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Was ist so schlimm am Kapitalismus? (eBook)

Spiegel-Bestseller
Antworten auf die Fragen meiner Enkelin

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019
128 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-23602-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was ist so schlimm am Kapitalismus? - Jean Ziegler
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Das leidenschaftliche Debattenbuch des bekannten Globalisierungskritikers nun im Taschenbuch
Ist der Kapitalismus das Ende der Geschichte, eine Weltordnung, die unüberwindbar ist? Jean Ziegler widerspricht dieser Ansicht vehement. Er erklärt seiner Enkelin Zohra und ihrer Generation, welchen unmenschlichen Preis wir für dieses System zahlen. Auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt, überleben zwei Milliarden Menschen in fürchterlichem Elend, sterben täglich Zehntausende Kinder an Mangel und Unterernährung, was durch die aktuelle Corona-Pandemie noch verstärkt wird. Kapitalistische Profitgier zerstört die Umwelt, vergiftet Böden, Flüsse und Meere, beschädigt das Klima und bedroht die Natur. Ziegler erklärt, warum dieses System »radikal zerstört« werden muss: Der Kapitalismus als »kannibalische Weltordnung« ist unreformierbar.

Jean Ziegler, geboren 1934 im schweizerischen Thun, lehrte bis zu seiner 2002 erfolgten Emeritierung Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne/Paris. Bis 1999 war Jean Ziegler Nationalrat im Parlament der Schweizer Eidgenossenschaft, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, als dessen Berater er heute noch tätig ist. Seine Publikationen wie »Die Schweiz wäscht weißer« (1992) und »Die Schweiz, das Gold und die Toten« (1998) haben erbitterte Kontroversen ausgelöst. Als Kritiker von Globalisierung und Raubtierkapitalismus ist er mit Bestsellern wie »Das Imperium der Schande« (2005), »Der Hass auf den Westen« (2007), »Wir lassen sie verhungern« (2012), »Ändere die Welt!« (2015) »Der schmale Grat der Hoffnung« (2017) und »Die Schande Europas« (2020) hervorgetreten.

II


Also, wie ist der Kapitalismus entstanden?

Das ist eine lange, sehr komplizierte Geschichte, weil der Kapitalismus nicht nur eine wirtschaftliche Produktionsweise ist, sondern auch eine gesellschaftliche Organisationsform. Sie hat mit dem Aufstieg und dem Niedergang sozialer Klassen zu tun. Alle diese Begriffe sind ein wenig abstrakt für dich, aber ich werde sie dir erklären. Man braucht sie, um die Lage der Dinge richtig zu verstehen.

Einen Augenblick. Bevor du zu theoretisch wirst, erkläre mir doch, woher das Wort Kapitalismus kommt …

Kapitalismus kommt von dem lateinischen Wort caput, das Kopf bedeutet, ursprünglich im wirtschaftlichen Sinne: die Kopfzahl des Viehbestands. Das Wort Kapital, das sich daraus entwickelte, nahm im 12. und 13. Jahrhundert die Bedeutung von Vermögen an, von Gewinn, der Geldmenge, die man gewinnbringend anlegen konnte. Der Begriff Kapitalist taucht erst viel später auf, im 17. Jahrhundert bezeichnet er zunächst den Eigentümer des Reichtums, dann den Unternehmer, denjenigen, der eine bestimmte Geldmenge in den Produktionsprozess investiert. Ab dem 18. Jahrhundert wird er häufig auf alle Personen angewendet, die reich sind. Der liberale englische Ökonom David Ricardo, Verfasser der 1817 erschienenen Schrift On the Principles of Political Economy and Taxation – Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung – verwendet ihn genauso wie 1840 der französische revolutionäre Anarchist Pierre-Joseph Proudhon in Was ist das Eigentum?.

Mitte des 19. Jahrhunderts kam das Wort Kapitalismus auf, fand aber erst im 20. Jahrhundert Eingang in den allgemeinen Wortschatz. Es findet sich ab 1850 bei dem Revolutionär Louis Blanc in der Bedeutung von Aneignung des Kapitals durch die einen unter Ausschluss der anderen, bei Proudhon und natürlich bei Karl Marx als wirtschaftliches und gesellschaftliches System, in dem das Kapital als Einkommensquelle generell nicht denen gehört, die es durch ihre Arbeit produzieren.

Ach so, jetzt weiß ich! Er hat den Marxisten ihren Namen gegeben. Ich habe Freunde, die sich Marxisten und Antikapitalisten nennen!

Du hast recht. Seit mehr als einem Jahrhundert berufen sich die Revolutionäre auf Karl Marx. Er ist bei Weitem der bekannteste der hier zitierten Philosophen. Zwanzig Jahre seines Lebens als Philosoph, Nationalökonom, Theoretiker und revolutionärer Kämpfer hat Marx der Niederschrift seines Buchs Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie gewidmet, trotzdem war das Werk bei seinem Tod im Jahr 1883 immer noch unvollendet. Von London aus, wohin er mit seiner Familie geflüchtet war, hat er am Beispiel der englischen Industrie und ihrer entsetzlichen Arbeitsbedingungen die wahre Natur des Kapitalismus enthüllt und damit dessen Opfern die Waffen geliefert, mit denen sie ihn bekämpfen können.

In Ordnung, Jean. Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist das Kapital eine Geldmenge, die durch Arbeit produziert wird, eine Einkommensquelle, wenn man sie reinvestiert, und der Kapitalist der Eigentümer dieser Geldmenge, der sich die Einnahmen aneignet, indem er sie denen vorenthält, die sie durch ihre Arbeit produzieren. Richtig?

Ganz genau. Das Wort Kapitalismus verweist auf zwei fundamentale Gegebenheiten: das Kapital als Geldmenge und den Kapitalisten als Wirtschaftssubjekt oder gesellschaftlichen Akteur, der sich auf Kosten der Arbeiter bereichert.

Das kapitalistische System ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist das Ergebnis jahrhundertelanger Kämpfe zwischen antagonistischen gesellschaftlichen Klassen … Blutiger, häufig unentschiedener Kämpfe.

Kannst du sie kurz zusammenfassen?

Sicher. Seit Jahrtausenden gibt es Reiche, die Güter im Überfluss besitzen – Ländereien, Werkzeuge, Zugänge zum Wasser, Paläste, Transportmittel, Delikatessen, Gold- und Silbergeschirr, kostbare Kleidung, Juwelen und so fort – und die Macht, die daraus erwächst. Einst besaßen diese Reichen auch Menschen, die für sie arbeiteten und sie bedienten, Männer, Frauen und Kinder, die keinerlei Freiheiten hatten und wie Waren verkauft und gekauft wurden. Der Besitzer hatte die Macht über Tod und Leben dieser Sklaven. Es handelt sich um ein sehr altes Gesellschafts- und Produktionssystem, das als Sklavenhaltergesellschaft bezeichnet wird und in der gesamten Antike verbreitet war.

In der Schule hat uns der Lehrer gesagt, es gebe heute noch Kindersklaven, ich glaube in Mauretanien und auch anderswo, und im Fernsehen haben sie gezeigt, dass in Libyen junge afrikanische Migranten als Sklaven verkauft werden.

Das stimmt. Aber als Produktionssystem, als allgemeine Organisationsform der Arbeit ist die Sklaverei – der Kauf und Verkauf von Menschen – glücklicherweise abgeschafft.

Im Prinzip hat das Christentum die Sklaverei verurteilt. Ich sage »im Prinzip«, weil die Europäer, als sie außerhalb Europas – für die in Amerika erbeuteten Bergwerke und Ländereien – Arbeitskräfte brauchten, nicht nur die einheimischen indianischen Völker versklavt haben, sondern auch noch bis Ende des 19. Jahrhunderts den Sklavenhandel mit Schwarzen aus Afrika betrieben und sie massenhaft deportiert haben, ohne dass die Kirchen Einspruch erhoben hätten.

In der christlichen Welt Europas hat sich im Mittelalter, nach dem Ende des Römischen Reiches, allmählich ein neues sozioökonomisches System durchgesetzt: der Feudalismus beruhte auf dem Grundbesitz – in Form des Lehens – und auf komplexen, hierarchischen Beziehungen zwischen den Herrschern – Kaisern, Königen, Fürsten, politischen Machthabern und Besitzern riesiger Ländereien – und den lokalen Grundbesitzern, den adligen Herren, ihren Vasallen, die selbst Lehnsherren weniger bedeutender Vasallen waren, bis hin zu den Menschen, die auf diesen Ländereien lebten. Wer keinen Grundbesitz hatte, zählte zu den Hörigen, die sich im Zustand der Leibeigenschaft befanden, also den Status von »Unfreien« hatten, wenn ihnen auch als Kindern Gottes, Brüdern und Schwestern im christlichen Glauben, bestimmte Rechte zugestanden wurden. Die Hörigen waren an den Boden gebunden und mussten für den Besitzer arbeiten, der ihnen im Gegenzug Schutz gewährte. Der Unterschied zwischen Sklaverei und Leibeigenschaft erwächst aus der Rechtsstellung des Leibeigenen: Er wurde nicht mit einer Sache gleichgesetzt wie der Sklave, sondern verfügte über eine Rechtspersönlichkeit: Er konnte heiraten, Besitz haben und durfte nicht verkauft werden. Soll ich fortfahren?

Ja. Aber ich habe eine Frage: Du hast gesagt, das Lehen sei die Grundlage des Feudalismus. Woher kommt dieses komische Wort?

Das Wort Lehen hängt mit leihen zusammen, es ist also geliehener Grundbesitz. Der Feudalismus ist ein politisches System, das auf Grundbesitz und Leibeigenschaft beruht. Sein besonderes Merkmal ist die Hierarchisierung der Lehen und der Personen. Er ist das Nervenzentrum eines komplexen Systems aus Verpflichtungen und Diensten freier Männer, der Vasallen. In der Regel waren es militärische Verpflichtungen, um das Territorium des Lehnsherrn zu verteidigen oder in seinem Namen andere zu erobern, manchmal auch die Verpflichtung, den Lehnsherrn durch seinen Rat zu unterstützen, wofür dem Vasallen ein Gut – ein Lehen, ein Vorteil – gewährt wurde. Der Lehnsherr schuldete seinem Vasallen Schutz und Unterhalt, wofür dieser ihm zu Treue und Ehrerbietung, zu Rat und Tat verpflichtet war.

Die Schwächung der öffentlichen Gewalt nach den Invasionen der Germanen, der asiatischen Reitervölker, der Wikinger und so fort, die vergeblichen Bemühungen der Karolinger, der Erben Karls des Großen, das Reich wiederherzustellen, die darauf folgende soziopolitische Krise – all das führte zur Konsolidierung des Systems nach dem Jahr 1000.

Gab es denn auch in den Städten Lehen?

Damit stellst du eine zentrale Frage. Ja, es gab Lehen in den Städten. Grund und Häuser befanden sich dort im Besitz adliger Familien. Doch in den Städten entwickelte sich gegen den Feudalismus und die Leibeigenschaft die neue kapitalistische Produktionsweise.

Als Zeitpunkt ihrer Entstehung nennt Marx das 16. Jahrhundert, und ihren Aufschwung sieht er am Ende des 18. Jahrhunderts, als eine Reihe von technologischen Revolutionen und die Mechanisierung der Arbeit so weit gediehen waren, dass sie dem Bürgertum, einer neuen Klasse, zu beträchtlichem Reichtum verhalfen. Diese Vorgänge analysiert Marx nicht im Detail, weil zu seiner Zeit die Kenntnis des Mittelalters noch ein wenig verschwommen war. Bestimmte Wege der Kapitalakkumulation durch Handwerker und vor allem Kaufleute lassen sich in den Städten schon sehr früh nachweisen, dort begann der Aufstieg des Bürgertums spätestens im 12. Jahrhundert.

Aber was du vor allem verstehen musst: Als gesellschaftliche Organisationsform ist der Kapitalismus eng mit den jahrhundertealten Kämpfen zwischen feindlichen gesellschaftlichen Klassen verbunden.

Feindliche gesellschaftliche Klassen … Also beispielsweise die bürgerliche Klasse gegen die Feudalklasse?

Genau. Kommen wir noch einmal auf das Ende der Sklaverei und seine logische Folge zurück.

Nachdem die Sklavenhaltergesellschaft in Europa untergegangen war, konnte der Grundbesitzer fortan keine zusätzlichen Arbeiter mehr kaufen, um die Produktivität zu steigern. Er musste andere Verbesserungen vornehmen – an seinen Arbeitsgeräten, dem Handelsnetz seiner Produkte, den Energiequellen, den Methoden zur Verarbeitung der Rohstoffe. Energiequellen, die man oft seit Langem kannte, aber kaum beachtet hatte, wurden...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2019
Übersetzer Hainer Kober
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel LE CAPITALISME EXPLIQUE A MA PETITE-FILLE
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Armut • Ausbeutung Dritte Welt • Corona • eBooks • Finanzkapitalismus • Fridays For Future • Greta Thunberg • Hunger • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Raubtierkapitalismus • Revolution • Soziale Gerechtigkeit • spiegel bestseller • Umweltzerstörung • Widerstand • Wirtschaft
ISBN-10 3-641-23602-9 / 3641236029
ISBN-13 978-3-641-23602-1 / 9783641236021
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