Auf versunkenen Wegen (eBook)
192 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-21729-7 (ISBN)
Verfilmt mit Oscar-Preisträger Jean Dujardin unter dem Titel »Auf dem Weg«.
Mitten in Europa existiert es noch: unberührtes verzaubertes Land. Das verborgene, urtümliche Frankreich durchwandert der Abenteurer Sylvain Tesson vier Monate lang, von den südlichen Alpen über das Zentralmassiv bis zu den sturmumtosten Klippen von La Hague.
Nach einem schlimmen Unfall wählt er das Laufen anstelle der Reha-Klinik, biwakiert im Wald und lässt sich von Steinkäuzen in den Schlaf singen, unterhält sich mit wortkargen Landbewohnern und bahnt sich durch dorniges Gestrüpp einen Weg zurück ins Leben.
Sylvain Tesson ist Gewinner des ITB BuchAward 2024 in der Kategorie »Lifetime Award« für sein bisheriges Werk, insbesondere für die Titel »In den Wäldern Sibiriens« und »Auf versunkenen Wegen«.
Sylvain Tesson, geboren 1972 in Paris, ist Geograf, Schriftsteller, Filmemacher und ein großer Reisender. Er fuhr mit dem Fahrrad um die Welt und unternahm monatelange Expeditionen - zu Fuß durch den Himalaja und von Sibirien nach Indien, auf dem Pferd durch die Steppen Zentralasiens, auf dem Motorrad von Moskau nach Paris, auf Skiern von Menton bis Triest über die gesamte Alpenkette. Seine Erlebnisse in sechs Monaten allein in einer Hütte am Baikalsee schilderte er in seinem Buch »In den Wäldern Sibiriens«. Für seine Reisebeschreibungen und Essays wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix Goncourt de la nouvelle und dem Prix Médicis. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller »Der Schneeleopard« und »Weiß«.
Im Zug
Warum fuhr der TGV mit solcher Geschwindigkeit? Wozu so schnell reisen? Die Absurdität, eine Landschaft mit 300 Stundenkilometern an sich vorbeifliegen zu sehen, durch die man anschließend monatelang zu Fuß wieder zurückwandert! Während die Geschwindigkeit die Landschaft verjagte, dachte ich an die Menschen, die ich liebte, und an sie zu denken fiel mir erheblich leichter, als ihnen meine Liebe zu zeigen. Tatsächlich zog ich es vor, an sie zu denken, statt sie zu besuchen. Sie wollten immer, »dass wir uns sehen«, als wäre das ein Gebot, wohingegen ich in Gedanken auf so schöne Weise bei ihnen sein konnte.
24. August, an der italienischen Grenze
Es war mein erster Tagesmarsch, ich startete am Bahnhof von Tende, wohin mich der Zug aus Nizza gebracht hatte. Mit schwachem Schritt stieg ich zum Pass hinauf. Strohgelbe Gräser streichelten die Abendluft. Ihre Verbeugungen waren ein erstes Bild von Zuneigung, von unverfälschter Schönheit. Nach diesen trostlosen Monaten stellten selbst die kleinen, in der Sonne tanzenden Mücken ein glückliches Vorzeichen dar. Ihre Wolke im goldwarmen Licht setzte ein Zeichen in der Abgeschiedenheit. Man hätte glauben können, sie bildeten einen Schriftzug. Wollten sie uns vielleicht sagen: »Hört auf mit eurem totalen Krieg gegen die Natur!«
Kiefern standen streng am Wegrand. Ihre Wurzeln umschlossen kleine Erdhügel – der Baum sieht oft so aus, als wisse er genau, was sein gutes Recht ist. Mit weitaus kühnerem Schritt als meinem kam mir ein Schäfer entgegen; knorrig tauchte er in einer Kurve auf, mit dem Tempo eines Helden von Giono. Ein Mann aus der Gegend. Ich sah noch immer aus wie ein Kerl aus einer anderen Welt.
»Tag, gehst du in die Stadt?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete er.
»Ist die Herde da oben?«
»Nein.«
»Kommst du zum Schlafen herunter?«
»Nein.«
Ich würde mir abgewöhnen müssen, wie bei Städtern üblich ein Gespräch anbahnen zu wollen.
Der Col de Tende ist ein Bergsattel auf dem Gebirgskamm des Nationalparks Mercantour. Er trennt Italien von Frankreich. Ich hatte beschlossen, in der südöstlichen Ecke des Landes zu beginnen und bis zur Nordspitze der Halbinsel Cotentin zu wandern. Bei den Russen ist es Tradition, sich vor Antritt einer Reise einige Sekunden auf einen Stuhl, einen Koffer oder den ersten Stein am Weg zu setzen. Sie schaffen eine Leere in sich, denken an die Menschen, die sie verlassen, sorgen sich, ob sie den Gashahn zugedreht haben, die Leiche versteckt – was weiß ich. Ich setzte mich also hin wie ein Russkoff und lehnte den Rücken an eine kleine, hölzerne Kapelle, in der eine Jungfrau mit Blick auf die italienische Seite Andacht hielt. Dann stand ich entschlossen auf und machte mich auf den Weg.
Für meine beschädigten Augen sahen die Kühe an den Bergflanken aus wie runde Steine, die auf die Hänge gerollt waren. Die struppigen Wipfel der Schwarztannen erinnerten an die Hügel, die mit ihren Zinnen die Horizonte des blauen Yunnan in China säumen, wo ich mit zwanzig gewesen war. Doch ich verscheuchte diese Gedanken in der Abendluft. Dieser Wust von Ähnlichkeiten war mir eine Last.
Hatte ich mir nicht geschworen, mich einige Monate lang an Pessoas Gebot aus seinen heidnischen Gedichten zu halten:
Von der Pflanze sag’ ich: »Es ist eine Pflanze«,
Von mir sag’ ich: »Ich bin ich.«
Mehr sage ich nicht. Was gäbe es weiter zu sagen?
Oh, ich hatte den Verdacht, dass Pessoa, der Unruhige, seinem Vorhaben niemals treu gewesen war. Wie kann man glauben, dass es ihm gelungen wäre, sich mit der Welt zufriedenzugeben? Man schreibt solche Manifeste, und dann bringt man sein Leben damit zu, die eigenen Theorien zu verraten. In den Wochen dieser Wanderschaft wollte ich versuchen, den kristallenen Blick ohne die Gaze der Analyse und den Filter der Erinnerungen auf die Dinge zu lenken. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich gelernt, aus der Natur und den Lebewesen ein Notizblatt zu machen, auf dem ich meine Eindrücke festhielt. Jetzt war es höchste Zeit für mich zu lernen, die Sonne zu genießen, ohne Madame de Staël herbeizurufen, den Wind, ohne Hölderlin zu rezitieren, und den kühlen Wein, ohne Falstaff auf dem Grund des Glases plätschern zu hören. Kurz, zu leben wie einer dieser Hunde: Mit heraushängender Zunge genießen sie die Ruhe und sehen dabei aus, als würden sie gleich den Himmel, den Wald oder das Meer und sogar den hereinbrechenden Abend verschlingen. Das Vorhaben war, wohlgemerkt, zum Scheitern verurteilt. Ein Europäer kann nicht aus seiner Haut.
In zweitausend Meter Höhe erblickte ich eine flache, mit Gras dicht bewachsene Stelle bei einem Betonbunker. Ich zündete ein Feuer an. Das Holz war feucht, und ich blies so sehr in die Glut, dass sich in meinem eingedrückten Kopf alles drehte. Die Wärme lockte fette Spinnen aus ihren Verstecken; sie machten mir keine Angst mehr, ich hatte viele aus meinen Augenhöhlen fliehen sehen. Das Biwakzelt schützte mich wenig vor den nassen Wolken, die die Dunkelheit ausspuckte. Ich war eingeschüchtert, es war die erste Nacht, die ich seit meinem Sturz im Freien verbrachte. Ich spürte wieder den Boden unter mir – dieses Mal weniger brutal. Endlich kehrte ich in meinen geliebten Garten zurück: ein Wald unter dem Sternenhimmel. Die Luft war kühl, der Boden uneben, das Gelände abschüssig: Es fing gut an. Nächte im Freien müssen, vorausgesetzt, man findet Gefallen an ihnen und sie kommen nicht unverhofft, an der Tafel der Eroberungen als Krönung der Marschtage angezeigt werden. Sie nehmen den Deckel von uns, erweitern die Träume. Rief man jetzt nicht überall in Europas Städten nach Luft? Luft! Als ich ein Jahr zuvor im Krankenhaus lag, hatte ich davon geträumt, mich unter Tannen auszustrecken. Jetzt kehrte die Zeit des Biwakierens zurück.
25. August, im Roya-Tal
Die Nacht war merkwürdig gewesen. Es hatte gegen elf Uhr angefangen. Zwei- oder dreihundert Meter entfernt ertönte ein Schuss, dann ein zweiter, dann folgten Detonationen im Minutenabstand und hörten nicht auf. Manchmal schmolz der Abstand auf dreißig Sekunden. Wer schoss da in der Nacht? Ein verrückter orthodoxer Mönch, der etwas gegen die Dunkelheit hatte?
Während ich die ersten Schritte machte, dachte ich, dass ich ins normale Leben zurückkehren würde, wenn mir die Durchquerung Frankreichs gelänge. Sollte ich es nicht schaffen, würde ich meine Niederlage als Rückfall ansehen. Die Aussicht auf Genesung lag in weiter Ferne! So weit entfernt wie das Cotentin! Ich setzte auf die Bewegung, sie sollte mein Heil sein.
Am Morgen entdeckte ich in einer Mulde eine Schäferei. Eine faltenlose, rosige Frau mit den dicken Backen einer Flämin und nackten Bizepsen machte sich auf der Schwelle zu schaffen. Sie war einem Bild von Bruegel entsprungen und kam vom Melken.
»Ich habe heute Nacht Schüsse gehört«, sagte ich.
»Das ist eine mit Gas betriebene Schießanlage, um den Wolf zu vertreiben. Peng! Peng!«, meinte sie.
»Ach, ja?«
»Was willst du?«, fragte sie.
»Was es gibt.«
»Käse aus Kuhmilch. Trocken.«
»Dreihundert Gramm. Macht es den Wölfen Angst?«
»Möglich. Drei Euro.«
Die Dinge waren wirklich schiefgelaufen. Die Menschen hatten sich stark vermehrt, sie hatten sich in der Welt ausgebreitet, hatten den Boden zementiert, die Täler in Beschlag genommen, die Hochebenen besiedelt, die Götter getötet, die wilden Tiere niedergemetzelt. Sie hatten über Generationen hinweg ihre Kinder und Herden hochgezüchteter Wiederkäuer auf das Land losgelassen. Eines Tages vor dreißig Jahren kehrte der Wolf über die Abruzzen in den Nationalpark Mercantour zurück. Ein paar Klugscheißer hatten sich in den Kopf gesetzt, ihn zu schützen. Die Schäfer waren darüber wütend, denn die Anwesenheit eines Raubtiers zwang sie, ihre Schafe besser zu hüten. »Die Freunde des Wolfs schlafen in den Städten im Warmen«, hatten sich die Schafzüchter beklagt. Jetzt mussten auf den Almen Maschinen installiert werden, die Schüsse nachahmten, um die Wiederkäuer vor dem in seinen Lebensraum zurückgekehrten Raubtier zu schützen. Wenn ich ein Wolf wäre, würde ich denken: »Der Fortschritt? Eine Farce!«
26. August, Abstieg aus dem Nationalpark Mercantour
Es wurde bereits dunkel und ich schleppte mich weiter. Im Augenblick lief es nicht besonders gut. Drei Tage über Geröll, und mein Rücken war schon Kleinholz. »Was bringt es, diesen zerfledderten Leib bis in den Norden eines ruinierten Landes zu schleppen?«, fragte ich mich, während ich dabei zusah, wie zwei Gämsen, eine Mutter und ihr Sohn, in einem Felsenmeer herumtollten. Gab es außer mir noch viele, die Tiere beneideten? Das Kitz war mir hinter einem Fels vor die Beine gerannt. Es hatte ein oder zwei Sekunden gezögert. Im 18. Jahrhundert kamen auf den unbewohnten Inseln die wilden Tiere zu den ersten Entdeckern und fraßen ihnen aus der Hand, bevor sie zur Feier ihrer Begegnung mit dem Menschen die Muskete kennenlernten. Der kleine Gamsbock hatte allerdings einen heilsamen Befehl befolgt und auf dem Absatz kehrtgemacht, denn er hatte verstanden, dass ich kein empfehlenswerter Umgang war.
Ich hatte einen Wasserfall überquert, der in Kaskaden durch das Moos talwärts floss, war an einem grünen See entlanggegangen und wieder die Hänge hinaufgestiegen. Ich passierte nördlich den Mont Bégo, den die Geister der...
Erscheint lt. Verlag | 4.9.2017 |
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Übersetzer | Holger Fock, Sabine Müller |
Zusatzinfo | mit Bildteil |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Sur les chemins noirs |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-641-21729-6 / 3641217296 |
ISBN-13 | 978-3-641-21729-7 / 9783641217297 |
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