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Tausche Wohnung gegen BahnCard (eBook)

Vom Versuch, nirgendwo zu wohnen und überall zu leben
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490227-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tausche Wohnung gegen BahnCard -  Leonie Müller
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Die vermutlich bekannteste Bahnfahrerin der Welt: Zugnomadin Leonie Müller berichtet von allem, was sie in ihrem abenteuerlichen Jahr auf der Schiene herausgefunden hat Seit Leonie Müller ihre Wohnung aufgegeben hat, pendelt sie durch ganz Deutschland. Statt aufregende Reiseabenteuer nur an wenigen freien Tagen im Jahr zu erleben, schafft es die Studentin, dass sich sogar die Wartezeit auf verspätete Züge anfühlt wie eine Pause vom Alltag. In 'Vom Versuch, nirgendwo zu wohnen und überall zu leben' lässt sie uns an ihren klugen Gedanken teilhaben: Sie erzählt davon, wie es ist, wenn alles, was man braucht, in einen 40-Liter-Rucksack passt. Sie fragt sich, was Heimat in unserer multilokal lebenden Gesellschaft eigentlich noch bedeutet. Wie fühlt es sich an, dauerhaft unterwegs zu sein? Wo ist eigentlich Zuhause? Warum hat der Begriff 'Heimat' eigentlich immer noch keinen Plural? Und wo ist der Ernst des Lebens so plötzlich hergekommen und wie schicken wir ihn wieder dahin zurück? 'Das Land da draußen, das sonst in Da-würd-ich-gern-mal-wieder-hin-Städte und Für-ein-Wochenende-lohnt-sich-das-nicht-Orte eingeteilt war, erscheint auf einmal gar nicht mehr so weit weg. Bisher habe ich jede Reise, jeden Ausflug als eine Ausnahme verstanden, eine Ausnahme vom Alltag. Ist das nicht ziemlich komisch?'

Leonie Müller (geb. 1992) ist Studentin und Reisende. Frei nach dem Motto 'Wohnst du noch, oder lebst du schon?' hat sie ihre Wohnung gegen eine BahnCard 100 getauscht. Das traf auf riesiges Interesse. Heute ist Leonie Müller hauptsächlich in Köln, Bielefeld, Berlin und weiterhin in der Bahn zu Hause.

Leonie Müller (geb. 1992) ist Studentin und Reisende. Frei nach dem Motto "Wohnst du noch, oder lebst du schon?" hat sie ihre Wohnung gegen eine BahnCard 100 getauscht. Das traf auf riesiges Interesse. Heute ist Leonie Müller hauptsächlich in Köln, Bielefeld, Berlin und weiterhin in der Bahn zu Hause.

Kapitel 3 Ta-da


»Läuft bei dir!«

 

Es ist der vierte Tag meiner freiwilligen Lebensgemeinschaft mit der Deutschen Bahn. Nach dem Auszug am Freitag habe ich meinen Kram in den Familienkeller in Bielefeld gestellt, den restlichen Samstag in Stuttgart und den Sonntag in Köln verbracht. Jetzt ist es Montagmorgen, ich muss zum ersten Mal in diesem neuen Lebensabschnitt zur Uni, und ta-da: Die Lokführer streiken. Hesses Zauber wird mich dank sporadisch eingesetzter Ersatzzüge zwar fast problemfrei zur Uni nach Tübingen kommen lassen, mir aber keineswegs die genüsslich hämischen Kommentare aus meinem Umfeld ersparen, ob ich mir sicher sei, dass die Nummer mit dem Bahnwohnsitz wirklich so eine geniale Idee war.

 

Trotz des suboptimalen Anfangs meiner Wohnraumlosigkeit bin ich zuversichtlich, das richtige Abenteuer zur richtigen Zeit gewagt zu haben, und hopse enthusiastisch die letzten Stufen der Rolltreppe zum Gleis hoch. Kein stundenlanger Flug, kein Jetlag, kein Einreiseformular: Mein neuer Lebensabschnitt hat ungewohnt unspektakulär begonnen. Während sich der Kölner Bahnsteig mit genervten Pendlern und das bundesrepublikanische Internet mit »Sänk ju for traweling«-Posts füllt, strahlt die morgendliche Frühlingssonne mit mir um die Wette. Dass die Strecke von irgendwo über Stuttgart nach Tübingen in den kommenden drei Monaten noch meine Stammstrecke sein wird, bevor ich ab dem Herbst weniger Zeit in der Uni verbringen werde, ist mir irgendwie ziemlich egal. Das Gewusel aus Menschen, Stimmen und der Melodie der ständigen Lautsprecherdurchsagen verströmt den so geliebten und vermissten Hauch eines Abenteuers in mir, und wie ein Schneckenhaus schmiegt sich mein Rucksack an meinen Rücken. Das Schneckenhausgefühl, wie es meine Ma beim Campen mal nannte: die Freiheit, überallhin zu können, und die wunderbare Gewissheit, alles dabeizuhaben, was ich brauche. Und eben auch eine Menge Dinge nicht zu brauchen. Seit ich denken kann, habe ich dieses Gefühl genossen, und es jetzt bei dem dabeizuhaben, was mein neuer Alltag sein soll, fühlt sich so vertraut wie neu, so verrückt wie beruhigend gut an.

 

»Als Deutscher im Ausland steht man vor der Frage, ob man sich benehmen muss oder ob schon mal Deutsche da gewesen sind«, lautet ein Kurt Tucholsky unterstelltes Zitat. Mich im Vorteil wähnend, als Deutsche in Deutschland ja weiterhin als Einheimische getarnt zu sein, bringe ich unauffällig bei einer Zugbegleiterin das Geheimnis freier Sitzplätze in Erfahrung: Die ICE-Waggons mit der Zwanziger-Nummerierung würden zuerst mit Reservierungen gefüllt, dementsprechend seien die Dreißiger-Waggons meist leerer. Sofort winkt mich ein freier Fensterplatz zu sich, in den ich mich genüsslich fallen lasse. Ich klebe meine Nase ans Fenster und schicke meinen Blick den 400 Meter langen Zug entlang. Eins steht jetzt schon fest: Das ist definitiv der günstigste Quadratmeterpreis, den ich je bezahlt habe und bezahlen werde.

 

Unbeeindruckt von ihrer Sitzfläche hat es sich eine Taube auf dem Denkmal von Kaiser Wilhelm II. gemütlich gemacht. An ihr vorbei beginnt mein Zug gemächlich über die Hohenzollernbrücke zu rollen, unter mir glitzert der Rhein, auf der Brücke dort hinten entwickelt sich eine der jährlich 500000 Staumeldungen in Deutschland. Mein romantischer Ausblick wird jäh unterbrochen: Es klingelt. Auf Telefonieren im Zug, habe ich schon jetzt eigentlich so gar keine Lust, fühle mich durch die unbekannte Nummer aber unter Druck gesetzt, etwas Wichtiges verpassen zu können, und flüstere mit einem von Mr. Bean inspirierten, unmotivierten Gesichtsausdruck ein nuscheliges »Hallo?« in mein Handy. Das Gespräch dauert nicht lange: Es ist ein Telekom-Mitarbeiter, der mir als Erweiterung zu meinem kürzlich erworbenen Handyvertrag einen Festnetzanschluss verkaufen möchte. Ich erspare ihm die genauen Umstände meiner Absage und lege am Ende der Brücke dankend wieder auf. Den einzigen Festnetzvertrag, den ich brauche, habe ich schließlich schon in meiner Tasche.

 

Gleichermaßen zufrieden wie aufgeregt schaue ich mich zwischen den blauen Sitzen und bunten Koffern um: Das ist jetzt also mein rollender Lebensmittelpunkt. Ich krame mein Notizbuch aus meinem Rucksack und schreibe feierlich zum ersten Mal die Nummer meines Zuges in das Feld, in dem bisher immer die klassische Ortsangabe in Form eines Städtenamens stand. Das Land da draußen, das sonst in Da-würd-ich-gern-mal-wieder-hin-Städte und Für-ein-Wochenende-lohnt-sich-das-nicht-Ausflüge eingeteilt war, erscheint auf einmal gar nicht mehr so weit weg. Bin ich jetzt eine Nomadin? Irgendwie schon. Irgendwie auch nicht. War ich vorher sesshaft? Irgendwie schon. Irgendwie auch nicht. Bisher habe ich immer irgendwo gewohnt, weil man das halt so macht, und habe dementsprechend jede Reise, jeden Ausflug als eine Ausnahme verstanden, eine Ausnahme vom Alltag. Ein komischer Umstand: Spätestens seit Alex von Humboldt sämtliche sich gutversteckende Insektenarten Lateinamerikas aufgespürt hat, scheint das Unterwegs für uns nur noch Luxus oder notwendiges Übel zu sein, je nachdem ob wir in den Urlaub oder zur Arbeit fahren – eine Auszeit vom Alltag oder die volle Portion von ihm. Wir waren noch nie so viel unterwegs, sind noch nie so viel gependelt, umgezogen und in den Urlaub gefahren wie heutzutage, und gleichzeitig wohnt unserer restlichen Sesshaftigkeit die so tragische wie scheinbar unumgehbare Tatsache inne, dass wir aufhören, etwas akut interessant zu finden, sobald es vor unserer eigenen Haustür liegt. Keine Haustür mehr zu haben beziehungsweise eine, die ständig die Landschaft vor ihren Treppenstufen wechselt, dürfte ein guter Anfang sein, um das zu ändern.

 

Zwei philosophierend-verträumt aus dem Fenster geschaute und zwei Unitexte vorbereitende Stunden später verlässt mein mobiler Wohnsitz den letzten der übertrieben zahlreichen Tunnel zwischen Mannheim und Stuttgart und kreuzt die Brücke kurz dahinter. Ein vertrauter Wind weht durch die geschlossenen Zugtüren, und kurz streift mich das Stuttgart meiner Kindheit: Die ersten zwölf Jahre meines Lebens ging es von der Autobahn mit der markanten Lärmschutzmauer runter und um diese eine besondere Kurve, die abrupt in einer Ampel endet, dann entlang der großen Straße mit den Autohäusern und der größten Autowaschanlage der Welt in Richtung rundem Betonturm, an dem ein riesiger, blinkender Werbebildschirm den Weg markiert, über die Brücke über den Bahngleisen weiter in Richtung Innenstadt, zur Wohnung meiner Oma. Nach dem Abi in Bielefeld wollte ich unbedingt nach Stuttgart, in die Stadt meiner Großmutter väterlicherseits, in das Land, dessen Abkürzung meine zweitliebste Bundeslandabkürzung direkt nach MeckPomm ist. Den eigentlich komischen Namen der Stuttgarter U-Bahn-Haltestellen – Feuerbach, Botnang, Stöckach – wohnt eine Vertrautheit inne, wie sie nur Begriffe besitzen, die einem seit frühester Kindheit eingeredet haben, sie seien total normal. Zwischen den Häusern und Bäumen in Halbhöhenlage blitzt der metallische Aussichtsturm des Killesbergs hervor, eine weitläufige Parkanlage auf einem der Hügel, denen Stuttgart seine Kessellage verdankt. Ich sehe mich als Siebenjährige die steilen Kurven mit Inlinern runtersausen, mit achtzehn in den Osterferien zwischen steinernen Teichen und bunten Blumenbeeten fürs Abi lernen und während meines freiwilligen sozialen Jahres spätnachts an meinem 20. Geburtstag in angeheiterter Runde auf das historische Kinderkarussell klettern, um eine Runde auf der Giraffe zu drehen. Das typisch süddeutsche gell wird ohne Frage weiterhin in meinen sonst akzentfrei hochdeutschen Wortschatz eingepflegt sein, aber ob das Gefühl des Irgendwie-Angekommen-Seins in den nächsten Monaten bleiben wird, wenn Stuttgart von der Endstation meiner Reisen zum Zwischenhalt wird? Ich habe mich hier immer sehr wohl gefühlt, auch wenn es, das muss ich zugeben, in Baden-Württemberg praktisch unmöglich ist, sich wirklich zu integrieren: Wer hier hinzugezogen ist, und sei es nur von knapp hinter der Grenze des Bundeslandes, bleibt für die Einheimischen auf immer und ewig ein Reigeschmeckter, wie ein Kraut, das zwar vielleicht gut ins Rezept passt, aber eben nur in die moderne Version, nicht in die aus Uromas zerfleddertem Kochbuch, und Uromas zerfleddertes Kochbuch genießt hier einen sehr hohen Stellenwert. Irgendwie passt es ganz gut, dass Baden-Württemberg neben Sachsen das einzige Bundesland ist, das das unveräußerliche Menschenrecht auf die Heimat in seiner Verfassung festgehalten hat. Ein Artikel, der ursprünglich vor Vertreibung und Ausgrenzung schützen sollte, sich heutzutage aber bestimmt auch gut zur juristischen Argumentation für das gewünschte Recht auf Käsespätzle und Maultaschen jenseits der Landesgrenzen gebrauchen lässt. Ein wesentlicher Grund für die anhaltenden Spannungen zwischen Schwaben und Berlinern auf dem Prenzlberg?

 

Am Stuttgarter Hauptbahnhof, der unsinnigsten Großbaustelle seit es unsinnige Großbaustellen gibt, verlasse ich die mir jetzt schon liebgewonnene Bequemlichkeit des ICEs und begebe mich in einer Traube von Pendlern und einer kleinen Gruppe Asiaten auf den altbekannten Bahnsteig zum Regionalzug Richtung Tübingen. Zwei Semester lang habe ich mich gewundert, warum im Bummelzug Richtung schwäbische Provinz jeden, wirklich jeden Tag asiatische Touristen mit Fotoapparat und Einkaufstüten sitzen, denn in Schwaben gibt es zwar ein paar...

Erscheint lt. Verlag 23.5.2018
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte BahnCard • Deutsche Bahn • Generation mobil • Heimat • Miete • Reise • Reiseabenteuer • Studentin • Suche • Unterwegs zuhause • Wohnung • Zug • Zugfahren • Zuhause
ISBN-10 3-10-490227-5 / 3104902275
ISBN-13 978-3-10-490227-2 / 9783104902272
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