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Schattenmächte (eBook)

Wie transnationale Netzwerke die Regeln unserer Welt bestimmen
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
192 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43225-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schattenmächte -  Fritz R. Glunk
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Unter Ausschluss der Öffentlichkeit In der repräsentativen Demokratie ist es Aufgabe der Parlamente, Gesetze auszuarbeiten und zu verabschieden. Mittlerweile entwickeln transnationale Netzwerke jedoch viele globale Standards und Normen, die von den Parlamenten nur noch übernommen und in Gesetze überführt werden. Beispielsweise das International Accounting Standards Board (IASB): eine rein private Organisation, finanziert von den »Big Four«, den vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften KPMG, Deloitte, PricewaterhouseCoopers und Ernst&Young. Die von dem Board aufgestellten Regeln und Vorschriften, die sogenannten International Financing Reporting Standards (IFRS), werden von allen EU-Mitgliedsstaaten und über 90 weiteren Ländern übernommen (in der EU durch die Verordnung 1606/2002 als unmittelbar geltendes Recht). Durch diese Privatisierung der Entscheidungsprozesse wird die Demokratie entkernt. Niemand weiß, wie viele Gruppen dieser Art weltweit Regeln etablieren. Schätzungen gehen von mehr als 2.000 aus.

Fritz R. Glunk war nach dem Studium der Geschichte und der Germanistik von 1966 bis 1981 in der Auslandskulturpolitik tätig. Er ist Gründungsherausgeber des kulturpolitischen Online-Magazins >Die Gazette<. Zahlreiche Übersetzungen und Buchveröffentlichungen, darunter 1996 >Der gemittelte Deutsche< und 1999 >Dantes Göttliche Komödie<.

Fritz R. Glunk war nach dem Studium der Geschichte und der Germanistik von 1966 bis 1981 in der Auslandskulturpolitik tätig. Er ist Gründungsherausgeber des kulturpolitischen Online-Magazins ›Die Gazette‹. Zahlreiche Übersetzungen und Buchveröffentlichungen, darunter 1996 ›Der gemittelte Deutsche‹ und 1999 ›Dantes Göttliche Komödie‹.

Informalisierung


Wie entsteht ein Gesetz? Was Gottfried Benn von Gedichten sagte, gilt auch hier: Ein Gesetz entsteht nicht; ein Gesetz wird gemacht.

Jeder Schüler in Deutschland lernt den langsamen Weg der Gesetzgebung. Das Projekt wird meistens erst einmal öffentlich diskutiert; Bundestag, Bundesrat oder Regierung schlagen einen Text vor, unter Umständen werden Ausschüsse damit beschäftigt; es folgen drei Lesungen im Bundestag, Textänderungen sind möglich, in der dritten Lesung wird abgestimmt, bei Annahme muss – in bestimmten Fällen – auch der Bundesrat zustimmen; dem Bundeskanzler und dem Fachminister wird der Text zur Gegenzeichnung vorgelegt. Dann muss der Bundespräsident (nach Prüfung der Verfassungsmäßigkeit) das Gesetz »ausfertigen«. Nach seiner Unterschrift wird es im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Damit ist es in Kraft. Es ist ein formal kompliziertes Verfahren. Noch umständlicher verläuft der Weg in der europäischen Union: Hier haben nicht nur das EU-Parlament, sondern auch der Vermittlungsausschuss und selbstverständlich der Rat der EU starke Vetorechte; jeder von ihnen kann das Projekt zum Scheitern bringen.

Diese formalisierte Langsamkeit hat einen guten Zweck: den Rechtsstaat.

Die informellen Regulierungsgruppen, die »bodies«, kommen ohne diese demokratischen Mühseligkeiten aus. Hier bestimmen keine Verfassungen oder andere Formalitäten den Gang der Dinge. Die Öffentlichkeit wird über das Internet gelegentlich zwar pauschal informiert (das ist dann »Transparenz«), kann aber nicht mitbestimmen oder gar ein Veto einlegen. Zwischenbemerkung: Bei dieser Regulierungsaktivität der Wirtschaft verliert das Argument der Globalisierungskritiker, die neoliberale Wirtschaft strebe nach Deregulierung, an Gewicht. Die Wirtschaft gibt sich in den hier behandelten »bodies« fortwährend neue, den veränderten Umständen angepasste Regeln. Sie will gerade keine allgemeine Deregulierung, sondern möglichst ungestörte Selbstregulierung. Was sie will, sind eigene Regeln. Was sie nicht will, sind staatliche Regeln.

Die Regeln und Standards, in welchem Verpflichtungsgrad auch immer, die sich ein Wirtschaftsbereich gibt, betreffen nur auf den ersten Blick die Akteure selbst, noch nicht die Allgemeinheit. In Wahrheit aber werden hier Produktstandards vereinbart, die unmittelbar auf das Warenangebot durchschlagen. Die vereinbarten Standards gelten ja ausdrücklich als Vorschriften für die Produktion von Waren und Dienstleistungen, mit denen dann die Allgemeinheit auf dem freien Markt konfrontiert wird. Tendenziell sind alle diese Regeln nicht gerade Rechtsverletzungen, sehen aber »verdächtig«[24] nach Abweichungen vom geltenden geschriebenen Recht aus.

Schon lange kennen wir die Tendenz der Wirtschaft, das geltende Recht loszuwerden und lieber den selbst geschaffenen Regeln zu folgen, dann auch spezielle, auf ihre Interessen zugeschnittene Sondertribunale (sogenannte Schiedsgerichte) einzurichten. Der 1878 geborene Rechtsgelehrte Gustav Radbruch beobachtete hellsichtig, im Hinblick auf die modernen Investitionsschutzabkommen schier prophetisch, in der ersten Auflage seiner »Einführung in die Rechtswissenschaft« (1929) diese Entwicklung (das Zitat ist etwas länger, aber es lohnt die Lektüre):

»So erhofft der Kaufmann sich selber sein Recht, wo Gesetzesrecht schweigt oder seine Rechtssätze hinter abweichender Vereinbarung zurücktreten läßt. Aber auch zwingenden Rechtssätzen, die ihm unerwünscht sind, sucht er sich auf immer neuen Wegen, durch immer neue Versuche geschickt gefaßter Geschäftsbedingungen zu entziehen – und auf die Dauer hat sich sein wirtschaftliches Bedürfnis oft stärker erwiesen als der zwingende Rechtssatz. Unter diesen Gesichtspunkt gehört der gigantische Kampf, den der Handel gegen das Zinsverbot des kirchlichen Rechts geführt hat, um es schließlich zu überwinden. Hierher gehören auch Abbiegungen vom Wortlaut des geltenden bürgerlichen Rechts (…), eine Umbiegung des Rechts durch die Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens, die allmählich so stark geworden ist, daß gesetzgeberische Maßnahmen auf die Länge kaum zu vermeiden sein werden, um die damit eingetretene vielfältige Rechtsunsicherheit zu bekämpfen. ›Der Handelsverkehr‹, sagte das Reichsgericht (1923), ›der die Aufgabe hat, den stets wechselnden Lebens- und Wirtschaftsinteressen nicht nur einzelner Verbraucher, sondern ganzer Völker zu dienen, muß, wenn er sie in befriedigender Weise lösen soll, sich möglichst wenig beengt durch zwingende Rechtsnormen im wesentlichen nach seinen eigenen Regeln und Bedürfnissen entwickeln können.‹

Wenn also das Handelsrecht nahezu ›selbstgeschaffenes, autonomes Recht‹ des Handelsstandes ist, so liegt es für diesen nahe, sich zur Anwendung dieses autonomen Rechts auch eine autonome Rechtspflege zu schaffen. Der Handelsstand zeigt die Neigung, durch Vereinbarung der Entscheidung durch mit der Branche vertraute Schiedsrichter oder der Begutachtung durch Schiedsgutachter seine Rechtsverhältnisse und Rechtsstreitigkeiten der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte zu entziehen. Ganze Zweige des Handelsverkehrs werden durch solche Schiedsvereinbarungen der Kenntnis und dem Einfluß der ordentlichen Gerichte entrückt. Solche Schiedsverträge können zur Vergewaltigung des wirtschaftlich schwächeren Teils führen. (…)

Mehr als die Rechtssätze irgendeines anderen Rechtsgebietes sind diejenigen des Handelsrechts lebendes, nicht papierenes Recht, nicht aus den Gesetzen abzulesen, sondern nur im Rechtsverkehr zu beobachten. Mehr als in irgendeinem andern Rechtsgebiet zeigt sich im Handelsrecht sowohl das Ringen des Rechts mit dem Interesse wie die Einwirkung des Interesses auf das Recht, die begrenzte Gewalt der Norm über das Faktische und die letztendige Normatitivät des Faktischen – kurz das, was die ökonomische Geschichtsauffassung über das Verhältnis von Wirtschaft und Recht lehrt. Sie lehrt auch begreifen, daß in einem individualistischen Rechtszeitalter dem Handelsrecht die Pionierrolle für das gesamte Privatrecht zufallen muß.«[25]

 

Es ist bemerkenswert, mit welcher Genauigkeit Gustav Radbruch hier die Entwicklung nachgezeichnet und auf Jahrzehnte hinaus vorhergesehen hat: die allmähliche Hegemonie der Wirtschaft und die Privatisierung der Rechtsprechung.

Die Wirtschaftsverbände sind auf diesem Weg seit Radbruch wieder ein gutes Stück vorangekommen. Heute hat sich der Staat auf das Niveau der Unternehmen herabbegeben: Die Behörden sitzen mit den privaten Regel- und Standardsetzern an einem Tisch und kooperieren. Der Staat bestimmt nicht mehr, er gleicht aus. Er befiehlt nicht, er sucht den Deal. So gesehen, ist es geradezu naiv, immer noch so etwas wie »den Primat der Politik« zu fordern: Der Vorrang der Politik, noch bevor er überhaupt gefordert werden kann, ist von der Exekutive in »deals« und Kompromissen bereits erfolgreich unterlaufen.[26]

Zu diesem Erfolg seien für viele kurz zwei Beispiele skizziert.

1. Das erwähnte »International Accounting Standards Board« (IASB) wird in seiner globalen Wirkung im Allgemeinen weit unterschätzt. Es ist eine rein private Organisation und gehört einer Stiftung, der »International Accounting Standards Committee Foundation« in Delaware; sie wird finanziert von den »Vier Großen« Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (PricewaterhouseCoopers, KPMG, Deloitte Touche Tohmatsu Ltd. und Ernst&Young). Die Mitglieder sind, weltregional ausgewogen, vor allem ehemalige leitende Mitarbeiter nationaler Finanzaufsichtsbehörden, aber auch privater Unternehmensberatungen. Die von dem Board aufgestellten Regeln und Vorschriften, die sogenannten »International Financing Reporting Standards« (IFRS), werden von allen EU-Mitgliedsstaaten und über 90 weiteren Ländern übernommen (in der EU durch die Verordnung 1606/2002 als unmittelbar geltendes Recht).[27] Trotz komplizierter Abstimmungsversuche hatten zeitweise die USA eigene Regeln, die »Generally Accepted Accounting Principles« (US-GAAP), faktisch durchgesetzt. In Deutschland sind nach alldem wesentliche Bestimmungen des Handelsgesetzbuchs nicht mehr gültig; stattdessen gelten nun die Vorschriften des IASB (seit 2005 müssen börsennotierte Unternehmen in ganz Europa ihren Konzernabschluss nach dessen Standards und Regeln erstellen).

Dabei hat sich eine folgenreiche Verschiebung ergeben: »Im Kern unterscheiden sich die Rechnungslegungssysteme darin, welche Informationen der Jahresabschluss eines Unternehmens den unterschiedlichen Gruppen im weiten Feld der Stakeholder geben soll. Das eher traditionelle HGB-Modell hat vor allem das Interesse der Firma selbst im Blick, das durch eine vorsichtige Ermittlung des Gewinns den Abfluss von Mitteln an die Anteilseigner (und an die Finanzämter), während das US-GAAP-Modell vor allem darüber informiert, wie sich die Gewinnentwicklung des Unternehmens aus der Sicht der Investoren entwickelt.«[28]

Die Entwicklung führt zwar zu einer grundsätzlich willkommenen Vergleichbarkeit der Finanzberichte, ist aber ein Beispiel privater Rechtsetzung unter Beihilfe staatlicher Behörden. Der Widerspruch z. B. aus dem EU-Parlament ist gewaltig: In der Finanzkrise hätten IASB-Bewertungsmaßstäbe »als Brandbeschleuniger...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Demokratie • Deutschland • Gesetzgebung • IASB • Interessenvertreter • Lobbyismus • Lobbyisten • Parlament • Politik
ISBN-10 3-423-43225-X / 342343225X
ISBN-13 978-3-423-43225-2 / 9783423432252
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