Seelenprügel (eBook)
Viel zu viele Kinder sind in ihrem Betreuungsalltag psychischer Gewalt durch Erwachsene ausgesetzt, weiß die Pädagogin und Psychologin Dr. Anke Elisabeth Ballmann. Kinder erleben aggressives und respektloses Verhalten von Personen, denen sie vertrauen können sollten, wie schmerzhafte, unsichtbare Schläge. Die Autorin weist anhand zahlreicher Beispiele aus ihrer langjährigen beruflichen Praxis auf Missstände in Kitas hin. Sie erläutert die späteren Konsequenzen und fordert zum Umdenken auf. Ohne anzuklagen möchte sie aufklären und bricht deshalb das Schweigen rund um den Alltag in Erziehungseinrichtungen. Dabei setzt sie Impulse für neue Wege in Bildungspolitik und Erziehungswesen.
Dr. Anke Elisabeth Ballmann ist Pädagogin, Psychologin und Autorin. Sie setzt sich seit über 25 Jahren für kindgerechtes Lernen und gewaltfreie Pädagogik ein. 2007 gründete sie das Institut »Lernmeer« für die Beratung, Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte, 2020 die Stiftung Gewaltfreie Kindheit. Aufrüttelnde Vorträge zu ihren Kernthemen brachten der langjährigen Bildungsreferentin den Ruf einer innovativen Bildungsexpertin ein.
1. Alles ist gut? –
Weil nicht sein kann,
was nicht sein darf
Gewalt an Kindern kann nur bestehen, wenn auch Ignoranz,
Gutgläubigkeit und Feigheit Bestand haben.
Bei viel zu vielen Eltern und in viel zu vielen pädagogischen Einrichtungen ist der aktuelle Erziehungsstil darauf angelegt, Kinder einem künstlich erschaffenen, oft willkürlichen Regelsystem auszusetzen und sie dafür zu bestrafen, wenn sie die Regeln der Erwachsenen brechen. Heute heißt es natürlich nicht mehr »Strafe«, sondern »Konsequenz«, doch das Ergebnis ist identisch. Kinder werden viel zu oft bestraft. In manchen Kindergärten müssen Kinder bei Vergehen alleine in dunklen Räumen sitzen, und in der Schule hat Nachsitzen noch immer Konjunktur. Gesellschaftlich sind Demütigungen und emotionale Erpressungen weitgehend akzeptiert. Es ist zwar nicht legal, aber normal, dass die Urängste von Kindern ausgenutzt werden, um artige und angepasste Menschen aus ihnen zu machen. Und das als alltäglich gelebte Realität.
»Sonst fahre ich dich um«
Magdalena stapft – auf leicht wackeligen Beinchen – vor einem Krippenkinderwagen umher und lächelt selig vor sich hin. Sie ist ganz auf sich selbst konzentriert und vollkommen im gegenwärtigen Moment, wie Kinder das so wunderbar können. »Wenn du nicht zur Seite gehst, fahre ich dich um!«, zischt plötzlich eine ungeduldige Stimme. Magdalena schaut auf, versteht nicht, was das soll, lächelt aber trotzdem freundlich in die Richtung der Stimme. Im nächsten Moment liegt die Eineinhalbjährige auf dem Boden. Ihre Erzieherin ist tatsächlich frontal mit einem Kinderwagen in sie hineingefahren. Einfach deswegen, weil das kleine Mädchen sich nicht rasch genug wegbewegt hat. »Siehst du, das hast du nun davon«, zetert die Erzieherin, packt Magdalena und setzt sie voller Wucht in den Kinderwagen zu den anderen fünf Kindern, die das Spektakel mit großen Augen beobachtet haben. Auch die übrigen Kita-Fachkräfte stehen stumm um den Kinderwagen rum. Es ist ein wahres Struwwelpeter-Beispiel an schwarzer Pädagogik, das hier an diesem Vormittag in dieser Kita abläuft – einer Pädagogik, die mit Einschüchterungen und Demütigungen arbeitet. Und leider nicht nur an diesem Vormittag. Jeden Tag. Dort ist das normal und gehört quasi zum Alltag. Genauso, wie es normal ist, dass keine der anderen Erzieherinnen eingreift. Sie sind zwar nicht alle aktive »Täterinnen«, aber zumindest schweigende Mitwisserinnen dieser und ähnlicher Ereignisse, die sich innerhalb der Mauern dieses Orts der Erziehung abspielen.
Und nicht nur in dieser Kita. Die Tragik daran: Viele vertrauensvolle und besorgte Eltern geben ihre Kinder tagein, tagaus in Organisationen ab, die sie als Orte des Vertrauens ansehen. Sie begeben sich in ihren beruflichen Alltag und fühlen sich beruhigt. Sind überzeugt, dass das Liebste, was sie haben, sich in bester Obhut befindet. Und manches Mal ist das ja auch so. Aber eben nicht immer. Das weiß ich aus der Erfahrung meiner letzten zehn Berufsjahre sehr genau. Ich war in diesen Jahren in mehreren hundert Kitas, habe beobachtet, beraten und praktische Prüfungen im Rahmen von Weiterbildungen abgenommen. Dabei saß ich mehrere Stunden still in einer Ecke und habe übelste Beschimpfungen durch das angestammte Personal an den Kindern mit angehört. Oft habe ich fragend eingegriffen, aber nicht immer – das war ein Fehler, den ich mir nur schwer verzeihen kann.
Der in viel zu vielen Institutionen übliche Kommunikationsstil klingt in Varianten so:
»Wie kann man nur so dumm sein?«, »Aus dir wird nie etwas!«, »Du lernst das nie!«, »So geht das mit dir nicht weiter!«, »Wenn du nicht sofort …, dann …!«, »Ich zähle jetzt bis drei …!«. Was sich schon beim bloßen Lesen anfühlt wie ein schmerzvoll prasselndes Stakkato an Vorwürfen und Befehlen, wirkt in der Realität ausgesprochen oder sogar geschrien noch viel peitschender und treffender. Für viel zu viele Kinder gehören rhetorische Attacken dieser Art zu ihrem Alltag in Kita oder Schule und setzen sich eventuell sogar im Elternhaus fort. Verbale und nonverbale Kränkungen, Drohungen, Vorwürfe, Beleidigungen, permanente Kritik, Beschämung und Isolation ist für diese Kinder ein Teil ihrer Welt. Sie haben sich an diese Art von Umgangston gewöhnt, empfinden ihn als normal. Sie haben innerlich die Überzeugung aufgebaut, dass dies der einzige Ton ist, der ihnen zusteht. Sie denken, dass sie keinen anderen, wertschätzenderen Ton verdienen. Und es kommt noch schlimmer. Dann nämlich, wenn diese Kinder – was Wunder – auf diese Verletzungen ihrer Seele mit Aggression oder Rückzug reagieren oder durch weinen offen zeigen, wie verstört sie sind. Die Menschen, die es eigentlich von Berufs wegen besser wissen müssten, zeigen auch dann oft keine Spur von Mitleid. Im Gegenteil, nun gehen ihre Verbaltiraden gnadenlos und im selben Tenor weiter: »Jetzt stell dich nicht so an!«, »Mach nicht immer so ein Theater!«, »Jetzt brauchst du gar nicht zu weinen, was soll das?«.
Aber nach außen ist alles gut. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
»Du bist nicht gut genug« – wirklich?
Es ist mir sehr wichtig, dass mehr und mehr Menschen klar wird: Durch solche Aussagen erfahren Kinder Ablehnung auf allen Ebenen. Sie fühlen sich allein gelassen und beginnen, sich selbst und ihren Gefühlen nicht mehr zu vertrauen. Wie denn auch? Sie werden ja mit der permanenten Botschaft beschallt, dass sie so, wie sie sind, nicht gut genug sind. Den Ansprüchen ihres Umfeldes nicht genügen. Wenn sie weinen, wird ihnen vermittelt, dass diese Emotionen so gar nicht positiv sind.
Untersuchungen verschiedener Fachrichtungen, wie die der Psychologin Naomi Eisenberger oder des Soziologen Ronald C. Kessler, stimmen in einem Ergebnis überein: Durch diese kontinuierlich respektlose Ansprache etabliert sich in den kindlichen Köpfen eine Tatsache, die ihr gesamtes weiteres Leben beeinflussen wird: Du machst alles falsch. Du bist nichts wert. Ergo wirst du nicht geliebt und schlimmer noch – du gehörst nicht dazu. Zu uns gehörst du nur dann, wenn du so bist, wie wir dich haben wollen. Dieses »uns« können Erzieherinnen sein, genauso aber auch Eltern oder andere Familienmitglieder. Hier kann ein fataler Kreislauf der Nicht-Zugehörigkeit, der Einsamkeit und Ausgrenzung beginnen, der auch in erwachsenen Jahren nur schwer zu stoppen sein wird.
So erfahren Kinder von ihren sehr jungen Jahren an Ablehnung und Einsamkeit innerhalb einer Gemeinschaft. Sie müssen von den Menschen, die ihnen am nächsten sind, sehr oft nicht nur verbale Attacken, sondern auch nonverbale Stiche ertragen. Abschätzende, kalte Peitschenblicke verletzen ebenso sehr wie paradoxe Botschaften, die den kindlichen Geist überfordern. Wenn Erzieherinnen oder auch Eltern gemischte Signale aussenden, indem sie z. B. in höchst ironischem Ton, gespickt mit zynischen Untertönen zu Kindern sagen: »Na, das hast du ja wunderbar gemacht!«, dann löst dieses »Double-bind« genannte Verhalten bei Kindern tiefe Verwirrung und Verunsicherung aus. Das beschreibt die Historikerin Miriam Gebhardt in ihrem Buch über die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Kinder können bei diesem Kommunikationsverhalten nicht nachvollziehen, welche Botschaft an sie denn nun stimmt. Ist es die verbale Aussage oder doch der Tonfall und die Mimik? Kinder sind diesbezüglich äußerst sensibel, sehr viel mehr, als sich Erwachsene das vorstellen.
Dadurch lernen Kinder, dass irgendetwas mit ihrer Wahrnehmung nicht in Ordnung zu sein scheint. Da sagt jemand etwas an sich Freundliches, schaut aber so böse dazu? Was gilt jetzt? Sie verlieren dadurch mit der Zeit auch das Vertrauen in ihre Wahrnehmung und in ihre eigenen Kommunikationsfähigkeiten. Dadurch entsteht unwiederbringlicher Verlust von Vertrauen in sich selbst und in die Welt. Ein generelles Miss-
trauen gegenüber dem Leben macht sich so in vielen Kindern breit, ohne dass sie selbst oder ihre Familien das auch nur bemerken. Es ist ein schleichender Prozess an unangenehmen Gefühlen. Dadurch können Selbstwert, Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Selbstwirksamkeit nicht im richtigen Ausmaß wachsen oder werden in so jungen Jahren gänzlich zerstört. Das hat katastrophale Folgen für die einzelnen Kinder und insgesamt auch für unsere Gesellschaft.
Wir begegnen jeden Tag Menschen, die völlig in Ordnung zu sein scheinen, die perfekt funktionieren, ihr Leben gut im Griff haben und sehr erfolgreich sind. Innerlich und auf der emotionalen Ebene, einige würden sagen, der Seelenebene, tragen viel zu viele dieser Menschen ein dickes Narbengeflecht vergangener Seelenprügel mit sich herum. Tiefe Narben. Man sieht sie nicht. Aber sie sind da. Und werden sie im Erwachsenenleben durch eine Aussage erinnert und abermals ins Bewusstsein geholt, schmerzen sie wie am Tag der ursprünglichen Verletzung.
Aber nach außen ist alles gut. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Warum, und was wäre wenn ...
Ich beschäftige mich mit diesem Thema aus beruflichen und auch aus persönlichen Gründen schon sehr lange. Ich frage mich so oft, wie Menschen wohl geworden wären, wenn sie als Kinder mehr Liebe erfahren hätten, wenn man ihnen mehr zugetraut hätte, wenn man sie nicht kleingehalten hätte. Ich habe mich auch bei mir oft gefragt, welche Probleme ich nie gehabt hätte, wenn ich schon viel früher mehr an mich und meine Fähigkeiten geglaubt hätte. Mir wurde z. B. von Großeltern, Eltern und Lehrern immer eingeredet, dass ich zwar ein Talent für Sprachen hätte, aber vollkommen talentfrei in Mathe sei. Ich wurde in...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bedürfnisorientierte Erziehung • Bildungspolitik • Darf Erzieherin Kind festhalten • eBooks • Eltern • Erzieher übergriffig • Erziehung • Erziehungsratgeber • Fehlverhalten Erzieherin • Gesundheit • gewaltfreier Umgang • Gewalt in der Kita • Gewalt Kita • Kindererziehung • Kindergarten • Kindeswohlgefährdung • Kindgerecht • Kita • Kita-Pädagogen • Mama nicht schreien • Nicola Schmidt • nora imlau • Pädagogik • Psychische Gewalt • Schwarze Pädagogik • Seelische Gewalt • Vorschule • Vorschulkinder |
ISBN-10 | 3-641-24912-0 / 3641249120 |
ISBN-13 | 978-3-641-24912-0 / 9783641249120 |
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