. Es geschieht etwas. Mit uns. Und mit China. Und beide Seiten sind nicht mehr voneinander zu trennen. Ein Leben nach der Abschaffung der Wahrheit, eingebettet in »Fake News«, manipuliert durch »alternative Fakten« – ich lebe das seit zwanzig Jahren. Als Korrespondent in der Türkei (von 2005 bis 2012), vor allem aber in China: In China habe ich in den Achtzigerjahren studiert, dann als Journalist gearbeitet, das erste Mal von 1997 bis 2005, später noch einmal von 2012 bis 2018. Die Herrschaft mittels der Lüge ist wahrscheinlich so alt wie die Einrichtung der Herrschaft selbst, und doch schockiert uns im Westen die Rückkehr der Autokraten und Möchtegern-Autokraten und mit ihnen die Rückkehr der schamlosen Lüge als Machtinstrument in unsere Mitte. Wir hatten uns eingerichtet in dem bequemen Glauben, diese Techniken und die damit verbundenen politischen Systeme seien Auslaufmodelle. Und dann wird Donald Trump zum mächtigsten Mann ausgerechnet jener Demokratie gewählt, die so vielen als Vorbild galt. Einer, der seinen Hass und seine Ignoranz ernst meint, der daran geht, die Grundlagen dessen zu zerstören, was unser privilegiertes Leben die letzten Jahrzehnte überhaupt erst möglich gemacht hat. Einer, der den Rivalen China zwar rüde anrempelt, der aber gleichzeitig unverhohlene Bewunderung äußert für die schrankenlose Macht seines Herrschers. Einer, der Europa in die Zange nehmen will. Noch einer. Autokraten allerorten wittern Morgenluft, reichen sich die Hand mit den Krawallpopulisten in unseren Ländern. Zeit, dass wir aufhorchen. Hinschauen. Insbesondere nach China. Dort entsteht gerade etwas, was wir so noch nicht kannten. Ein neues Land, ein neues Regime. Die Kommunistische Partei Chinas hat ihren Parteichef Xi Jinping dort hingesetzt, wo seit Mao Zedong keiner mehr war. Ganz oben. Über sich nur noch den Himmel. China hat jetzt wieder einen »Steuermann«. Xi ist der mächtigste chinesische Führer seit Jahrzehnten, und er herrscht über ein China, das so stark ist wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Eine Nation, die sich mit großem Ehrgeiz aufmacht, noch stärker zu werden – wirtschaftlich, politisch, militärisch. Eine Nation, der die Selbstdemontage des Westens wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß fiel. Ein Regime, dem mit den Informationstechnologien des 21. Jahrhunderts und ihren radikal neuen Möglichkeiten der Kontrolle und der Manipulation Machtinstrumente bereit stehen, über die noch kein Diktator verfügen konnte. Und so machen sich Xi und seine Partei an die Neuerfindung der Diktatur fürs Informationszeitalter. In bewusster Konkurrenz zu den Systemen des Westens. Und das hat gewaltige Implikationen für die Demokratien dieser Erde. Das China, das uns die letzten vier Jahrzehnte begleitete, das China Deng Xiaopings (1904 – 1997), der seinem Land nach dem Tod Mao Zedongs (1893 – 1976) ein Programm von »Reform und Öffnung« verschrieb, es ist nicht mehr. Xi Jinping hat seinem Volk und der Welt ein »neues Zeitalter« versprochen, und in der Tat baut er an einem neuen China. Beide, Volk und Welt, haben Grund, nervös zu sein. Wo Deng Xiaoping Pragmatismus verschrieb, huldigt Xi Jinping wieder der Ideologie: Er predigt Marx und praktiziert Lenin mit lange nicht gesehener Wucht und Strenge, und weil er spürt, dass Marx vielen Leuten nichts mehr sagt, schenkt er ihnen noch Konfuzius und stürmischen Nationalismus dazu. Wo Deng dem Land Öffnung und Neugier predigte, schottet Xi China wieder ab. Nicht dass Xi seiner Partei etwas Wesensfremdes aufdrücken würde, eher im Gegenteil: Er exekutiert ihre geheimsten Wünsche mit einer verblüffenden Wucht. Gerade noch stellten sich nicht wenige Parteikader selbst die heimliche Sinnfrage: Wozu eigentlich braucht es sie noch, die Partei, dieses bald einhundert Jahre alte Vehikel einer längst untergegangenen Ideologie aus einer längst untergegangenen Zeit? Wo aber die Partei nach Zerfall roch, da schenkte Xi ihr neue Stärke und Disziplin, wo sie orientierungslos vor sich hin dämmerte, da flößte er ihr wieder eine Bestimmung ein. Sie dankt es ihm, indem sie ihn schon zu Lebzeiten in den Pantheon ihrer großen Denker aufnimmt und mit fast schrankenloser Macht ausstattet. Xi erinnert wieder alle daran, dass dieses Land einst Beute der Partei war. Es fiel ihr zu als der Siegerin in einem Bürgerkrieg. In China gehört die Armee bis heute der Partei und nicht dem Staat. Der Staat selbst, auch er gehört der Partei. Und die Partei, die gehört nun wohl ihm. Sie fügt sich ihrem Sinnstifter, der aus der Einparteiendiktatur wieder eine Einmanndiktatur macht. »Retter des Sozialismus« nennt die Partei Xi. Und sie meint: »Retter unserer Macht«. Das Schicksal der Sowjetunion scheint Xi im Innersten umzutreiben. »Was fehlte, war ein richtiger Mann!«, soll er einmal gesagt haben. Nicht in China. China hat jetzt ihn, Xi Jinping. Und zwar lebenslang. Den baldigen Kollaps dieses Systems prophezeit kaum einer mehr, die Partei kann es sich leisten, wieder in großen Zeiträumen zu denken. Das Jahr 2024 wird ein epochales Jahr für die Partei. Dann hat sie die in der Sowjetunion gescheiterte Schwesterpartei KPdSU überholt, dann wird die KP Chinas die am längsten regierende kommunistische Partei der Weltgeschichte sein. Der Westen darf sich nun endgültig von jenem Wunschdenken verabschieden, das ein weiser Autor vor Jahren schon als »Chinafantasie«1 entlarvte: Die Vorstellung nämlich, dass wirtschaftliche Öffnung und wachsender Wohlstand automatisch eine politische Liberalisierung Chinas mit sich bringen würden. Wandel durch Handel: Das war vielen lange Zeit eine praktische und beruhigende Vorstellung – wider alle Evidenz. Diese KP war eben auch eine, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte: eine, die sich den Kapitalismus einfach einverleibte und als »Sozialismus chinesischer Prägung« ausgab, ein Wunderwesen von phänomenaler Anpassungskraft.2 Ihren autokratischen Kern gab sie dabei nie auf, aber in den letzten Jahrzehnten hatte es wenigstens im Unterbauch des Landes und auch der Partei stets Reformströmungen, originelle Debatten, verblüffende Experimente und mutige Tabubrecher gegeben. In Xi Jinpings China ist das nicht länger so. Er hat sie alle trockengelegt, die nicht orthodoxen Strömungen. Zuchtmeister Xi tritt an, das Gegenteil zu beweisen, nämlich dass eine strenge Autokratie viel besser geeignet ist, ein Land wie China groß und mächtig zu machen, ja, dass es zur Verwirklichung seines »chinesischen Traums« der starken Diktatur der Partei geradezu bedarf. Xi macht deshalb Schluss mit wichtigen Prämissen der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings. Sein China ist nicht länger ein Staat, der dem wirtschaftlichen Erfolg alles unterordnet – im Zentrum steht nun die politische Kontrolle. Seine Partei ist keine mehr, die Aufgaben abgibt an den Staat, an die Unternehmen, an die Zivilgesellschaft, an die Medien, die sich Freiräume erkämpft hatten. Xi hat die Freiräume wieder ausgelöscht. Er hat es geschafft, in nur einer Amtszeit eine nervöse, von Krisenstimmung gebeutelte KP in seinen eisernen Griff zu bekommen und eine vielfältige, lebendige, manchmal unbotmäßige Gesellschaft zu »harmonisieren«, wie das in China heißt, also die Stimmen der Andersdenkenden zu ersticken und jeden Winkel dem Gebot der Partei zu unterwerfen. Der sich unkorrumpierbar gebende Xi säubert das Land und die Partei, auch ideologisch. Kein Fleckchen China soll es mehr geben, über dem nicht ihr wachsamer Blick ruht. Tatsächlich macht Xi die Partei noch ein ganzes Stück gottgleicher, als sie schon immer war. Noch allwissender, noch allgegenwärtiger. Xi geht also mit einem Bein einen Riesenschritt zurück in die Vergangenheit. Ihm steckt der Leninismus in den Knochen. Und die Lust auf Macht. Manche vergleichen ihn mit Mao Zedong, aber der Vergleich hinkt stark: Mao war der ewige Rebell, der im Chaos aufblühte. Der Kontroll- und Stabilitätsfetischist Xi Jinping ist in vielem geradezu die Antithese zu Mao. Xi ist kein Revolutionär, er ist ein Technokrat, allerdings einer, der sich geschmeidig bewegt im Labyrinth des Apparats. Ein Experiment aus Maos Erbe allerdings erlebt gerade ein Comeback: Die KP übt sich erneut in lückenloser Gedankenkontrolle, sie versucht wieder einmal, den neuen Menschen zu formen. Bloß glaubt die Partei diesmal – im zweiten Anlauf –, weit bessere Chancen zu haben: Chinas Diktatur unterzieht sich gerade einem Update mit den Instrumenten des 21. Jahrhunderts. Mit dem anderen Bein nämlich geht Xi einen Riesenschritt in die Zukunft, an einen Ort, nach dem schon viele Diktatoren gesucht haben, an dem aber noch keiner war. Die Zeiten, da die Partei etwa dem Internet nervös und bang gegenüberstand, sind längst vorbei. Das Regime hat nicht nur keine Angst mehr davor, es hat die neuen Technologien geradezu lieben gelernt: China setzt auf Informationstechnologien wie kein zweites Land. Die Partei glaubt, mit Big Data und künstlicher Intelligenz (KI) Steuerungsmechanismen schaffen zu können, die ihre Wirtschaft in die Zukunft katapultieren und ihren Apparat krisenfest machen. Gleichzeitig möchte sie damit den perfektesten Überwachungsstaat schaffen, den die Welt je gesehen hat. Noch besser: einen, dem man die Überwachung oft nicht einmal ansieht, weil er sie in die Köpfe der Untertanen selbst verpflanzt. Dieses neue China soll kein riesiger, von Askese und Zucht geprägter Kasernenhof sein wie noch bei Mao, sondern eher eine von außen bunt anzusehende Mischung aus George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Schöne neue Welt, wo sich der Mensch dem Kommerz und Vergnügen verschreibt und so ganz von allein der Überwachung ergibt. Den allermeisten Untertanen ist dabei das Wissen um die Schreckensinstrumente der Macht als Möglichkeit stets präsent, es ist die Hintergrundstrahlung im Universum dieser Partei.3 Zentraler Bestandteil dieses neuen Chinas wird zum Beispiel das »Soziale Bonitätssystem«, das von 2020 an jede Handlung eines jeden Chinesen in Echtzeit aufzeichnen und die Summe seines wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Verhaltens sodann mit Belohnungen und Strafen vergelten soll. Allgegenwärtige Algorithmen schaffen in dieser Vision den ökonomisch produktiven, sozial harmonierenden und politisch gefügigen Untertanen, der sich am Ende stets vorbeugend selbst zensiert und sanktioniert. Nicht mehr wie einst den fanatischen Glauben verlangt die Partei, es genügt ihr die stille Komplizenschaft. Hätten Xi und die Partei Erfolg mit ihren Plänen, es wäre die Rückkehr des Totalitarismus im digitalen Gewande. Und für Autokraten in aller Welt wäre es ein Fluchtweg nach vorne: ein neues Betriebssystem, das sie in China ordern können, wahrscheinlich sogar mit Wartungsvertrag. Kann das funktionieren in einem Land, dessen Gesellschaft heute so vielfältig ist wie nie zuvor, in dem die Ansprüche und Konsumträume der neuen Mittelschicht sich kaum mehr unterscheiden von denen anderer Länder? Materiell zumindest hat die KP ja geliefert über Jahrzehnte: Das urbane China erlebte unter ihrer Herrschaft die vergangenen Jahrzehnte einen einzigartigen Wohlstandsschub, womit die Partei gerade diese Mittelschicht lange Zeit zu den zufriedensten Bürgern des Landes und zu ihrem größten Alliierten machte. Tief durchatmen sollen sie auch bald können, Xi Jinping hat die Säuberung des giftigen Nebels angeordnet, den Chinas Städter bislang Luft nannten. Die Herausforderungen aber sind gewaltig. Die Gesellschaft altert rapide, und an der Spaltung des Landes in Arm und Reich vermochte Xi bislang nichts zu ändern: Das sich kommunistisch nennende China ist längst eine der ungleichsten Gesellschaften der Welt, als Milliardärshauptstadt hat Peking schon vor ein paar Jahren New York überholt, und dass eine schamlose, mit der Partei verbandelte Kleptokratie4 dabei all die Jahre den größten Reibach gemacht hat, ist den Bürgern nicht verborgen geblieben. Xis Einmannherrschaft nun birgt ihre eigenen Risiken. Sie macht ein bis vor Kurzem erstaunlich wandlungsfähiges System wieder rigide und unempfänglich für Kritik und neue Ideen. Sie gebiert ihm Feinde und Rachegelüste in den eigenen Reihen. Xi weiß um die Probleme. Auch deshalb schenkt er seinem Volk die nationale Großmachtfantasie. Und wieder einen ideologischen Feind: den Westen. Von allen Wegen, die Nation zu einen, sind das die billigsten. Es sind auch die, die dem Westen am meisten zu denken geben sollten. Denn noch etwas ist nun Vergangenheit: die außenpolitische Zurückhaltung. Xi Jinping hat eine Botschaft an die Welt: China kehrt zurück an die Spitze der Nationen. Und die Parteimedien trommeln: Mach Platz, Westen! Macht Platz, Kapitalismus und Demokratie! Hier kommt zhongguo fang’an, die »chinesische Lösung«. Nach Jahren in der Defensive behauptet die KP unter Xi Jinping wieder stolz die Überlegenheit ihres Systems. Chinas Demokratie, sagt Xi, sei »die echteste Demokratie«, und die effizienteste dazu. Der liberale Westen hingegen, schreibt die Propagandapresse triumphierend, ersaufe »in Krisen und Chaos«5. »Es ist Zeit für einen Wandel!« Die Selbstdemontage der USA unter Donald Trump ist der KP in Peking ein Gottesgeschenk. Ein Gottesgeschenk ist ihr auch ein Europa, das sich seit Jahren in Nabelschau und Familientherapie verliert und darüber seine schwindende Bedeutung in der Welt nicht einmal mehr wahrnimmt. Nein, in einem neuen Kalten Krieg sind wir noch nicht, aber mit einem Mal ist er wieder da, der Wettbewerb der Systeme. Xi Jinping bietet der Welt nun die »Weisheit Chinas« an, damit meint er das wirtschaftliche und politische Modell, dem er vorsteht. Mao Zedong, sagen sie in China, habe die Feinde der Nation besiegt, Deng Xiaoping habe die Nation reich gemacht – und Xi Jinping macht sie nun stark, führt sie ins Zentrum der Welt. Mit ihrem Plan »Made in China 2025« will die KP Chinas Wirtschaft zur Weltführerin bei innovativen Technologien machen. Und ihr Projekt der »neuen Seidenstraße« – die Propagandabürokraten nennen es lieber »One Belt, One Road« (OBOR) oder »Belt and Road Initiative« (BRI) – ist nicht nur ein globales Infrastruktur- und Investitionsprojekt, es ist gleichzeitig auch Teil des Planes für eine neue internationale Ordnung nach dem Geschmack der Partei. Chinas Ziele sind atemberaubend ambitioniert, aber dieses Land hat einem schon mehrfach den Atem geraubt. Größte Handelsnation der Welt ist China längst. Größte Volkswirtschaft der Erde wird es in zehn oder fünfzehn Jahren sein. Wie wird China die Welt noch verändern? Und vor allem: Wie gehen wir damit um? Angesichts der Lemminghaftigkeit, mit der manche Bürger der westlichen Demokratien den Flötentönen der Rechtspopulisten und neuen Möchtegern-Autokraten verfallen, angesichts der Naivität und Weltblindheit vieler Europäer, die die Gemütlichkeit ihrer alten Welt für gottgegeben halten, hatte ich vor einiger Zeit schon einmal eine Idee: Man sollte die Leute hinauswerfen in die große, ungemütliche Welt, man müsste die Weltenschau zur Pflicht machen für all die arglosen Europäer, alle sollten sie einmal ein Jahr außerhalb ihrer Gemütlichkeitszone leben. Man könnte sie in die Türkei schicken, wo sich die Demokratie in rasender Geschwindigkeit zerlegt. Oder nach Russland, auch dort sind Zynismus und Lüge längst zur Staats- und Lebensräson geworden. Die Leute würden auf einmal einiges von dem wiedererkennen, was um sie herum gerade passiert. Und sie würden am Ende brutalstmöglich damit konfrontiert, wohin solches Treiben in letzter Konsequenz führt: in die Tyrannei. Am besten aber schickte man sie nach China. In China nämlich stünde den Leuten dann auch noch der Mund offen angesichts des Ehrgeizes, des Tempos und des Zukunftsglaubens, angesichts des gnadenlosen Wettstreits aller mit allen und der durch nichts gezügelten Lust auf Reichtum und Macht. Ein Treiben ist das, das den Leuten den Atem nähme, das sie aber hoffentlich auch aufschreckte aus Trägheit und Ignoranz. Es verpasste ihnen vielleicht den Schock, den sie brauchen, damit sie sich zu Hause nicht länger auseinanderdividieren lassen. In meiner Fantasie verschaffte ihnen das den Mut, die Kraft und neue Ideen für die Zukunft eines humanen, gerechten, demokratischen Europas. Als Zugabe bekämen sie in China ungleich besseres Essen als zu Hause und dürften eine ganze Reihe großartiger und herzlicher Menschen kennenlernen, deren Tatkraft, Schwung und Mut in einem System wie dem chinesischen einem gleich doppelte Bewunderung einflößen. Eines ist gewiss: Die größte Herausforderung für die Demokratien des Westens in den kommenden Jahrzehnten wird nicht Russland, es wird China sein. Ein selbstbewusstes und zunehmend autoritäres China, das nicht zögert, Tag für Tag neue Fakten schafft. Es ist nicht das China, das sich die Hoffnungsfrohen einst erträumten, also eines, das den Weg von Ländern wie Südkorea oder Taiwan geht, die einst in vergleichbaren Stadien der Wirtschaftsentwicklung den Weg der Demokratisierung einschlugen. Es ist eine leninistische Diktatur mit einer mächtigen Wirtschaft und einer Vision für die Zukunft: Dieses China möchte die Welt ein Stück weit nach seinem Bilde formen. Es schafft globale Netzwerke, treibt seinen Einfluss voran. Einem solchen China sehen sich die liberalen Demokratien zum ersten Mal gegenüber, und sie tun dies just zu einem Zeitpunkt, da der Westen schwächelt und die von ihm in den letzten Jahrzehnten aufgebaute Ordnung der Welt in die Krise schlittert. Europa muss sich dem sehenden Auges stellen. Natürlich kann und soll man mit China auch in Zukunft kooperieren und Geschäfte treiben. Aber die Europäer müssen das tun in Kenntnis um die innere Verfasstheit Chinas und seine möglichen Absichten. Das chinesische Modell, die neoautoritäre Inbesitznahme des Internets und der neuen Technologien – im Moment funktioniert das nicht nur prima, es strahlt auch aus: Länder wie Russland, Saudi-Arabien, Vietnam oder Kambodscha nehmen sich längst ein Vorbild an Peking, dem Vorreiter in Sachen raffinierter Netz- und Bürgermanipulation. Einst hieß es, der Kapitalismus werde China die Freiheit bringen. Er hat es nicht getan. Dann hieß es, das Internet werde Chinas Parteiherrschaft unterwandern. Im Moment sieht es eher so aus, als unterwandere China den Kapitalismus und das Internet gleich mit. Wir haben gute Gründe, unser System für besser und menschenwürdiger zu halten als das chinesische. Viele aber scheinen darüber etwas Wichtiges zu vergessen: Dass wir Europäer zwar wohl in der besten aller Zeiten und am besten aller Orte leben – dass ein solches Leben in Freiheit von Gewalt und Willkür und Furcht in der langen Geschichte der Menschheit aber keineswegs zwangsläufig, sondern die eher unwahrscheinliche Ausnahme war und ist. Die überwältigende Mehrheit der Menschen hat zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte in Stämmen, Clans, Königreichen und Nationen gelebt, in denen Schikane und Tyrannei, Korruption und Willkür, Verfolgung und Staatsterror zum Alltag gehörten und gehören. Ein »Wird schon« reicht heute nicht mehr. »Ist doch noch immer geworden«? Nein, ist es nicht. Ist schon verdammt oft schiefgelaufen. Läuft gerade an verdammt vielen Fronten schief. Wir in Europa sollten uns an jedem Morgen von Neuem zuflüstern: »Nein, es war nicht immer so. Und nein, es muss auch nicht immer so bleiben.« Auch deshalb: Schaut nach China! Und wer gerade unpässlich ist für sein Jahr in Peking, Shanghai, Hangzhou, Chengdu oder Shenzhen, der kann dieses Buch lesen. Es ist gedanklich in drei große Themenblöcke gegliedert, die einander im Aufbau des Buches manchmal allerdings auch gegenseitig durchdringen. Der erste Themenblock spürt den klassischen Mechanismen der Diktatur nach: Wie die Diktatur das Verhältnis der Bürger zu Wahrheit und Wirklichkeit zerstört und dabei ihre eigene Sprache erfindet. Wie sie Terror und Repression einsetzt, warum ihr aber Propaganda und Gedankenkontrolle die lieberen Mittel sind, und weshalb sie dazu die Bürger immer wieder zum kollektiven Vergessen zwingen muss. Wie sie darüber das Internet lieben lernte – ein erster Vorgeschmack auf die Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts. Der zweite Themenblock beschreibt die Neuerfindung der Diktatur in China. Wo sich die Partei einen Staat schafft, den es so noch nie gegeben hat. Mithilfe von Technologien, die der Wirtschaft einen Turboschub verpassen und gleichzeitig den Menschen bis in den letzten Winkel seines Gehirns durchleuchten sollen. Wie China bei Big Data und künstlicher Intelligenz bald die USA überholen möchte, und wo es die USA längst überholt hat. Warum die Partei glaubt, dank KI bald »im Voraus zu wissen, wer Böses im Schilde führt«, auch wenn der Betroffene selbst es vielleicht noch gar nicht weiß. Gerade dann. Wie die Partei durch das »System der sozialen Vertrauenswürdigkeit« die Menschen in Vertrauenswürdige und Vertrauensbrecher einteilt und dafür sorgen möchte, dass bald »alle Menschen sich gemäß der Norm verhalten«. Wie sie heute schon Vertrauensbrechern den Zutritt zu Flugzeugen und Schnellzügen verweigert. Wie die Diktatur aber statt ehrlicher Menschen seit jeher verkrümmte Seelen hervorbringt. Der dritte Themenblock stellt schließlich die Frage, ob das funktionieren kann, und wenn ja, was das für uns bedeutet. Er beschreibt wie Chinas KP zunehmend Einfluss nimmt auf die Welt und dabei von der Schwäche der westlichen Demokratien profitiert. Und er erklärt, warum es am Ende mehr auf unsere Stärke ankommen wird als auf die Chinas. Das Wort Wie der Autokrat unsere Sprache entführt »Chinas aufgeklärte Demokratie stellt den Westen in den Schatten.« Nachrichtenagentur Xinhua, 17. Oktober 2017 Ich lebe in einem freien, demokratischen, rechtsstaatlichen Land. Ich lebe in China. Ja, so steht das auf Bannern und Plakaten überall in den Straßen meiner Stadt: Freiheit! Demokratie! Rechtsstaatlichkeit! An jeder Ecke in Peking lese ich das, jeden Tag. Das sind nämlich die »sozialistischen Kernwerte«, die die Partei seit Jahren beschwört. »Believe me!« – »Glaubt mir!«, ruft derweil am anderen Ende der Welt der US-Präsident Tag für Tag dutzendfach der Menge zu. Das »Glaubt mir!« ist das Ausrufezeichen des Donald Trump, mit Vorliebe am Ende jener Sätze, in denen er mal wieder Schwarz zu Weiß und Weiß zu Schwarz erklärt hat. Vor allem im ersten Jahr der Präsidentschaft erschien das Bizarre noch bizarr, die Verblüffung war noch allgemein, und die Betäubung hatte noch nicht eingesetzt. Es war aber unglücklicherweise die historische Erinnerung daran längst verblasst, dass solcher Lug und Trug in der Menschheitsgeschichte nichts Besonderes ist. Schon gar nicht ist er das vermeintlich pathologische Alleinstellungsmerkmal eines Politclowns – er ist und er war vielmehr den Autokraten und Möchtegern-Autokraten überall und zu jeder Zeit gemein. Wer je unter werdenden Autokraten oder in Diktaturen gelebt hat – zum Beispiel in der Türkei, in Russland oder in China –, dem ist die bewusste, systematische und schamlose Verkehrung von Fakten à la Trump nur allzu vertraut. Sie stammt direkt aus dem Handbuch des Autokraten, dem die Lüge vor allem anderen ein Machtinstrument ist. Fake News? Alternative Fakten? Für Milliarden Menschen auf dieser Erde ist das nichts Neues, sondern Alltag, ihr Lebtag schon. Ich habe, wie erwähnt, zwei Jahrzehnte in China und in der Türkei verbracht, in Ländern also, in denen links auf einmal rechts bedeuten kann, wo oben auf einmal unten ist. Ich war dort als Außenseiter, als Beobachter nur, stets mit dem Luxus der Distanz und des Immer-wieder-neu-Staunens, einem Luxus, den sich der in diese Welt hineingeborene Untertan kaum leisten kann, wenn er ungeschoren sein Leben leben möchte. Die Umdeutung der Welt, in China haben sie damit lange Erfahrung. Vor mehr als zweitausend Jahren, im Jahr 221 v. Chr., einte Chinas erster Kaiser Qin Shi Huangdi erstmals das Reich. Sein Sohn regierte als Qin Er Shi von 209 bis 207 v. Chr. und hatte einen gefürchteten und machtgierigen Reichskanzler namens Zhao Gao. Der Kanzler ließ eines Tages in der Audienz des Kaisers vor den versammelten Ministern einen Hirsch an den Hof führen. »Eure Majestät«, sagte er und zeigte auf den Hirsch: »Ein Pferd für Euch!« Der Kaiser war ebenso verblüfft wie die Minister und wollte von seinem Reichskanzler wissen, wie denn bitteschön einem Pferd ein Geweih aus dem Schädel wachsen könne. »Wenn Eure Majestät mir nicht glauben«, sagte Zhao Gao daraufhin und deutete auf die Runde der anwesenden Würdenträger, »dann fragen Sie doch einfach Ihre Minister.« Und tatsächlich waren einige der Minister schlau oder aber verängstigt genug, dem Kanzler beizupflichten: »Eure Majestät, es ist wirklich ein Pferd.« Es gab natürlich auch diejenigen, die trotzig darauf bestanden, da stehe doch ein Hirsch, kein Pferd. Die ließ der Reichskanzler nach der Audienz in Ketten legen und hinrichten. Das aber genügte ihm nicht: Hinrichten ließ er auch jene, die erstaunt und erschrocken geschwiegen hatten. Von da an war der Hirsch ein Pferd. Und ein Volk hatte seine Lektion gelernt: Zhilu weima, »den Hirschen zum Pferd machen«, ist bis heute sprichwörtlich in China. Die westlichen Gesellschaften haben es sich in den Gewissheiten der letzten Jahrzehnte bequem eingerichtet und darüber die Erfahrungen mit den totalitären Systemen Faschismus und Sozialismus größtenteils vergessen. So ist der mit Skrupellosigkeit und unbedingtem Machtwillen ausgestattete Autokrat oder Möchtegern-Autokrat den heutigen Demokraten in ihrer Naivität und Unerfahrenheit erst einmal immer einen Schritt voraus. In den USA zeigte sich das kurz nach Trumps Amtsantritt, als sich dort eine Debatte darüber entspann, ob man eine Lüge auch dann eine Lüge nennen solle, wenn sie aus dem Mund des Präsidenten kommt. Als ob die Macht ein angeborenes Recht darauf habe, die Welt neu zu benennen. Die New York Times tat das dann schließlich als erste Zeitung, und unter Berufung auf die Wörterbücher applaudierten ihr viele: Die Zeitung habe recht, wenn sie »Lüge« ruft, sagten sie, denn wenn »die Absicht zur Täuschung« dahintersteckt, dann, ja, dann ist das eine Lüge. Bloß: Diese Deutung trifft es nicht im Falle autoritärer Persönlichkeiten und Systeme. Hier ist die erste Absicht eben nicht Täuschung, sondern Einschüchterung. Deshalb kommt die Lüge der Autokraten auch oft ganz schamlos so haarsträubend daher. Die ganze Welt hat das magere Häuflein von Zuschauern auf dem großen Platz der Hauptstadt mit eigenen Augen gesehen, die Kameras haben es aufgenommen, man kann die Bilder im Netz jederzeit mit einem Klick aufrufen – der Herrscher aber schwärmt weiter unbeeindruckt von »der größten Menge aller Zeiten«, von den Hunderttausenden, von den Millionen, die ihm gehuldigt hätten. Das ist in Washington nicht anders als in Ankara. In der vollendeten Autokratie karren sie sich die Hunderttausenden dann einfach herbei. Aber hier wie dort gilt: Dem Autokraten ist es letztlich egal, ob man ihm glaubt. Er will gar nicht einen jeden überzeugen – sehr wohl aber will er einen jeden unterwerfen. Es liegt im Wesen der Macht, dass sie, egal wie stark, ihrer selbst nie vollkommen sicher ist. Die Paranoia, die Angst vor der Schwächung und dem Verlust seiner Macht liegt in der Natur des Mächtigen. Deshalb sein Drang, die Masse immer wieder aufs Neue zu überwältigen. Dazu dient ihm die Lüge. Wenn Chinas herrschende Partei bis heute darauf besteht, ihr Land sei kommunistisch, und wenn sie heute Lehrer, Professoren, Beamte und Unternehmer wieder verstärkt zum öffentlichen Bekenntnis zum Marxismus verdonnert, dann tut sie das nicht, weil sie im Ernst davon ausginge, ihr Volk glaube noch an Marx. Der Marxismus ist ihr Gesslerhut: Ein jeder Untertan muss ihm den Gruß entbieten, so wie das die Bauern in der Wilhelm-Tell-Legende mit dem Hut des Reichsvogtes Hermann Gessler tun müssen, den dieser an einer Stange hatte anbringen lassen. Es ist die Geste der Unterwerfung, die zählt. So hält es auch der Autokrat mit seinen Lügen. Wer sie nicht schluckt, der ist als Feind und Zielscheibe ausgemacht. Aber die Einschüchterung ist nur das eine. Ebenso wichtig ist es, Verwirrung zu säen, die Bezugsrahmen von Rationalität und Realität zu zerstören, dem Volk und der Welt den Kompass zu nehmen. Wenn du ein Lügner bist und ein Schwindler, dann kannst du nicht gewinnen in einer Welt, in der das etwas ausmacht und in der Unterschiede gemacht werden. Also musst du jeden anderen auch zum Lügner und zum Schwindler machen. Dann bist du zumindest »ihr Lügner«. Hannah Arendt, Erforscherin des real existierenden Totalitarismus, beschrieb das in einem Interview 1974 so: »Wenn jeder dich immerzu anlügt, dann ist die Folge nicht, dass du die Lügen glaubst, sondern vielmehr, dass keiner mehr irgendetwas glaubt.«1 Ein Volk aber, das an nichts mehr glaubt, das ist seiner Fähigkeiten zu denken und zu urteilen beraubt, letztlich seiner Kapazität zu handeln. »Mit einem solchen Volk«, so Hannah Arendt, »kannst du dann tun, was dir gefällt.« Das ist der ideale Untertan, oder aber das ideale globale Gegenüber. Die Schamlosigkeit des Lügners hat ihre Entsprechung in der Scham des Belogenen, zumindest solange er noch um den Irrsinn weiß, den er selbst im Chor mit allen anderen jeden Tag aufs Neue bekräftigt. Er bindet sich über die Wiederholung der offensichtlichen Unwahrheiten durch ein Band der Komplizenschaft an den Lügner. Am Ende ist das Pendant zu den Lügen des Herrschers der Zynismus der Beherrschten, die sich ihr Leben in ihrer Ohnmacht einrichten und sich am Ende nur noch an eines halten: an die Macht des Führers. Der muss dann für nichts mehr Rechenschaft ablegen, da es außerhalb seines Fabulierens keine Wahrheit mehr gibt. Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge ist abgeschafft, es gibt nur noch Fakten und alternative Fakten. Und die herrschenden Werte sind nicht Moral und Verantwortungsbewusstsein, sondern Nutzen und Profit. Es bringt nichts, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn du sie erkannt hast, es ist sogar gefährlich. Das Beste ist, du erkennst die Lüge als wahr und umarmst sie leidenschaftlich. So macht es die Gruppe der Fanatiker, das aber wird immer nur die kleinste Gruppe sein. Das Zweitbeste ist, du gehst der Wahrheit aus dem Weg und lebst ein Leben in Betäubung und Ignoranz. Solltest du um die Wahrheit ahnen, dann schweigst du am besten und verstellst dich. Diese beiden Gruppen stellen die Mehrheit im Volk. Die Wahrheit aussprechen aber, das tut nur mehr der Dumme oder der Lebensmüde. Klug in einer solchen Welt nämlich ist nicht der Hellsichtige und Weise, klug ist der Listige und Gerissene. Der gesunde Menschenverstand hat hier keinen Platz, oder vielmehr: Er steht nun für etwas ganz anderes, nämlich für die Rechtfertigung des nackten Überlebens und opportunistischen Vorankommens. Natürlich ist das mit der Wahrheit, ihrer Erkenntnis und ihrer Vermittlung über die Sprache grundsätzlich eine schwierige Sache. »Der Name ist nur zu Gast in der Wirklichkeit«, wusste Zhuangzi, einer der philosophischen Urväter des Daoismus. Und mehr als 2000 Jahre später sagt die Schriftstellerin Herta Müller: »Der Wortklang weiß, dass er betrügen muss, weil die Gegenstände mit ihrem Material betrügen, die Gefühle mit ihren Gesten. An der Schnittstelle, wo der Betrug der Materialien und der Gesten zusammenkommen, nistet sich der Wortklang mit seiner erfundenen Wahrheit ein.«2 Beim Schreiben, sagt Herta Müller, könne deshalb »von Vertrauen keine Rede sein, eher von der Redlichkeit des Betrugs.« Der »Betrug« der Herta Müller aber ist einer des guten Willens, einer, der sich im Wissen um die Unschärfe seiner Behauptungen im freien Austausch mit den Erfahrungen der anderen trifft. In der Gemeinschaft ringen sie um eine Annäherung an das, was wahr ist, an ein gemeinsames Verständnis der Welt, die sich jedem ein wenig anders zeigt. Der Autokrat aber, der den Sonnenschein behauptet, wo es draußen regnet, der hebt die Welt bewusst aus den Angeln, der schafft sich eine Welt nach seinem Willen, eine Welt, in der die Dinge oft das Gegenteil bedeuten, eine Welt, die in der Balance nur zu halten ist, indem sich alle ganz dicht aneinanderdrängen und um den Führer scharen. Einen Führer, der sich zur neuen Welt auch oft genug einen neuen Menschen schaffen möchte. Es ist, von außen betrachtet, im wahrsten Sinne des Wortes eine verrückte Welt. In ihrem Inneren aber ist sie so gestaltet, dass sich am Ende derjenige, der als Einziger noch glaubt, die Erde drehe sich um die Sonne, fragen soll, ob er der Irre ist. Er soll nicht mehr seinen Augen, nicht mehr seinen Ohren und nicht mehr seiner Erinnerung trauen, sondern nur noch das wiederkäuen, was ihm eingeflößt wird. Deshalb ist die freie Presse der natürliche Feind des Autokraten. Wo alternative Fakten der Ausweis der Herrschaft sind, sind Recherche und das Überprüfen von Fakten durch die freie Presse ein Akt der »Subversion unserer Ideologie« (so steht das im erstaunlichen »Dokument Nummer neun«, einem Schlachtplan der KP Chinas aus dem Jahr 2013 gegen »westliche Werte«, auf den wir noch zurückkommen) oder aber eine Kriegserklärung (er führe einen »ständigen Krieg gegen die Medien«, erklärte Trump bei einem Besuch im CIA-Hauptquartier). Der Autokrat, der seine eigene Wahrheit schaffen möchte, muss die Sprache erobern, das Wort. In China gibt es erst seit 2013 wirklich Smog, davor gab es Jahrzehnte lang vor allem »Nebel« (wu). Es gibt auch keine Repression, es gibt vielmehr die »Sicherung der Stabilität« (weiwen) und die Vision einer »harmonischen Gesellschaft« (hexie shehui). Harmonie war im letzten Jahrzehnt eines der Lieblingswörter der Partei. Die Harmonie, die sie im Sinn hat, ist die Harmonie zwischen Befehl und Gehorsam. Harmonie ist, wenn das Volk Ruhe gibt. Zum Beispiel beim »harmonischen Abriss« von Häusern durch die Stadtregierung für Immobilienentwickler. In meiner Gasse im Stadtzentrum Pekings ließ die Stadtregierung mit nur einer Woche Vorwarnung sämtlichen Garküchen, Restaurants, Friseuren, Kiosken und Gemüsehändlern, die dort zum Teil schon seit zwanzig Jahren ihren Lebensunterhalt verdienten, die Türen und Fenster zumauern. Ziel war, die Betreiber zu vertreiben, da fast keiner von ihnen aus Peking stammte. Begleitet wurde diese Kampagne nicht nur von Dutzenden uniformierter Polizisten, die die Maurer vor dem Unmut der Gassenbewohner schützten, sondern auch von großen Bannern, die verkündeten: »Wir steigern die Lebensqualität der Bürger.« Wenn Chinas Staatspräsident 2017 beim Weltwirtschaftsforum in Davos die Globalisierung verteidigt, dann spricht er von der immer weiteren »Öffnung« Chinas, während sein Land sich zur gleichen Zeit doch zunehmend verschließt, und er beschwört die »globale Vernetzung«, während die Zensoren Chinas just in dem Moment noch die letzten Schlupflöcher in ihrer Mauer der Informationsblockade schließen. Und er bekommt Applaus dafür, denn die Verwirrung ist groß im Moment, überall auf der Welt. Manche glauben Xi. Manche wollen ihm glauben. Manche sind von Xis Macht geblendet. Manche halten es für politisch angebracht, andere sehen ihre Interessen dadurch bedient. Chinas Macht, Worte zu verdrehen, endet nicht an seinen Grenzen. Eine altbewährte Taktik ist die: Nimm die Wörter deiner Feinde und besetze sie. Freiheit ist dann Sklaverei, wie uns George Orwell lehrte, Unwissenheit ist Stärke. Und China ist ein demokratischer Rechtsstaat. Sagt die Propaganda der Partei. Es gibt in China auch eine Verfassung, deren Artikel 35 den Bürgern der Volksrepublik »die Freiheit der Rede, der Presse und der Demonstration« garantiert. Es gibt in China auch ein »Parlament«, den Nationalen Volkskongress, es gibt »Wahlen«, und die Bürger werden regelmäßig aufgefordert, von ihrem »heiligen und feierlichen Stimmrecht« Gebrauch zu machen. Lenin erfand einst den »demokratischen Zentralismus«, ein System, in dem – so die Theorie – demokratisch gewählte Funktionäre nach ihrer Wahl das Privileg haben sollten, die Politik dann ohne Widerspruch zu diktieren. Mao Zedong predigte später die »demokratische Diktatur des Volkes«. In der Praxis herrschten stets der Zentralismus und die Diktatur, die Demokratie bleibt dem Volk als tote Worthülse im Halse stecken. Der Untertan erfährt so seine »Wahlen«, sein »heiliges Stimmrecht« und seine »Freiheit« als ewige Farce, die Wörter verlieren jegliche Bedeutung, sie sind diskreditiert. Es ist die Impfung der Bürger gegen gefährliche Ideen. Beim Kontakt mit anderen Welten, wie er in Zeiten der Globalisierung auch für viele Chinesen selbstverständlich geworden ist, sollen sie sich nicht anstecken können. Die pervertierte Sprache macht das Volk immun. Und stumm. Die Falschmünzer hoffen nicht umsonst auf die Wirkung ihrer vergifteten Wörter. Das Denken lenkt die Sprache, ja, aber die Sprache lenkt, die Sprache korrumpiert auch das Denken. »Worte können sein wie winzige Arsendosen«, schrieb Victor Klemperer, der in seiner Studie LTI – Notizbuch eines Philologen der Sprache des Dritten Reichs (Lingua Tertii Imperii) nachspürte: »Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« Die Sprache der Diktatur »ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem Einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel.« Und so war es am Ende gar nicht nötig, dass die Deutschen den Nazismus durch ein bewusstes Bekenntnis aufnahmen, denn er »glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfacher Wiederholung aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden«. Dem Autokraten geht es um die Besetzung und Kontrolle des Geistes durch die Sprache. Höchstes Ziel der Propaganda der Kommunistischen Partei ist es, das »Denken zu vereinheitlichen«. Das aber ist ein Prozess, der immer wieder von Neuem geschehen muss. »Wir müssen die Gedanken und Handlungen aller Pekinger Bürger vereinheitlichen«, forderte Cai Qi, der Parteisekretär der Stadt Peking von den Propagandaorganen wenige Wochen vor dem 19. Parteitag der KP Chinas im Herbst 2017.3 Wie schon Konfuzius (551 – 479 v. Chr.) wusste auch Mao: »Eine einzige (korrekte) Formulierung, und die ganze Nation wird gedeihen. Eine einzige (falsche) Formulierung, und es kann der Niedergang der ganzen Nation sein.« Es genügt natürlich nicht, die Wörter der anderen zu besetzen. Die KP Chinas begann spätestens in den 1940er-Jahren mit der Schaffung einer neuen Sprache für den neuen Menschen: Es wurden in Ungnade gefallene Wörter aussortiert und an ihrer Stelle andere erfunden. Unmittelbar nach Gründung der Volksrepublik gingen Parteilinguisten an die Schaffung des Xinhua Zidian, des »Wörterbuchs für das Neue China«. Und immer wieder wurden neu ersonnene politisch und moralisch aufgeladene Slogans und Formulierungen in den Diskurs der Partei, aber auch in den Alltag der Menschen eingespeist. Die sich damals entwickelnde Sprachpraxis bildet bis heute die Grundlage für das, was der Sinologe Geremie Barmé den »Neusprech des Neuen China«4 nennt: Sediment für Sediment haben sich hier die Jargons verschiedener Jahrzehnte übereinandergelegt. Zunächst vermengten sich die marxistisch-leninistischen Importe mit dem oft missionarisch-militaristisch daher stolzierenden maoistischen Kanon. Später mischte sich unter die hölzerne Diktion der Parteibürokratie der pseudowissenschaftliche Jargon der Technokraten. Mit Deng Xiaopings Politik der »Reform und Öffnung« und der zunehmenden Teilhabe der chinesischen Wirtschaft am Welthandel schlich sich dann, mal bewusst, mal unbewusst, auch so einiges linguistisches Strandgut aus den Welten des Kommerzes, der Werbung und der Globalisierung in den Parteidiskurs. Und in den letzten Jahren stößt man auch in Leitartikeln der Volkszeitung vermehrt auf Findlinge aus den Sphären des Internets und der neuen Technologien. Nun haben es die Absonderungen der Propagandaapparate in weiten Teilen so an sich, dass sie in ihrer hermetischen Undurchdringlichkeit dem Volke schnell unverdaulich sind. Xi Jinping ist nicht der erste Parteiführer, der gegen den »Formalismus« und das »leere Gerede« in den eigenen Reihen wettert. In einer berühmten Rede im Februar 1942 kanzelte schon Mao seine Genossen für ihr »stereotypes Parteigeschreibe« ab, sie füllten »endlose Seiten« mit »hohlem Geschwätz«. Solche Artikel, so Mao, glichen den »Fußbandagen«, mit denen alte Weiber die gebrochenen Knochen ihrer gebundenen Lotusfüßlein umwickelten, genauso »lang und stinkend« seien sie. Perioden, in denen große Teile des Volkes den Neusprech in aller Konsequenz, bewusst und mit Enthusiasmus als Muttersprache auch für ihr Privatleben adoptieren, gibt es deshalb nur selten. Die Kulturrevolution von 1966 bis 1976 war so eine. Ein zynisches und brutales Theater der Macht war das, losgetreten von Mao, der sich von seinen Rivalen innerhalb der Partei an den Rand gedrängt fühlte. Er rief die Jugend des Landes zum »Sturm auf die Hauptquartiere« auf, zur Rebellion gegen ihre Lehrer und Professoren, gegen ihre Eltern und gegen alle Parteifunktionäre, denen eine ordentliche Verwaltung und eine funktionierende Wirtschaft mehr am Herz lagen als die permanente Revolution. Und die Mädchen und Jungen Chinas, sie brannten für ihren Messias Mao, waren bereit, für ihn und seine Revolution, alles Erbe der bisher bekannten Zivilisation abzulegen: die Liebe zu Vater und Mutter ebenso wie die letzten Reste Mitmenschlichkeit. Am Ende lag China in Ruinen. Das Erste, was sie verrieten, war die Sprache des Alltags und des gesunden Menschenverstandes. »Wir waren keine Menschen mehr«, sagte mir einmal ein ehemaliger Rotgardist und heutiger Rechtsanwalt bei einem Gespräch. »Wir waren Wolfskinder. Ein ganzes Land, eine ganze Generation, mit Wolfsmilch gesäugt.« Sein Vorname, Hongbing, bedeutet »Roter Soldat«. Die berühmteste aller Rotgardistinnen war die Schülerin Song Binbin, Tochter eines Generals, die im August 1966 vor den Augen einer Million Altersgenossen das Tor zum Himmlischen Frieden erklomm, um von Mao selbst empfangen zu werden. Song Binbin, dicke Brille, Zopf, durfte ihm, Mao, ihr rotes Armband anlegen mit den drei Schriftzeichen hong wei bing, Rotgardistin. Wie sie heiße, fragte Mao das Mädchen, Binbin wie in gelehrt und ausgeglichen? Ja, sagte sie. »Das ist nicht gut«, sagte Mao. »Besser wäre: Yaowu, die Kriegslüsterne.« Fortan war das der Name der Siebzehnjährigen. Vergiftete Milch, mit vergifteten Worten eingesogen. Einige erwachten früher aus dem blinden Wüten und dem Irrsinn als andere. Junge Leute wie Gu Cheng, Mang Ke, Bei Dao oder Yang Lian. Von Mao aufs Land geschickte Städter waren das, die nichts voneinander wussten und die doch ein Verlangen einte: die von der Propaganda geschundene und entkernte Sprache zu reinigen, sie mit neuem Leben zu füllen. Sie schrieben Gedichte und taten dabei Unerhörtes: Sie benutzten Wörter wie »Sonne«, »Erde«, »Wasser« oder »Tod«. Das ein Jahrzehnt lang nur mit Parolen gefütterte Publikum war irritiert: Sonne? Erde? Wasser? Die jungen Dichter wurden berühmt, und man nannte sie tatsächlich die »Obskuren« (menglongpai). In ihrer Poesie wurde zumindest in der Volksrepublik die chinesische Sprache wiedergeboren. Die Kluft zwischen amtlicher und nicht amtlicher Sprache ist in autoritären Gesellschaften größer als in anderen. Weil es aber gleichzeitig in totalitären Systemen so etwas wie eine Privatsphäre eigentlich nicht geben darf, drängt sich die amtliche Sprache hier den Einzelnen immer wieder auf. In der Folge leben die Untertanen hier als gespaltene Persönlichkeiten, umso mehr als die Sprache der Propaganda auch die Sprache der Lüge ist. Und so leben sie das, was George Orwell in 1984 hellsichtig als Doppeldenk und Doppelsprech beschrieben hat: »Zu wissen und nicht zu wissen, sich des vollständigen Vertrauens seiner Hörer bewusst zu sein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählte, gleichzeitig zwei einander ausschließende Meinungen aufrechtzuerhalten, zu wissen, dass sie einander widersprachen, und an beide zu glauben; die Logik gegen die Logik ins Feld zu führen; die Moral zu verwerfen, während man sie für sich in Anspruch nahm. So behauptete man, Demokratie sei unmöglich, wobei die Partei jedoch zugleich die Hüterin der Demokratie war.« Ein jeder Untertan spielt Theater, dem Nachbarn, dem Kollegen, dem Apparat gegenüber, und solange er sich dessen bewusst ist, mag er insgeheim noch darüber lachen oder seufzen, den meisten geht es schnell in Fleisch und Blut über, und weil es unmöglich ist, die beiden Sphären sauber getrennt zu halten, korrumpiert die Sprache des Apparats immer auch die Sprache der Bürger. Schriftsteller haben die bis heute nachwirkende Brutalisierung der chinesischen Sprache durch das militaristisch-revolutionäre Kampfgebrüll vor allem der maoistischen Zeiten beklagt. Essays des amerikanischen Literaturwissenschaftlers und Chinaexperten Perry Link und der Soziologin Anna Sun etwa spürten in den Büchern von Chinas erstem Literaturnobelpreisträger Mo Yan (2012) dem Erbe des maoistischen Jargon nach. Anna Sun spricht von einer »kranken Sprache«5, der Mo Yan, wie die meisten seiner Zeitgenossen, nie entwachsen sei. Die Aneignung der Propagandavokabeln durch das Volk hat dabei durchaus verschiedene Effekte. So wurde der von Mao wütend bekämpfte xiaozi, der petit bourgeois, im China der späten Neunziger mit einem Mal zum begehrtesten Lebensstil der neuen Mittelschicht: Jeder wollte ein xiaozi sein, ein »Kleinbürger«, das war im neuen China plötzlich einer, der in den neu eröffneten Starbucks-Cafés einen Cappuccino bestellen kann, einer, der weiß, dass man Rotwein trinkt, ohne ihn mit Sprite zu mischen (wie das die meisten Parteifunktionäre und Neureichen auf ihren Gelagen taten), und einer, der zum Urlaub auch mal nach Paris und Neuschwanstein fährt. Sie wehren sich bisweilen, die Wörter und die Bürger. Viele Kampfwörter der Partei fallen im Alltagsgebrauch der Ironie anheim. Zum Beispiel der tongzhi, der Genosse. Plötzlich sprachen einander so nicht mehr nur Chinas Kommunisten an, es war mit einem Mal auch die gängige Selbstbezeichnung unter Chinas Homosexuellen. Oder: »Ich bin harmonisiert worden«, seit vielen Jahren schon heißt das: Die Zensur hat mich erwischt, hat meinen Kommentar im Netz oder gar mein Konto gelöscht. Wenn die Polizei einen »zum Tee trinken« lädt, dann wartet ein Verhör, und wenn sie einen bekannten Intellektuellen, Autor, Rechtsanwalt oder anderen Unruhestifter »verreisen« lässt, dann wird derjenige gegen seinen Willen aus der Stadt geschafft, solange die Partei tagt, oder solange das ausländische Staatsoberhaupt in der Stadt ist. Chinas Propaganda spuckt ununterbrochen neue Wörter und Begriffe aus. Das heutige China ist ein fantastisches Reich der Widersprüche, eine Gesellschaft, die sich zunehmend auffächert und die einen Pluralismus lebt, der der von der Partei so vehement betriebenen Vereinheitlichung aller Dinge und allen Wirkens widerstrebt. Für so ein Land schafft die Partei im Idealfall Begriffe, die allen Widerspruch in sich selbst vereinen und dadurch aufheben. Der »Sozialismus chinesischer Prägung« ist so ein Begriff. Oder die »sozialistische Marktwirtschaft«. Darin stecken zugleich links und rechts, oben und unten, Maoistisches und Neoliberales. Solche Sprache hat die Logik außer Kraft gesetzt und glaubt sich daher unangreifbar. Gleichzeitig wird sie so noch inhaltsleerer und absurder. Aber in einem Land, in dem die Macht zählt und nicht der Buchstabe, macht das erst einmal keinen Unterschied, denn mehr als eine Bedeutung tragen die Worte hier oft einen Befehl in sich: Nicke! Schlucke! Vergiss! Knie! Und so kann diese Propaganda den Dalai Lama mit Adolf Hitler vergleichen, und sie kann Anweisungen an die Redaktionen des Landes versenden, in denen diese ermahnt werden, auf keinen Fall »Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, Schönheit und Hässlichkeit« miteinander zu verwechseln. Das Wahre, das Gute und das Schöne sind immer die Partei und ihr Wort. Und natürlich versucht sich die Partei nicht nur an einer Deutung der Wirklichkeit, sie versucht sich auch an ihrer Beschwörung. »Es gibt keine Andersdenkenden in China.« Man muss das nur oft genug sagen. Ma Zhaoxu, Sprecher des Außenministeriums, hat mit diesem Satz 2010 die elf Jahre Haft für Liu Xiaobo kommentiert. Liu Xiaobo war Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger – der erste Friedensnobelpreisträger, der schließlich in staatlichem Gewahrsam sterben sollte, seit Carl von Ossietzky in den Händen der Nazis 1938. Liu Xiaobo starb 2017, mehr als ein Jahrzehnt lang war er der bekannteste Andersdenkende in China. In den offiziellen Erklärungen Chinas aber war er stets ein »verurteilter Verbrecher«. Wie bitte, ein Dissident? »Urteilen Sie doch selbst, ob eine solche Gruppe in China existiert«, sagte Ministeriumssprecher Ma also am 11. Februar 2010 ausländischen Journalisten. »Ich halte den Begriff für fragwürdig in China.«

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Piper Taschenbuch
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 120 x 187 mm
Gewicht 310 g
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte alleinherrschaft • Autokratie • China • Diktatur • Großmacht • Hongkong • Internationale Politik • Kommunismus • Künstliche Intelligenz • Mao Zedong • Proteste • Punktesystem • Social Credit • Social Media • Sozialkredit • Sozialkreditpunktesystem • Überwachung • Wirtschaftsmacht • Xi Jinping
ISBN-10 3-492-31629-8 / 3492316298
ISBN-13 978-3-492-31629-3 / 9783492316293
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