Ostrava (eBook)
148 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7481-0511-4 (ISBN)
Studium der Sozial- und Literaturwissenschaften an den Universitäten München, Bamberg und Erlangen-Nürnberg, Staatsexamen, M.A., Dr. phil., arbeitet als Sozialwissenschaftler und Dozent, seit 2010 mehrere Studienaufenthalte in Tschechien.
Abbildung 1: Ansicht Ostrava von oben (Postkarte aus den 1930er Jahren)
Annäherungen
Eine Stadt besuchen ist heute einfach. Man tippt auf Google-Maps den Namen der gewünschten Stadt ein und schon ist man da. Man kann die Stadt wie im Helikopter überfliegen, an bestimmten Orten verweilen und sie aus geringerer Höhe betrachten. Oder man wählt eine Schrägansicht. Anschließend kann man durch die Straßen fahren und Gebäude aus der Nähe ansehen. Doch ist das noch nicht alles. Will man Genaueres über ein Museum wissen, so klickt man direkt auf das Symbol der Sehenswürdigkeit und gelangt zu der Homepage mit weiteren Informationen über Öffnungszeiten usw. Oft wird auch ein virtueller Rundgang angeboten. Ein Schloss etwa kann man auf diese Weise viel umfassender betrachten, als wenn man selbst vor Ort wäre – und vor allem mit mehr Ruhe. Entschließt man sich dann zur Reise, so kennt man die Stadt schon, ihre Topographie, ihre Denkmäler, ja man weiß sogar, welche Farbe die Straßenbahnen haben. Man ist vertraut mit der Stadt, weiß, wie es dort aussieht, die Stadt ist nicht mehr fremd. Hat man genug Zeit, so kann man am Schreibtisch sogar eine komplette Reise virtuell durchführen. Das geht so weit, dass man auch zu der Erkenntnis gelangen kann, dass die Stadt eigentlich nichts Besonderes ist und man die reale Reise dorthin sein lassen kann.
Als ich Ostrava zum ersten Mal virtuell besucht habe, kreiste ich lange über weite Flächen in verschiedenen Brauntönen. Waren das Häuser? Ackerflächen konnten es nicht sein. Bei näherer Betrachtung sah ich, dass das offensichtlich Werksanlagen waren. Unendlich aneinander gereihte, immer gleiche Bauten, dazwischen Lagerplätze und Stapelflächen, Wege und Gleise, die der Betrieb über die Jahre hinweg rostig gefärbt hatte. Fuhr ich dann in meiner Ansicht durch die Straßen, sah ich die eintönigen Industriebetriebe. Teils aus Ziegelsteinen gemauert, teils aus Fertigteilen errichtet zogen sie sich scheinbar endlos entlang der kurvenlosen Straßenfluchten. Anzeichen eines Fabrikbetriebs fehlten allerdings, alles wirkte schon seit längerem verwaist und leer. Anderswo fand ich Reihen planmäßig angeordneter Bauwerke entlang eines meist rechtwinkligen Wegerasters. Hier war mehr Grün zu sehen. Einen Mittelpunkt der Stadt konnte ich nicht ausmachen. Ich sah keinen zentralen Bahnhof, keine Residenz, keinen Dom, keinen Marktplatz.
Ein Flug über die Stadt, so wie er sich heute mühelos am Computer realisieren lässt, war in früheren Zeiten tatsächlich nur mit einem Helikopter möglich. Der Schriftsteller Jan Balabán (1961-2010) beschreibt, wie er sich Ostrava Anfang der 1990er Jahre näherte: „Zum ersten Mal sah ich Ostrau aus der Luft und ich traute meinen Augen nicht. [...] Der Hubschrauber glitt langsam über riesige Halden von Taubgut und Schlacke. Aus manchen stieg gelber Rauch auf, manche wuchsen allmählich mit Vegetation zu. Plötzlich erschien eine Siedlung unter uns – Plattenbauten, Straßen, Geschäfte, Schulen und Spielplätze, und schon flogen wir über halb zerfallene, leer stehende Fabrikhallen weiter, hinter einem Erlenwald tauchten die Häuser einer Arbeiter-kolonie auf, dann kam eine Autobahnüberführung, ein Marktplatz mit einer Kirche und ein paar bürgerlichen Häusern. Bald musste der Hubschrauber über riesige Hochöfen steigen, hinter denen sich Berge von Koks, Kohle und Eisenerz türmten, eine freie Fläche zeigte sich, wo noch vor kurzem eine Fabrik gestanden hatte, und da war schon das Stadtzentrum mit Kaufhallen, Geschäftshäusern, Banken, zwei großen Plätzen, der Universität, dem Park und dem Bahnhof.
Dahinter Fördertürme, eine rauchende Kokerei, eine berggroße Schutthalde, Teiche mit toxischem Abfall und gleich daneben eine weitere Plattenbausiedlung, Geschäfte, Schule, Kindergarten und die Chemiewerke, das Kraftwerk mit den riesigen Kühltürmen und dahinter Schrebergärten mit Gartenhäuschen und wieder dahinter eine andere Plattenbausiedlung für Tausende von Menschen.“1 Wieder am Boden, mag Balabán auch den alles durchdringenden schwefeligen Hausbrandgeruch wahrgenommen haben, der auch 30 Jahre nach seinem Erkundungsflug zumindest im Winter noch wie eine zähe Wolke durch die Stadt zieht.
Milan Kundera (geboren 1929), der auch im Westen bekannte Autor des Romans „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, charakterisiert Ostrava als „Bergarbeiterstadt, die einem riesigen provisorischen Nachtasyl glich, voll von verlassenen Häusern und schmutzigen Straßen, die ins Leere führten.“2 Und an anderer Stelle schreibt er: „Ostrava war eine schwarze Stadt, um die herum es praktisch keine Natur gab, nur Halden, Zäune, Parzellen und ab und zu ein schütteres Wäldchen voller Ruß. Schöne Blumen fand Lucie (eine Figur des Romans) nur auf dem Friedhof.“3
Für Milan Kunderas Ich-Erzähler ist Ostrava die Metapher für die eigene Verstrickung in die Spannung zwischen Idylle und Zerfall, die er in der Stadt wahrnimmt. Durch die Machtübernahme der Kommunisten in eine prekäre Situation geraten, fährt er gleichsam mit der Kamera durch die Stadt und sieht allenthalben Auflösung und Hoffnungslosigkeit. Seine eigene mentale Befindlichkeit spiegelt sich in der verlorenen und dem Niedergang geweihten Stadt.
Abbildung 3: Bergarbeiterstadt (Postkarte, Entstehungszeit nicht bekannt)
Selbst die verstreuten Zeichen der Zuversicht, die der Erzähler etwa im efeuumrankten Häuschen sieht, widersprechen nicht der Grundtendenz des unaufhaltsamen Niedergangs, sondern unterstreichen nur die unumkehrbare Absurdität seines Daseins: „Ich setzte mich in die Lokalbahn, eine alte Straßenbahn, die auf schmalen Gleisen dahinratterte und weit auseinander liegende Stadtviertel miteinander verband, und ließ mich ins Blaue fahren. Aufs Geratewohl stieg ich aus und setzte mich in den Wagen einer anderen Linie; die endlose Peripherie Ostravas, in der sich Fabriken und Natur, Felder und Müllplätze, kleine Wäldchen und Halden, Mietskasernen und Landwirtschaftsgebäude in höchst befremdender Zusammensetzung vermischten, faszinierte und erregte mich auf sonderbare Art; ich stieg wieder aus der Straßenbahn und machte einen langen Spaziergang: ich nahm diese seltsame Gegend fast mit Leidenschaft in mir auf und versuchte, ihrer Atmosphäre auf den Grund zu kommen; ich versuchte, in Worte zu fassen, was dieser aus so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzten Gegend Einheit und Ordnung verlieh; ich kam an einem idyllischen, efeuumrankten Häuschen vorbei und dachte, es gehörte gerade deshalb hierher, weil es absolut nicht zu den baufälligen Mietskasernen in seiner Nachbarschaft passte, ebenso wenig wie zu den Silhouetten der Fördertürme, Schlote und Hochöfen, die den Hintergrund bildeten; ich kam an niedrigen Notunterkünften vorbei, die eine Siedlung innerhalb der Siedlung darstellten, und in geringer Entfernung dazu erblickte ich eine schmutzige und graue Villa, die aber von einem Garten mit prunkvollem Eisenzaun umgeben war; in einer Ecke des Gartens stand eine große Trauerweide, die sich in dieser Landschaft wie eine verirrte ausnahm - und dennoch, sagte ich mir, gehörte sie vielleicht gerade deshalb hierher. Ich war durch alle diese kleinen Entdeckungen des Unangemessenen nicht nur deshalb so erregt, weil ich darin den gemeinsamen Nenner dieser Landschaft sah, sondern vor allem, weil es für mich das Bild meines eigenen Schicksals darstellte, meiner eigenen Verbannung in dieser Stadt; natürlich: die Projektion meiner persönlichen Geschichte auf die Objektivität der ganzen Stadt verschaffte mir eine Art Versöhnung; ich begriff, dass ich nicht hierhergehörte, ebenso wenig wie die Trauerweide und das Efeuhäuschen, ebenso wenig wie die kurzen Straßen, die ins Leere und ins Nichts führten, die Straßen, die aus Häusern zusammengewürfelt waren, von denen ein jedes von anderswoher zu stammen schien, ich gehörte nicht hierher, ebenso wenig wie die abscheulichen Viertel der niedrigen Notbaracken (in einer einst trostspendenden ländlichen Gegend), und mir wurde klar, dass ich, gerade weil ich keineswegs hierhergehörte, hier sein musste, in dieser fürchterlichen Stadt, die alles, was einander fremd war, rücksichtslos in ihrer Umklammerung eingeschlossen hatte.“4
Die Stadt als Bühne der eigenen Befindlichkeit, die hier Agonie und Auflösung heißt. Trostlos mag Ostrava durchaus sein, das Zerrbild eines endlosen, unüberschaubaren Netzwerks von Straßen, Rohren, Eisenbahnen, dazwischen Häuserblocks, Fabriken, Brachen, Fördertürme, Abraumhalden, Gasfackeln und rauchende Schlote. Sie geben der Stadt weder Anfang noch Ende, weder Zentrum noch Peripherie. Eine Stadt, die von Westeuropa aus betrachtet den Topos der in die sibirische Wildnis hineingeklotzten Industriestadt repräsentiert. Wohn- und Industrieanlagen gigantischen Ausmaßes stehen für den Sieg des Sozialismus....
Erscheint lt. Verlag | 12.2.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7481-0511-8 / 3748105118 |
ISBN-13 | 978-3-7481-0511-4 / 9783748105114 |
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Größe: 5,4 MB
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