Öffentlichkeiten (eBook)
336 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43984-6 (ISBN)
Urs Büttner ist wiss. Mitarbeiter am Peter-Szondi-Institut der FU Berlin. Sarah Michaelis arbeitet als Lehrerin am Marion-Dönhoff-Gymnasium Nienburg.
Urs Büttner ist wiss. Mitarbeiter am Peter-Szondi-Institut der FU Berlin. Sarah Michaelis arbeitet als Lehrerin am Marion-Dönhoff-Gymnasium Nienburg.
Die Öffentliche Meinung. Zur Medientheorie der Gegenaufklärung
Harun Maye
Mit dem Sammelbegriff der ›Gegenaufklärung‹ werden ideologisch und personell heterogene Gegenbewegungen zur Aufklärung bezeichnet, die in der kritischen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution ihren Höhepunkt haben. Es geht ideengeschichtlich nicht nur um die Ablehnung der zentralen Konzepte der Aufklärung wie Vernunft, Universalität, Rationalität und Gleichheit, sondern auch um deren Ersetzung durch Gegenkonzepte wie Mythos, Kulturalität, Irrationalität und die anthropologische Differenz.55 Dieser forcierte Gegensatz zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung beschreibt allerdings weniger eine reale historische Situation, sondern dient bis heute vielmehr als binäres Deutungsschema in intellektuellen Debatten. Die sogenannte Gegenaufklärung entpuppt sich dabei fast immer als ein diskursiver Kampfbegriff und nicht als die positive Selbstbezeichnung einer einheitlichen und zeitlich begrenzbaren Gruppierung.56 Im Vergleich zur Aufklärungsforschung sind die wenigen Arbeiten zur Gegenaufklärung überschaubar und bleiben in ihrem überwiegend ideengeschichtlichen Schematismus einer überholten Forschungstradition verhaftet. Die wenigen Ausnahmen verdienen dafür umso mehr Beachtung, weil sie keine ideengeschichtliche Einordnung oder Kritik politischer Positionen anstreben, sondern den Fokus auf Probleme der Darstellung, der Rhetorik und der Ästhetik des Politischen legen, die in den Schriften der Gegenaufklärung artikuliert werden. Zu nennen sind hier vor allem Arbeiten über Edmund Burkes Ästhetische Ideologie und die Theatralität des Politischen.57 An diese Arbeiten möchte ich im Folgenden anschließen, den Fokus aber nicht auf Edmund Burkes Betrachtungen über die Französische Revolution (1790), sondern auf ein weiteres revolutionäres Buch richten, das gegen die Französische Revolution geschrieben wurde, nämlich Joseph de Maistres Betrachtungen über Frankreich (1796). An der Epochenschwelle um 1800 macht de Maistres revolutionskritische Schrift einen Zusammenhang zwischen technischen Medien und dem Imaginären der Politik sichtbar, der bis heute die politischen Debatten prägt.
Die öffentliche Meinung als Gerücht
Die Betrachtungen über Frankreich von Joseph de Maistre, die 1796 zum ersten Mal erschienen und in den folgenden Jahren mehrere Auflagen erreichten, sind neben Edmund Burkes Betrachtungen die populärste Veröffentlichung der sogenannten Gegenaufklärung. Sie machten den bis dahin anonym publizierenden de Maistre über Nacht zu einem ihrer bedeutendsten Autoren. Seine Deutung der revolutionären Ereignisse ist so einfach wie radikal: An eine lange Kette gebunden, die sie mit dem höchsten Wesen verbindet, handeln die Menschen zugleich als Freie und als Knechte; sie verfügen zwar über einen freien Willen, können aber die Vorsehung nicht ändern.58 Die Hand Gottes erweitert, hemmt oder lenkt diesen Willen, »für sie ist alles nur Mittel zum Zweck, selbst das Hindernis; auch die Unregelmäßigkeiten, die aus dem Spiel der freien Wesen entstehen, fügen sich in die allgemeine Ordnung«.59 Revolutionszeiten, so de Maistre, seien dadurch gekennzeichnet, dass die Kette, die den Menschen mit der Hand Gottes verbindet, kürzer werde. Statt die Hand zu küssen, die sie verkürzt, lehne er sich gegen diese Gängelung auf, »von einer unbekannten Macht getrieben«.60 Welche Macht damit gemeint ist, bleibt durchaus zweideutig. Naheliegend dürfte die politisch-theologische Lesart sein, wonach die Französische Revolution und ihre Protagonisten nur ein Werkzeug in Gottes Hand sind, der als Ingenieur und »ewiger Mathematiker«61 Korrekturen am Zustand Frankreichs und der Monarchie vornehmen musste. Es sei zum Beispiel notwendig gewesen, das Vermögen der Kirche zu konfiszieren, damit der Klerus in absehbarer Zeit keine weiteren Mitglieder mit niedrigen Motiven finde. Nicht das Recht auf Unterhalt und Versorgung, sondern der geistliche Dienst und fromme Lebenswandel der Kleriker werden so durch die Folgen der Revolution befördert. Nach den Turbulenzen der Revolution steht für de Maistre fest, dass alle an der Revolution Beteiligten bloße Werkzeuge in der Hand Gottes waren; selbst die Ungeheuer wurden nicht durch den Schlaf der Vernunft geboren, sondern durch die göttliche Vorsehung geschaffen: »Alle von der Revolution geborenen Ungeheuer haben allem Anschein nach nur für das Königtum gearbeitet. […] Durch sie wird der König in all seinem Glanz und in der Fülle der Macht den Thron besteigen«.62 Um die öffentliche Meinung nicht gegen sich aufzubringen, konnten die angeblich notwendigen Gewalttaten und der Terror der Revolution nicht von dem künftigen König verübt werden, sondern die »große Reinigung«, die das »französische Metall von seinen unreinen Schlacken befreit«, musste von willigeren Agenten durchgeführt werden, die sich auf den von ihnen aufgestellten Blutgerüsten abschließend auch noch selbst entsorgen.63
Aber so sehr de Maistre diese Deutung in seinem Text verfolgt, bringt er mit dem Hinweis auf den hohen politischen Stellenwert der öffentlichen Meinung einen Begriff ins Spiel, der ebenfalls als eine unbekannte oder besser unsichtbare Macht bezeichnet werden kann, die in Konkurrenz zur Hand Gottes steht. Auch die öffentliche Meinung ist allgegenwärtig und greift aktiv in das Weltgeschehen ein, ohne dabei selbst greifbar zu werden. Wie das funktioniert, davon berichtet de Maistre in dem interessanten neunten Kapitel seiner Betrachtungen, das davon handelt, wie sich die Gegenrevolution abspielen wird, die in de Maistres Geschichtsdenken den Abschluss des Revolutionsgeschehens und den Übergang zur Wiedereinführung der Monarchie darstellt. Dem konservativen Deutungsschema der Revolution folgend, das Edmund Burke entwickelt hat, spielt die Bevölkerung weder in der Revolution noch in der Gegenrevolution eine herausragende Rolle, sondern eine kleine Elite, vielleicht »vier bis fünf Männer«, wird »Frankreich einen König geben« – und zwar unter einem geballten Einsatz von Übertragungs- und Kommunikationsmedien: »Briefe aus Paris werden der Provinz melden, daß Frankreich einen König hat, und die Provinz wird rufen: Es lebe der König!«64
Die revolutionäre Einsicht dieses unscheinbaren Satzes besteht darin, dass der Erfolg der Gegenrevolution gar nicht davon abhängt, ob die Mehrheit der Franzosen republikanisch oder monarchistisch gesinnt ist, wie de Maistre ausdrücklich betont. Es ist noch nicht einmal notwendig, dass in Paris tatsächlich ein König die Regierung übernommen hat, sondern entscheidend ist nur, dass die Briefe aus Paris es behaupten. De Maistre formuliert hier keine Instruktionen für den Aufstand, sondern beschreibt die Wirkung einer gezielt eingesetzten Nachrichtentechnik:
»In Bordeaux, in Nantes, in Lyon usw. trifft ein Kurier mit der Nachricht ein: Paris hat den König anerkannt. […] Das Gerücht trägt die Nachricht weiter und schmückt sie mit tausend imponierenden Einzelheiten aus. Was wird man tun? […] Die Truppen werden im ersten Augenblick vielleicht eine auflehnende Haltung einnehmen, aber selbst an diesem Tage werden sie essen wollen, und so lösen sie sich allmählich von der Macht, die nicht mehr bezahlt. […] Das Band der Disziplin wird, wie durch einen unerklärlichen Zauberschlag, plötzlich gelockert. Der eine blickt auf den nahenden königlichen Soldzahler, der andere benutzt den Augenblick, um zu seiner Familie zu eilen. Es wird nicht mehr befohlen noch gehorcht, die Einheit hört auf.
Ganz anders ist es bei den Städtern. Man geht und kommt, begegnet sich, fragt einander. Ein jeder fürchtet den, dessen er bedürfte. Im Zweifeln vergeht die Zeit, und die Minuten sind entscheidend. […] Wer sich still verhält, läuft keine Gefahr, aber die geringste Bewegung kann zur unverzeihlichen Schuld werden: man muß also abwarten. Man wartet ab, aber am nächsten Tag trifft die Nachricht ein, der und der feste Platz habe seine Tore geöffnet; ein Grund mehr, um nichts zu übereilen. Bald erfährt man, daß die Nachricht falsch war, aber zwei andere Städte, die sie für wahr hielten, haben ein Beispiel gegeben, indem sie ihn aufnehmen zu müssen glaubten. Sie haben sich unterworfen und reißen die erste mit, die nicht daran dachte....
Erscheint lt. Verlag | 15.12.2021 |
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Co-Autor | David-Christopher Assmann, Werner Binder, Urs Büttner, Michael Hirsch, Emma Holten, Michael Kämper-van den Boogaart, David D. Kim, Katrin Kreuznacht, Oliver Kohns, Jan Lazardzig, Harun Maye, Sarah Michaelis, Jennifer Pavlik, Michael Pelzer, Patrick Primavesi, Clemens Pornschlegel, Peter Seibert, Stefan Tetzlaff, Markus Wessels |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | Ästhetik • Kunst • Medien • Öffentlichkeit • Performativität • Politik • Praxistheorie • Theater |
ISBN-10 | 3-593-43984-0 / 3593439840 |
ISBN-13 | 978-3-593-43984-6 / 9783593439846 |
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