Im Transit auf dem Ozean
Campus (Verlag)
978-3-593-50949-5 (ISBN)
Vom Moment des Ablegens im Heimathafen bis zur Ankunft am Zielhafen folgt dieses Buch den Schiffspassagen durch das Britische Imperium des 19. Jahrhunderts. Die Studie beleuchtet, wie eine solche Überfahrt ans "andere Ende der Welt" von den Passagieren erlebt und beschrieben wurde. Johanna Beamish stützt sich dabei auf eine bisher nahezu vergessene Quellengattung: auf Schiffszeitungen, die die Passagiere in ihrer monatelangen Isolation selbst für sich und ihre Mitreisenden verfassten.
Johanna Beamish, Dr. phil., promovierte am Cluster »Asia and Europe in a Global Context « der Universität Heidelberg. Sie ist wiss. Referentin bei der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland.
Inhalt
1. Einleitung 7
2. Schiffszeitungen: Dokumente der Passage 35
The Gazette will be lent on Monday, Tuesday, and Wednesday: Publizieren an Bord 37
The institutors of papers: Kontextualisierung der Quellen 70
3. Der Beginn der Reise 79
The sigh of regret, yet the tremor of anticipation: Die Abfahrt 80
A very mixed assemblage?: Die Passagiere 89
4. Zwischenbetrachtung: Eine Passagiergemeinschaft entsteht 104
5. Im Transit: Auf dem Schiff 118
Happy is the kingdom whose annals are dull: Routine und Rituale 121
Recovering our sea-legs: Körper im Transit 133
6. Im Transit: Verbindungen in die Welt 149
We had once more entered into the world: Anlegen in Hafenstädten 149
Within speaking distance: Kontakte mit anderen Schiffen 164
7. Zwischenbetrachtung: Konflikte in der Passagiergemeinschaft 175
8. Das Ende der Reise 187
Our voyage must be shortly brought to a conclusion: Aufbruchsstimmung 187
The happy band broke up with heartful regret: Zurück auf dem Festland 202
9. Welche Reise? Welcher Transit? 212
10. Fazit 227
Literatur 235
Anhang 257
Danksagung 270
"Beamish versteht ihre Arbeit als Grundlagenforschung und tatsächlich erschließt sie ein bislang vernachlässigtes Quellengenre, das die 'leere Zeit' des Transits als wichtigen Aspekt der Globalisierung beleuchtet. Es gelingt ihr zu demonstrieren, wie die Publikation einer Schiffszeitung die Erfahrung der Passagiere beeinflusste und einen Raum schuf, in dem soziale Praktiken an Bord stets neu ausgehandelt wurden. [...] Das Buch trägt [...] maßgeblich zur Verbesserung des wissenschaftlichen Verständnisses bei, wie die frühen Globalisierungsprozesse in ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung für die zeitgenössischen Akteure konkret erfahrbar wurden." Dolf-Alexander Neuhaus, Sehepunkte, 15.09.2019
»Beamish versteht ihre Arbeit als Grundlagenforschung und tatsächlich erschließt sie ein bislang vernachlässigtes Quellengenre, das die ›leere Zeit‹ des Transits als wichtigen Aspekt der Globalisierung beleuchtet. Es gelingt ihr zu demonstrieren, wie die Publikation einer Schiffszeitung die Erfahrung der Passagiere beeinflusste und einen Raum schuf, in dem soziale Praktiken an Bord stets neu ausgehandelt wurden. […] Das Buch trägt [...] maßgeblich zur Verbesserung des wissenschaftlichen Verständnisses bei, wie die frühen Globalisierungsprozesse in ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung für die zeitgenössischen Akteure konkret erfahrbar wurden.« Dolf-Alexander Neuhaus, Sehepunkte, 15.09.2019
1. Einleitung "To a man who has passed more than half of three score years and ten allotted to him on land, a first long sea voyage is a strange and curious experience, of which he could form no adequate conception. It reverses all his ideas of the fixity of things. It is a life of perpetual movement, and (paradoxical as it may sound) of continual variety and continual sameness. His world is a small ship; his surroundings the boundless sea, and the overhanging sky, which although always changing, always seem the same. It is not so, however, with the little human world of which, for the time, he is a member; thrown among new minds and new faces, and passing day after day in the most intimate relations with them. Life on board ship affords a rare opportunity of studying the eccentricities of human nature, and the peculiarities of character. After a few days of reserve, the mask drops from every face, and men and women are seen as they are, and very often not as they wish to appear to be. Our own experience is probably not peculiar, but such as it is it affords a commentary on the singular variety of ›men and manners‹ to be found in such an isolated community as is to be found on Board Ship." Diese Zeilen stammen aus einer Zeitung, die von den Passagieren an Bord des Dampfschiffs S.S. Somersetshire herausgegeben wurde. Die S.S. Somersetshire befand sich im Winter 1876 auf einer achtwöchigen Reise von England nach Australien. In der letzten Ausgabe der Schiffszeitung, kurz vor der Ankunft im Zielhafen Melbourne, hält der Herausgeber J.A. Langford seine Eindrücke der vorangegangenen Wochen fest. In diesem Artikel mit der Überschrift Life on Board Ship werden die Erfahrungen deutlich, die die Passagiere in der isolated community an Bord eines interkontinentalen Schiffs im 19. Jahrhundert gemacht haben. Langford stellt fest, dass eine Schiffspassage generell ›anders‹ sei als das Leben auf dem Festland, so anders, dass es den Menschen schwer fällt, sich im Vorhinein überhaupt eine Vorstellung davon zu machen, wie sich ihr Leben auf dem Schiff gestalten würde. Er hebt an dieser eigenartigen und neuen Erfahrung der Überfahrt das Paradoxe hervor. Die als paradox empfundene Situation ist bedingt durch den Widerspruch von Bewegung und Stillstand, beziehungsweise von continual variety and continual sameness. Einerseits befindet sich ein Schiff in nahezu ständiger Bewegung, es durchquert den Raum und überbrückt Distanzen; andererseits erleben die Menschen auf dem Schiff selbst kompletten Stillstand. Zuvor gültige Vorstellungen und Zuschreibungen von Beständigkeit und Kontinuität werden während der Zeit, die die Passagiere auf dem Schiff verbringen, außer Kraft gesetzt. Dadurch, dass die Passagiere in dieser von ihnen als widersprüchlich empfundenen Situation eine Zeitung herausgeben, - und das nicht nur an Bord der Somersetshire, sondern auf hunderten von Schiffen - versuchen sie, mit dieser Paradoxie ihrer derzeitigen Situation umzugehen, sie durch die Verschriftlichung greifbar und verständlich zu machen und durch die Publikation ihre Eindrücke mit anderen zu teilen. Langfords Artikel spricht darüber hinaus noch eine weitere widersprüchliche Empfindung der Passagiere an: Während sie einerseits im eng begrenzten physischen Raum des Schiffs eingeschlossen sind, sind sie andererseits während der gesamten Überfahrt umgeben vom ihnen unendlich erscheinenden Ozean. Auf dem Schiff müssen die Passagiere somit die Paradoxie von gleichzeitiger Veränderung und Einförmigkeit, aber auch den Widerspruch zwischen der Enge des Schiffraums und der Unendlichkeit des Meeres bewältigen. Neben den schwer fassbaren Erfahrungen von Widersprüchen und diesen entsprechenden Spannungsfeldern, nimmt Langford ebenfalls die kleine, menschliche Welt an Bord in den Fokus. Er ist davon überzeugt, dass die Wochen auf dem Schiff sich bestens eignen, the eccentricities of human nature zu studieren. Die Menschen auf den Schiffen befinden sich in einem komplett von der Außenwelt abgeschlossenen Raum, in dem sie sich mit ihren Mitreisenden arrangieren müssen. Diese Passagiergemeinschaft ist somit ein sozialer Mikrokosmos, dessen Zuschreibungen und Distinktionen während der Überfahrt durch verschiedene Praktiken an den Raum des Schiffs angepasst werden müssen. Gegenstand dieser Studie ist die in diesem Einleitungszitat offenbar gewordene Transiterfahrung der Passagiere während interkontinentaler Überfahrten im 19. Jahrhundert. Dadurch sollen die globalen Verbindungen, die durch diese interkontinentalen Passagen der Schiffe geknüpft werden, ›geöffnet‹ werden; es gilt in sie hineinzuschauen und zu analysieren, wie sie von den Passagieren im Moment des Entstehens erlebt und beschrieben werden. Im Zentrum der Studie stehen dabei die Passagen zwischen Großbritannien, Indien, Sri Lanka, Australien und Neuseeland, die unter Berücksichtigung des Transits, den die Passagiere während der Passage auf dem Schiff erleben und in ihren Zeitungen beschreiben, untersucht werden: Was konkret im und während des Transits geschieht, ist somit Kerngegenstand der Analyse. Dadurch möchte ich herausfinden, wie die Zeit im Transit zwischen verschiedenen Weltregionen von spezifischen Akteuren, den Passagieren der Schiffe, erlebt wird und welche Bedeutung diese Akteure dem Transit zuschreiben. Die Untersuchung stützt sich dabei hauptsächlich auf eine Quellengattung, die für eine solche Analyse besonders ergiebig ist, bisher aber wenig Aufmerksamkeit von der Forschung erhalten hat: die Zeitungen, die die Passagiere während der Überfahrten an Bord der Schiffe verfassen und veröffentlichen. Im Gegensatz zu anderen Quellen die auf interkontinentalen Schiffen entstanden sind, wie beispielsweise Briefen oder Tagebüchern, können Schiffszeitungen Fragen zur Transiterfahrung der Passagiere beantworten, die über die individuellen Eindrücke einzelner Akteure hinausgehen: Welche Rolle spielt die Veröffentlichung einer Zeitung für die Vergemeinschaftungsprozesse im Transit? Wie wird der soziale Mikrokosmos auf dem Schiff in der Publikation nicht nur sichtbar, sondern durch die Herausgabe einer Zeitung auch verändert? Und inwiefern gewinnt mit der Veröffentlichung der Schiffszeitung die Repräsentation der Überfahrt an Bedeutung? Dies sind grundlegende Fragen, die nur die veröffentlichten Zeitungen an Bord des Schiffs beantworten können und zu denen die vorliegende Arbeit Lösungsansätze bietet. Diese Studie untersucht, wie die Passagiere ihre Erfahrungen während der wochen- und monatelangen Überfahrten in den von ihnen herausgegebenen Publikationen beschreiben und darstellen. Diese Passagiere sind dabei Akteure mit individuellen Hintergründen und Reisemotiven: Ich berücksichtige in dieser Studie Geschäftsreisende, Vertreter kolonialer Institutionen, Migranten - ebenso ›auswandernde‹ wie ›heimkehrende‹-, Familien, die zwischen verschiedenen Kontinenten pendeln und Reisende mit touristischen Motiven. Die Zeit, die diese Akteure auf den Schiffen verbringen, ist dabei - wie schon im Eingangszitat deutlich wurde - unabhängig von ihrer Reisemotivation keineswegs eine ›leere Zeit‹. Während die historische Forschung bislang dazu tendiert hat, interkontinentale Überfahrten vor allem von Abfahrt und Ankunft her zu denken, war die Zeit ›dazwischen‹ für die Zeitgenossen mindestens genauso wichtig: Die Akteure im Transit interagieren untereinander, formieren sich zu Gruppen und lösen diese wieder auf, erleben Heimweh, Fernweh und Isolation. Betrachtet man die Transitphase aus der Perspektive der Passagiere, wird deutlich, dass diese Zeit, anders als man auf den ersten Blick annehmen könnte, nicht nur von vorübergehender Bedeutung und dementsprechend nebensächlich ist. Wie also nutzen die Akteure die Schiffszeitung, um ihre Transiterfahrung aktiv mitzugestalten und mit dem Zustand des ›Dazwischen‹ produktiv umzugehen? Durch ihr Erkenntnisinteresse trägt diese Studie zu einer Sozialgeschichte des Transits bei: Die Passagiergemeinschaft selbst, aber auch die Räume, die diese Gemeinschaft bilden und in denen sich solche Gemeinschaften bilden, werden untersucht. Dabei möchte ich die sozialen Praktiken, durch welche sich die Passagiergemeinschaften bilden und die in ihnen entstehen, analysieren. Während dieser vielschichtigen Prozesse befinden sich diese Gemeinschaften und die Räume, die sie formen, in ständiger Bewegung, wie der Autor des Eingangszitats es nennt: a life of perpetual movement. Die Passagiere auf solchen interkontinentalen Schiffen ins Zentrum zu rücken, bedeutet, ihren Verbindungscharakter in den Fokus zu nehmen: Durch ihre Überfahrten verbinden die Passagiere die Weltregionen, aus der sie kommen und zu denen sie unterwegs sind. Dementsprechend untersucht diese Arbeit globale Verbindungen im 19. Jahrhundert anhand eines konkreten Beispiels, um zu erfassen, wie diese von den Akteuren selbst erlebt und beschrieben werden. Mithilfe von interkontinentalen Schiffspassagen und den Zeitungen, die während dieser Überfahrten verfasst werden, werden subjektive und konkrete Aspekte der Globalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts sichtbar. Schiffe als historische Räume Schiffe spielen in dieser Studie für die Untersuchung globaler Verbindungen eine zentrale Rolle. Die historische Forschung hat Schiffe bisher selten als eigenständige historische Schauplätze berücksichtigt, obwohl sie für die geopolitische Transformation der Welt im 19. Jahrhundert entscheidend waren und einen wichtigen Teil zum ›Zusammenrücken der Welt‹ in dieser Epoche beitrugen. Einzelne Forscher haben das Schiff zwar schon früh als zentralen historischen Raum erkannt und in einigen Fragestellungen spielen Schiffe ›naturgemäß‹ eine wichtige Rolle, wie beispielsweise in der Forschung zur middle passage, der transatlantischen Überfahrten aus Afrika kommender Sklavenschiffe, oder in Studien zur Piraterie. In den letzten Jahren ist darüber hinaus jedoch die Forderung aufgekommen, beziehungsweise auf die ›Lücke‹ hingewiesen worden, Schiffe nicht nur als historische Räume in den Fokus zu rücken, sondern vor allem die Zeit, die die Akteure auf ihnen verbringen, als eine Zeit im Transit erfassen. Die vorliegende Studie geht auf diese Forderung ein und leistet einen Beitrag dazu, durch diese neue Perspektive Schiffspassagen als eine Zeit im Transit zu konzeptualisieren. Schiffe erfüllen in der Frage, wie Passagiere den Transit erleben, gleichzeitig die Funktion einer Bühne und einer Brücke. Sie sind der Austragungsort, die Bühne, auf der sich Gemeinschaftsgefühl aber auch Distinktionen und Konflikte der Akteure während der Überfahrt manifestieren. Gleichzeitig ermöglichen sie die Durchquerung der Ozeane, sind Brücken und schaffen Verbindungen zwischen verschiedenen Weltregionen. Dieser Verbindungscharakter wurde als so prägnant wahrgenommen, dass das Schiff die Distanz zwischen zwei Weltregionen geradezu aufzulösen schien, wie ein Passagier im Jahr 1886 festhielt: "Who does not feel, as day by day we glide along at racehorse speed […] that the Antipodes is no longer at a distance from the old home; it is hardly too much to say that the intervening space is bridged over, and what must this mean to the ›England of the Pacific?‹" Mit der Verbindung durch das Schiff wird die große geographische Distanz zwischen zwei Weltregionen - in diesem Fall zwischen Großbritannien und den australischen Kolonien - nicht nur verringert, sondern erscheint nahezu aufgehoben. Die Bedeutung dieser, durch das Schiff ermöglichten Verbindung ist dem Autor der Zeilen bewusst, wenn er rhetorisch nach der Bedeutung dieser Überbrückung für die australischen Kolonien fragt. Der Verbindungscharakter des Schiffs erschien also schon den Zeitgenossen offensichtlich. Während der Überfahrt selbst bemerkten die Menschen auf dem Schiff den überbrückten Raum jedoch gar nicht immer, wie ein Passagier auf einer Überfahrt von England nach Australien festhält: "Sitting in our cabins, even as I write, we little realise the raging winds and surging billows through which our vessel ploughs her way. All must feel that our good ship has been a pleasant link connecting the Old World and the New." Auch wenn die Passagiere während dieser Überfahrt kaum etwas von den Wogen außerhalb des Schiffs mitbekamen und somit die zurückgelegte Distanz nahezu unbemerkt blieb, verband das Schiff dennoch durch seine Passage verschiedene Weltregionen und war das Bindeglied zwischen Orten, die durch große geographische Distanzen getrennt waren. Trotz dieser unbestreitbaren Verbindungsfunktion war das Schiff selbst während einer interkontinentalen Überfahrt im 19. Jahrhundert weitgehend von der Außenwelt isoliert. Diese Isolation konnte sich über Wochen erstrecken und war abhängig von verschiedenen Faktoren, die den Kontakt zur Außenwelt beeinflussten, mehr oder minder stark ausgeprägt. Durch die räumliche Isolation wurde die Rückbindung an soziale Kontakte außerhalb des Schiffs zumindest temporär gekappt, sodass sich an Bord ein sozialer Mikrokosmos entwickeln konnte. Erving Goffman hat Schiffe als Beispiel für sein Konzept der ›totalen Institution‹ angeführt, in der kein sozialer Austausch mit der Außenwelt möglich oder gewollt sei. Auch einige andere der von Goffman beschriebenen Charakteristika einer totalen Institution treffen auf das Leben an Bord eines Schiffs zu: Alle Sphären des täglichen Lebens der Passagiere finden am selben Ort statt, dem sich die Passagiere für die Dauer der Überfahrt nicht entziehen können. Darüber hinaus müssen sich in einer totalen Institution alle Individuen denselben Autoritäten unterwerfen, der Alltag ist streng reglementiert und sämtliche Aktivitäten finden mit denselben Teilnehmern statt. An Bord eines Schiffs machen die klaren Hierarchien, der enge und gut kontrollierbare Raum und ein detailliertes Regelwerk die starke Regulierung der Passagiere möglich. Auf den Zusammenhang zwischen dem strengen Regelwerk und dem Raum des Schiffs hat auch Helen R. Woolcock hingewiesen: "Where else, but within the confines of a ship, would it be possible to regulate with such detail and oversight the lifestyle of a community?" Die strengen Vorschriften werden durch den Raum des Schiffs also sowohl bedingt als auch durch diesen umsetzbar. Elizabeth Errington hat den umfassenden und gleichzeitig aufgezwungenen Charakter des Schiffs pointiert als "a prison with a chance of being drowned" beschrieben. Dennoch treffen einige Charakteristika einer totalen Institution auf ein interkontinentales Passagierschiff weniger oder gar nicht zu, da nicht alle Reisenden gleich behandelt werden und sie sich zudem freiwillig auf dem Schiff befinden. Das bedeutet, dass sich zwar Grundzüge einer totalen Institution auf dem Passagierschiff des 19. Jahrhunderts finden, die konzeptuellen Besonderheiten dieser speziellen Überfahrten jedoch berücksichtigt werden müssen. Wenn sich an Bord des Schiffs nicht alle denselben Zwängen unterwerfen müssen und an einigen Stellen theoretisches Konzept und empirischer Befund somit in ein Spannungsfeld geraten, kann dies für die Untersuchung fruchtbar gemacht werden: Um einen neuen Blick auf den speziellen Raum des Schiffs zu ermöglichen, wird die Zeit, die die Akteure auf dem Schiff verbringen, als eine Zeit im Transit konzeptualisiert. Im Transit Der Begriff ›Transit‹ wird in dieser Studie auf zwei unterschiedlichen Analyseebenen verwendet. Der Blick auf die Transitphase, welche den Gegenstand dieser Arbeit darstellt, wird durch einen analytischen Transitbegriff ergänzt. Letzteres bedeutet: Der Untersuchungsgegenstand - die interkontinentale Überfahrt - wird mittels des Konzepts des Transits analysiert. Nähert man sich dem Begriff ›Transit‹ zunächst linguistisch, setzt sich das Wort aus den lateinischen Wortbestandteilen trans (durch) und it (ire, 3. Person Singular) zusammen. Synonyme Begriffe sind Durchfahrt, Durchreise und Passage. Im Englischen wird Transit wie folgt definiert: "The action or fact of passing across or through; passage or journey from one place or point to another; a way for passing; a transition or change." In einem solchen Verständnis bedeutet Transit also, sich von einem Punkt zum anderen zu bewegen, sich in einer Übergangszeit, die mit einem Wandel oder einer Veränderung einhergehen kann, zu befinden. In verschiedenen Verwendungskontexten können die Inhalte und Assoziationen des Begriffs selbstverständlich variieren - so beispielsweise in einem wirtschaftlichen Kontext, in dem ›im Transit‹ für Handelsgüter genutzt wird, die ein Drittland passieren. Es erscheint deswegen wichtig, ausgehend von der sprachlichen Bedeutung, anzugeben, was im konkreten Kontext einer interkontinentalen Überfahrt als zentrale Charakteristika des Transits gewertet wird. Ich verwende eine grundlegende Definition von ›Transit‹, in dem Transit eine Phase des ›Dazwischen‹ beschreibt: Einerseits sind die Passagiere interkontinentaler Überfahrten auf dem Schiff noch nicht an ihrem Zielort angekommen, andererseits befinden sie sich nicht mehr am Abfahrtsort. Wie Lars Wilhelmer beschreibt: "Der Reisende […] befindet sich in einem Schwebezustand des Noch-Nicht und Nicht-Mehr. […] [Er] befindet sich irgendwo zwischen hier und dort." Dieser Zustand des ›Dazwischen‹ ist das zentrale Charakteristikum des Transits und umfasst sowohl geographische, als auch soziale und biographische Aspekte, die sich auf dem Schiff ›in der Schwebe‹ befinden. Obwohl die Phase des Transits immer nur eine Phase von temporärer Gültigkeit ist, zwischen relativ deutlichen, häufig von Beginn an feststehenden Anfangs- und Endpunkten, ist sie für die Akteure nicht irrelevant. Vielmehr schreiben diese der Transitphase häufig eine existenzielle Bedeutung zu. Doch wie verhalten sich Abfahrt und Ankunft zum Transit? Einerseits bilden sie einen linearen Zusammenhang, andererseits unterscheidet sich die Passage qualitativ von der Abfahrt und der Ankunft. Mit der Abfahrt und der Ankunft verbinden sich Erfahrungen des Loslösens beziehungsweise des Ankommens, die Passage selbst aber lässt sich als Bewegung durch den Raum beschreiben. Somit rückt die Überfahrt selbst in den Fokus mit der zentralen Frage: Was geschieht, wenn man sich von einem Ort zum einem anderen bewegt? Dabei handelt es sich ebenfalls um eine der grundlegenden Fragestellungen der mobility studies. Die mobility studies stellen generell das Paradigma der menschlichen ›Sesshaftigkeit‹ in Frage, welches geographische Räume sowohl als Kern der menschlichen Identität als auch als Untersuchungseinheit der Sozialforschung versteht; die wissenschaftliche Forschung, die sich den mobility studies zuschreibt, verfolgt vielmehr den Ansatz, dass alle Räume durch Verbindungen zueinander in Beziehung stehen und stellt somit die Idee von geographischen ›Territorien‹ als feste Container für soziale Prozesse in Frage. Für die Entwicklung des Transitkonzepts und die dem entsprechende Auswertung der Quellengattung ›Schiffszeitung‹ sind aber vor allem die Ansätze und Überlegungen in Arnold van Genneps Werk Rites de passage hilfreich. Obwohl van Gennep sich auf Übergangsphasen zwischen verschiedenen sozialen Status konzentriert und die rites de passage von ethnologischen Interessen geleitet herausgearbeitet hat, ist seine Arbeit für das Transitkonzept an dieser Stelle nützlich: Denn auch bei van Gennep dienen räumliche Übergänge als Markierung für andere Arten von Passagen. Da der Transit, der in dieser Studie untersucht wird, sowohl materiell/geographisch als auch immateriell/metaphorisch ist, lässt sich van Genneps Theorie auf die hier untersuchten Schiffspassagen sinnvoll anwenden. Die Vorgänge während der Übergänge deutet van Gennep als Riten, die er in drei Kategorien einteilt: Trennungsriten begleiten eine Ablösungsphase, Schwellenriten eine Zwischenphase - die Kernphase der Passage - und Angliederungsriten eine Integrationsphase. Diese Riten können als Praktiken aufgefasst werden: Andreas Reckwitz, dem ich hier folge, definiert eine Praktik als eine "sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens." Mit einem solchen Verständnis von Riten als soziale Praktiken stellt sich speziell bezüglich der Schiffszeitungen, die während der Überfahrt geschrieben werden, daran anschließend die Frage: Inwiefern handelt es sich bei den Schiffszeitungen, die zum einen als Artefakte die Überfahrt dokumentieren, deren Herstellung zum anderen soziale Praktiken im Transit sind, um einen Übergangsritus? Das Konzept der Übergangsriten hat einige Jahrzehnte später Victor Turner aufgegriffen und weiterentwickelt. In seiner Forschung konzentriert er sich besonders auf die Phase des Übergangs, die er mit Hilfe des Konzepts der Liminalität zu erfassen versucht: "Liminal entities are neither here nor there; they are betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention, and ceremonial." Soziale Strukturen bleiben in einer Phase des Übergangs nicht unverändert, vielmehr entstehe nach Turner während der Phase der Liminalität eine Gemeinschaft, die er Communitas nennt. Diese wird definiert als "eine generalisierte soziale Bindung, eine rudimentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft, eine Gemeinschaft Gleicher, die sich gemeinsamen Autoritäten unterwerfen." Communitas ist somit das Gegenmodell zur Struktur und ist im Gegensatz zu dieser unmittelbar, konkret und spontan. Durch die Erfahrung der Liminalität können sich soziale Strukturen, Ordnungen und Normen verändern. Wenn man Turners Thesen auf die Transiterfahrung der Passagiere bezieht, stellen sich folgende Fragen: Inwieweit lässt sich die heterogene und sozial strukturierte Passagiergemeinschaft als eine Gruppe in der Phase der Liminalität beschreiben? Weist diese Merkmale der Communitas auf, und falls ja, welche Rolle spielen die Schiffszeitungen im Prozess der Bildung einer Communitas, die die sozialen und strukturellen Grenzen tendenziell auflöst? Und zuletzt: Wie gestaltet sich aus der Sicht der Passagiere im Transit das Zusammentreffen einer totalen Institution (nach Goffman) mit der Bildung einer Passagiergemeinschaft/Communitas in einer Schwellenphase (nach Turner)? In diesem Kontext ist es wichtig zu betonen, dass eine interkontinentale Überfahrt nicht ausschließlich eine geographische Mobilität umfasst, vielmehr kann sich gleichzeitig mit dem geographischen ›Dazwischen‹ auch ein immaterieller Transit manifestieren. Das breite semantische Spektrum des Transits wird besonders deutlich, da in dieser Studie diese verschiedenen Arten des Transits untrennbar miteinander verwoben sind: Neben der geographischen Passage von einem Kontinent zu einem anderen ist die Überfahrt gleichzeitig auch eine Passage zwischen verschiedenen sozio-kulturellen Normen und personellen Netzwerken, die am Anfangs- und Endpunkt der Reise stark divergieren können. Zum einen unterscheiden sich die sozialen Netzwerke am End- und Anfangspunkt ganz konkret, da sie sich vorwiegend aus unterschiedlichen Individuen zusammensetzen, zum anderen ist darüber hinaus mit der Passage auch ein Übergang zu anderen sozialen Normen, in Einzelfällen auch zu anderen sozialen Milieus verknüpft. Geographische und soziale Übergänge finden somit gleichzeitig statt, bedingen sich gegenseitig und weisen Schnittmengen auf. Je nach Reisemotivation der individuellen Akteure konnte die Schiffspassage neben dem geographischen Transit somit auch eine Überfahrt von einer Lebensphase in eine andere darstellen: so beispielsweise für Migranten, die sich dauerhaft an einem anderen Ort niederlassen wollen, für Kolonialbeamte, die nach jahrelanger Arbeit zurück in die Metropole kehren, oder für Kinder und Jugendliche, die für ihre Ausbildung nach Europa geschickt werden. Geht der geographische Übergang mit einem neuen Lebensabschnitt oder einem Einschnitt in der Biographie einzelner Akteure einher, kann man in diesen Fällen auch von einer biografischen Bedeutung des Transits sprechen. Eine solche biografische Bedeutung oder Interpretation des Transits weist darauf hin, wie wichtig es ist zu berücksichtigen, dass die Passagiere das Schiff nicht ohne Vorprägung betreten. Verschiedene Passagiere kommen mit unterschiedlichen Vorstellungen über die Reise, teilweise mit vorangegangenen Reiseerfahrungen und unterschiedlichen Reisemotiven an Bord. Diese Unterschiede prägen ihre Erwartungshaltung, ihre Sicht und ihre Interpretation der Überfahrt. Über den komplexen Zusammenhang zwischen dem Leben auf dem Festland vor und nach der Überfahrt und dem Leben an Bord des Schiffs sind sich die Passagiere selbst ebenfalls bereits im Klaren. So hält ein Passagier 1862 fest: "It is a mistake to look upon a sea voyage as a link dropped from the chain of life and lost[.]" Hier wird deutlich, dass die Passagiere die Überfahrt als untrennbar von den Phasen vor und nach der Passage wahrnehmen. Die Zeit an Bord wird ein verbindendes Glied empfunden und kann somit nicht von vorher und nachher gültigen Erwartungen, Erfahrungen und Ideen und auch nicht von an Land geltenden sozialen Zuschreibungen und Distinktionen losgelöst werden. Auch wenn im Transit soziale Strukturen neu entstehen können, werden zuvor entstandene also nicht komplett aufgelöst und durch andere, nur auf dem Schiff gültige Strukturen ersetzt. Der Transit ist vielmehr eine Phase der temporären Neu-Aushandlung bereits etablierter Strukturen. Das heißt, es gibt sowohl Elemente, die unverändert bleiben, als auch Veränderungen den bereits bestehenden sozialen Strukturen. Diese Veränderungen bewegen sich dabei in zwei Richtungen: Es kann zu einer Aufweichung, aber ebenso auch zu einer Verschärfung bereits existierender sozialer Strukturen kommen. Machtverhältnisse, die bereits an Land existierten, können während der Überfahrt weiter reproduziert und verstärkt werden. Speziell für Passagen nach Indien hat die Forschung bereits festgestellt, dass soziale Distinktionen auf der Überfahrt nicht zur Aufweichung, sondern zur stärkeren Ausprägung tendierten. Dennoch können soziale Abgrenzungen zumindest kurzfristig durchlässiger werden: Diese Studie arbeitet unter anderem heraus, inwiefern Distinktionen, die zuvor an Land gültig waren, durch andere, temporär auf dem Schiff gültige, ersetzt werden. Durch diese relative Flexibilität, sowohl in Richtung einer Verschärfung als auch einer Aufweichung der sozialen Strukturen im Transit, eröffnen sich für die Akteure Handlungsspielräume, durch die sie neue Rollen testen und einnehmen können und deren Vielfalt sich mithilfe der auf dem Schiff publizierten Zeitungen aufdecken lässt. Dass eine Überfahrt und auch Reisen allgemein (hier verstanden als eine territoriale Bewegung durch den Raum), die Menschen verändern, ist dabei eine so universelle Erfahrung, dass territoriale Mobilität zum Symbol sozialer Veränderung geworden ist, wie Eric Leed festgestellt hat: "The transformation of social being in travel, becoming someone else through territorial passage, is a cliché of the literature, and so common in experience that territorial mobility supplies our chief metaphor of social transformation: that is, social mobility, denoting alterations of status as movement from one social place to another." Der Reisende, der ein Schiff beispielsweise in Liverpool betrat, war somit nicht derselbe, unveränderte Mensch, die Monate später in Melbourne an Land ging. Dennoch eignen sich Schiffszeitungen nicht dazu, Veränderungen und Transformationen der Akteure durch die Überfahrt nachzuweisen, da sie ausschließlich über die Passage, die Zeit im Transit selbst berichten. Dementsprechend geben sie nur selten Auskunft darüber, wie sich die einzelnen Akteure vorher und nachher, das heißt auf dem Festland, verhalten haben und wie sich ihre Transiterfahrung langfristig auf ihr Leben und ihren weiteren Werdegang ausgewirkt hat. Transitorte und Transiträume Was ist der Raum, in dem Transit ›stattfindet‹ und welche Räume werden bei einem Transit durchquert? Ein dynamischer Raumbegriff ist nach dem spatial turn der letzten Jahrzehnte weder aus den Geschichtswissenschaften noch aus anderen Disziplinen wegzudenken. Da die menschlichen Sinne uns primär mit Informationen zu unserer geographischen Position und der geographischen Position anderer versorgen, ist diese Art des Raumes zunächst besonders präsent. Der geographische Raum ist jedoch nicht die einzige Art von Raum, die existiert. Raum kann ebenso als die Summe der Verbindungen zwischen Akteuren und Objekten verstanden werden, sodass nicht nur ein Raum, sondern so unendlich viele Räume, wie es Verbindungen gibt, existieren. Der absolute Raumbegriff wird somit aufgebrochen und dynamisiert, was in der deutschsprachigen Forschung besonders prominent von Martina Löw vertreten wurde. Michel de Certeau hat diese Erkenntnis früh auf eine griffige Formel gebracht: "L'espace est un lieu pratiqué." Peter Sloterdijk definiert "Transit-Räume im engeren und weiteren Sinn des Wortes" als "Orte, an denen Menschen zusammenkommen, ohne jedoch ihre Identität an die Lokalität binden zu wollen oder zu können." Auffällig ist hier die Ungenauigkeit, nicht zwischen Raum und Ort zu unterscheiden, die schon andeutet, dass Transit-Orte zu Transit-Räumen werden können: Wenn nach Certeau ein Ort durch Handlung(en) zum Raum wird, dann ist ein Transit-Raum das, was entsteht, wenn konkrete Transit-Orte ihren Zwecken entsprechend genutzt werden. Ein Transit-Raum kann dementsprechend mehrere Transit-Orte umfassen: bei den Passagen, die in dieser Studie untersucht werden, nicht nur den Abfahrtshafen, das Schiff und den Zielhafen, sondern sämtliche Orte, die während und für den Transit genutzt werden, also beispielsweise bei einer Weiterreise auch ein Zug. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Transit-Orte Durchgangsorte sind, an denen sich Menschen zwar aufhalten, aber an denen sie nicht verbleiben.
Erscheinungsdatum | 15.08.2018 |
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Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 143 x 216 mm |
Gewicht | 346 g |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeine Geschichte |
Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte | |
Sozialwissenschaften ► Kommunikation / Medien ► Buchhandel / Bibliothekswesen | |
Schlagworte | Globalgeschichte • Kommunikation • Medien • Meer • Meere • Ozean • Ozeane • Schiffahrtsgeschichte • Schifffahrt • Schiffszeitungen • Zeitungen |
ISBN-10 | 3-593-50949-0 / 3593509490 |
ISBN-13 | 978-3-593-50949-5 / 9783593509495 |
Zustand | Neuware |
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