Die unfassbare Tat
Campus (Verlag)
978-3-593-50726-2 (ISBN)
Nach einem Amoklauf ist in den Medien schnell von einer "unfassbaren Tat" die Rede, eine geradezu ritualisierte Berichterstattung setzt ein. Sie ist, so der Soziologe Jörn Ahrens, eine Reaktion auf den Kontrollverlust, den ein Amoklauf für eine Gesellschaft bedeutet. Tatsächlich muss man sogar von einem doppelten Kontrollverlust sprechen: aufseiten der Gesellschaft und aufseiten des Täters. Denn es bedarf immer einer Gelegenheit zur Gewalttat und der Bereitschaft zu ihr. Dieses Buch untersucht, wie Gesellschaften auf Taten reagieren, bei denen exzeptionelle Gewalt angewendet wird, die prominent im öffentlichen Raum verübt werden und das gesellschaftlich akzeptierte Ausmaß an Regelverletzungen überschreiten. Es zeigt außerdem, wie das Vertrauen in die Sicherheit der Lebenswelt wiederhergestellt wird. Der Autor geht diesen Aspekten anhand der öffentlichen Reaktionen auf vier Amokläufe in Deutschland nach - und entwirft zugleich eine Soziologie der Gewalt.
Amok: Erfurt, Emsdetten, Winnenden, Lörrach ...Nach einem Amoklauf ist in den Medien schnell von einer "unfassbaren Tat" die Rede, eine geradezu ritualisierte Berichterstattung setzt ein. Sie ist, so der Soziologe Jörn Ahrens, eine Reaktion auf den Kontrollverlust, den ein Amoklauf für eine Gesellschaft bedeutet. Tatsächlich muss man sogar von einem doppelten Kontrollverlust sprechen: aufseiten der Gesellschaft und aufseiten des Täters. Denn es bedarf immer einer Gelegenheit zur Gewalttat und der Bereitschaft zu ihr. Dieses Buch untersucht, wie Gesellschaften auf Taten reagieren, bei denen exzeptionelle Gewalt angewendet wird, die prominent im öffentlichen Raum verübt werden und das gesellschaftlich akzeptierte Ausmaß an Regelverletzungen überschreiten. Es zeigt außerdem, wie das Vertrauen in die Sicherheit der Lebenswelt wiederhergestellt wird. Der Autor geht diesen Aspekten anhand der öffentlichen Reaktionen auf vier Amokläufe in Deutschland nach - und entwirft zugleich eine Soziologie der Gewalt.
Jörn Ahrens ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Gießen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen der Gewalt und der Subjektivität, populäre Medien und Kulturen sowie Gesellschaftsund Kulturanalyse der Moderne.
Inhalt
?1.Einleitung 7
?2.Amok: Begriffsgeschichte 29
?3.Methode 49
?Exkurs: Mediengesellschaft 65
?4.Zur Vergesellschaftung von Gewalt 73
?Exkurs: Extreme Gewalt 97
?5.Der Amoklauf als eine Form extremer Gewalt 107
?Exkurs: Gesellschaft und Angst 131
?6.Gesellschaftliche Normalität, Narration, Amoklauf 141
?7.Fallanalysen: Gesellschaftlicher Umgang mit Amokläufen 169
?8.Gesellschaft und Amoklauf 289
?9.Fazit 309
Literatur 317
»[Es] zeigt sich, wie routiniert und professionell der Umgang von Medien und Politik mit dem Phänomen seither geworden ist: Experten sind auf Basis noch dürftiger Informationen mit Ferndiagnosen zur Hand; Politiker befriedigen das Bedürfnis, Schuldige und Verantwortliche zu benennen. Je nach Couleur können das Sportschützenvereine sein, die Computerspielindustrie oder sogar der Neoliberalismus.« Oliver Pfohlmann, SWR2 Lesenwert, 22.01.2018»[Ahrens'] Buch ist die Erzählung darüber, wie die Gesellschaft sich einen Amoklauf nacherzählt, um mit dieser Tatsache weiterleben zu können. [...] Es ist ein kultursoziologisches Fachbuch. Und genau als solches wird es hier empfohlen.« Bodo Morshäuser, Deutschlandfunk Kultur, 03.06.2017
»[Es] zeigt sich, wie routiniert und professionell der Umgang von Medien und Politik mit dem Phänomen seither geworden ist: Experten sind auf Basis noch dürftiger Informationen mit Ferndiagnosen zur Hand; Politiker befriedigen das Bedürfnis, Schuldige und Verantwortliche zu benennen. Je nach Couleur können das Sportschützenvereine sein, die Computerspielindustrie oder sogar der Neoliberalismus.« Oliver Pfohlmann, SWR2 Lesenwert, 22.01.2018
»[Ahrens'] Buch ist die Erzählung darüber, wie die Gesellschaft sich einen Amoklauf nacherzählt, um mit dieser Tatsache weiterleben zu können. […] Es ist ein kultursoziologisches Fachbuch. Und genau als solches wird es hier empfohlen.« Bodo Morshäuser, Deutschlandfunk Kultur, 03.06.2017
1.Einleitung Der Amoklauf ist Ausdruck eines Kontrollverlusts. Wo und wann immer ein Amoklauf möglich wird, zeigt sich, dass eine Gesellschaft nicht in der Lage ist, ihre Individuen hinreichend an normative Konventionen und bestehende Ordnungsmuster zu binden. Aus der Sicht von Vergesellschaf-tung heißt das, es liegt ein Mangel an Kontrolle der Individuen vor. Gleichzeitig verweist der Amoklauf auf ein enormes Defizit an Selbstkon-trolle beim Täter, der sich offensichtlich von den üblichen Regeln zivilisatorischen Verhaltens verabschiedet hat, die vor allem die affektive und normative Selbstkontrolle betreffen. Auf die Problematik eines "doppelten Kontrollverlusts" hat Wilhelm Heitmeyer bereits 2009 in einem Interview nach dem Amoklauf von Winnenden hingewiesen: "Der Kontrollverlust bei den Tätern besteht im Anerkennungszerfall und damit im Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. Auf der gesellschaftlichen Seite gibt es einen Kontrollverlust, weil zwar vielfältige Hintergrundkonstellationen bekannt sind, es aber keine Kenntnisse über die situativen Auslöser gibt, sodass die Verhinderung kaum gelingt" (Heitmeyer 2009b). Heitmeyer platziert den Modus des Kontrollverlusts zwischen einer Desintegration des Selbst, einem Scheitern der Subjektwerdung in seinem gesellschaftlichen Umfeld und einer fehlenden Kompetenz der Gesellschaft, beängstigende Gewalttaten nach dem Muster von Amokläufen erfolgreich einzuhegen. Deutlich wird damit, und das formuliert die Ausgangsdiagnose dieses Buches, dass Gewalt im Stil von Amokläufen viel weniger ein individuelles, also auch personenzentriert zu untersuchendes Problem ist, sondern ein gesellschaftliches. Dieses Buch interessiert sich vor allem für die Frage, wie Gesellschaften auf Taten reagieren, in denen ein Höchstmaß an Gewalt angewandt wird, die sichtbar im öffentlichen Raum verübt werden und das gesellschaftlich akzeptierte Normalitätssoll von Regelverletzungen weit überschreiten. Diesen Zusammenhang untersuche ich am Beispiel sogenannter Amokläufe. Diese Taten werden zwar als exzeptionelle Handlungen beschrieben, die das den lebensweltlichen Alltag garantierende Normalitätssoll aufsprengen, doch werden sie keineswegs zwingend gesellschaftlich so wahrgenommen. Das leitende Interesse der folgenden Studie richtet sich daher nicht primär auf das Phänomen der Amokläufe selbst, also auf ihre Charakteristik als spezifische Gewalttaten oder auf die ohnehin in aller Regel nur schwerlich rekonstruierbaren Charakterprofile und Motive der Täter. Vielmehr nimmt sie die Rezeption solcher Taten in den Blick, fragt, wie diese verläuft und welche gesellschaftlichen Strategien im Umgang damit entwickelt werden. Denn in der Tat ist es ja so, dass, wie Heitmeyer betont, "die Einordnung solcher Massaker durch Öffentlichkeit und Politik immer wieder typischen rituellen Erklärungsmustern [folgt], sodass die Kontrollverluste überdeckt werden" (2009b). Die Frage ist deshalb, welcher produktive Nutzen für laufende Vergesellschaftungspraktiken sich aus solchen Ritualisierungen ableiten lässt und weshalb die Verdeckung des doch recht offensichtlichen Kontrollverlusts für die Gesellschaft bedeutsam ist. Heitmeyers Beobachtung, es gehe dabei um eine Stilisierung der infrage stehenden Verbrechen zum "quasi übernatürlichen Ereignis" oder aber um dessen Pathologisierung, teilt diese Studie und beabsichtigt, am Beispiel des Amoklaufs diesen Vorgang nachzuzeichnen (Kapitel 7). Genauso ist Heitmeyer in der These beizupflichten, Ziel des öffentlich geführten Diskurses zum Amok sei es, "gesellschaftlich entlastende Deutungen" zu produzieren, um "schnell wieder ›Normalität‹ herzustellen: Gegen eine ›Heimsuchung‹ kann man nichts tun, weil sie schicksalhaft ist. Und pathologische Täter können von einer ansonsten angeblich intakten Gesellschaft isoliert werden" (2009b). Dieses Verfahren der Normalisierung wird im Folgenden im Mittelpunkt stehen und leitet das Interesse dieser Studie. Im Kern befasst sie sich mit dem gesellschaftlichen Bemühen um die Rückholung der Normalität in einer Situation, die sich jenseits alle Parameter einer gesellschaftlichen Normalität katapultiert sieht. Der Amoklauf setzt zwei Dinge voraus: Erstens braucht es die Gelegenheit zur Gewalttat. Eine Aktion wie der Amoklauf muss möglich sein können. Dazu bedarf es einer sozialen Situation und eines - nicht intim codierten - Ortes, an dem die brutale Ausübung von Gewalt eines einzelnen Menschen gegen andere Menschen erstens ohne größere Probleme umsetzbar ist und zweitens auch nach außen sichtbar wird. Um seinen Verlust in Sachen Selbstkontrolle umfassend ausleben zu können, braucht der Täter also vor allem eins, nämlich ein für ihn sicheres Tatumfeld - eines, das nicht sonderlich gesichert ist und das für sein Vorhaben erfolgversprechend wirkt. Auf den Aspekt der mangelnden Selbstkontrolle am Amoklauf verweist auch Andreas Prokop und hebt die verblüffende Diskrepanz zu den ansonsten "gut vorbereiteten extremen, amokartigen Gewalttaten unserer Zeit" hervor (2016: 93). Vorzugsweise finden Amokläufe an ungesicherten Orten statt: Schulen, Kindergärten, öffentliche Plätze und Straßen, Kinos, Einkaufszentren. Orte, an denen die Menschen, die sich dort tummeln, normalerweise eine ganze Menge erwarten, aber ganz sicher nicht, Opfer einer ungehemmten Gewaltattacke zu werden. Zweitens bedarf es der Bereitschaft zur Gewalttat. Wie jede Handlung ist auch der Amoklauf immer Ergebnis einer Entscheidung. Jemand entscheidet sich dazu, an einem bestimmten Ort mit bestimmten Mitteln eine unbestimmte Anzahl an Menschen anzugreifen und, wenn möglich, sogar zu töten. Der Amoklauf braucht eine entsprechende Infrastruktur und Logistik, er muss vorbereitet sein - ob sich das nun über einen langen oder über einen kurzen Zeitraum erstreckt, ist zunächst unerheblich. Immerhin ist das Klischee vom, auch für den Täter selbst eruptiven Tatausbruch, nach wie vor so verbreitet, dass Jens Hoffmann und seine Koautoren noch 2009 von einem "planenden Gewaltmodus" sprechen und meinen, insbesondere der Umstand, dass die "meisten Täter während der Tatdurchführung ruhig und konzentriert wirkten", widerspreche dem "fragwürdigen Stereotyp des Amoklaufes als Spontantat" (2009: 198). Auf die individuelle Bedeutung gerade des Planungsaspekts weisen Jack Levin und Eric Madfis hin, die meinen, da es sich beim Amoklauf um einen letzten Akt der Selbstbehauptung seitens der Täter handele, sei es auch in deren Interesse, die Tat gut geplant und ausführbar anzugehen (2009: 1237). Erheblich ist deshalb vielmehr, dass, um Vorbereitungen für die erfolgreiche Durchführung eines Amoklaufs treffen und die Tat anschließend auch konsequent umsetzen zu können, jemand den Entschluss fassen muss, so ziemlich alles an ethisch-moralischen Mi-nimalstandards aufzugeben, was nicht nur in Ausnahmefällen, sondern insbesondere in jeder möglichen Alltagssituation zur normalen Ausstattung an mitmenschlichem Verhalten gehört. Wer einen Amoklauf begeht, muss sich, wie übrigens jeder Massenmörder (aber deshalb ist das Ganze nicht weniger spektakulär), entscheiden, ein Mörder an weitgehend fremden Menschen zu werden. So gesehen folgt jeder sogenannte Amoklauf einer Intention, mag diese für den Rest der Gesellschaft auch noch so wenig nachvollziehbar bleiben. Zunächst wenig verwunderlich, richtet sich deshalb sowohl das öffentliche (inklusive des politischen) als auch das wissenschaftliche Interesse an Amokläufen vor allem auf diese beiden Aspekte. Dabei steht die Frage im Vordergrund, woher die Tötungsbereitschaft der Täter kommt, die in aller Regel bis zur Tatausführung als ganz unbescholtene junge Männer galten. Die große Frage, die Wissenschaft und Öffentlichkeit gleichermaßen bewegt, ist also die, wie jemand zum Massenmörder wird, obwohl eigentlich alle Voraussetzungen dafür vorliegen, dass genau dies nicht passiert. Eng damit verbunden ist die Frage danach, wie soziale Orte aussehen müssen, damit solche Gewalttaten nicht wieder vorkommen. Müssen Schulen gesichert werden? Müssen Menschen kontrolliert werden? Beide Fragerichtungen zielen letztlich auf Praktiken der Prävention. Im Vordergrund steht die Frage danach, wie sich massive Gewalttaten, wie sie Amokläufe darstellen, künftig vermeiden lassen. Zwar gehen die Ansichten darüber auseinander, ob sich solche Taten überhaupt vermeiden lassen oder ob sie nicht vielmehr zum immanenten Bedrohungspotenzial unserer Gesellschaft gehören, mit deren Ausbruch immer wieder (wenngleich stets als Ausnahme von der meist friedlichen Regel) gerechnet werden muss. Das Interesse aber an der (weitgehenden) Vermeidung weiterer Amoktaten ist ebenso nachvollziehbar wie legitim. Menschen brauchen ein verlässliches Maß an Sicherheit, um überhaupt ihren alltäglichen, lebensweltlichen Verrichtungen nachgehen zu können. Stünden sie ständig unter dem Eindruck, in der nächsten Sekunde von einem Amokläufer erschossen werden zu können, würde jede soziale Aktivität erlahmen; die Gesellschaft wäre paralysiert. Auf Amokläufe abzielende Präventionsmaßnahmen richten sich daher nicht nur auf den für eine unabsehbare Zukunft erwarteten eventuellen Ernstfall, der außerdem durch diese Präventionsmaßnahmen gerade ver-mieden werden soll. Sie richten sich vielmehr in besonderer Weise, oder sogar in erster Linie, auf das Hier und Jetzt, indem sie gesellschaftliche Aktivität vermitteln. Die zuständigen Institutionen und Organe zeigen, dass sie ihre Verantwortung gegenüber den potenziell gefährdeten Indivi-duen wahrnehmen und stellen so Sicherheit in der Gesellschaft her. Dieser Gedanke der Prävention, worauf schon vergleichsweise früh der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl hingewiesen hat, hat in sich etwas Paradoxes, da er unmittelbar auf die besonders beunruhigenden Aspekte am Amoklauf reagiert: dessen scheinbare "Plötzlichkeit, Unerklärbarkeit und Unmotiviertheit" (2000: 85). Insofern gehe es bei Präventionsbemühungen gegenüber dem Amoklauf faktisch nicht um "soziale, psychologische oder physiologische Ursachen", sondern dieses Bemühen beziehe sich auf "die bloße Ereignishaftigkeit, die bloße Zufälligkeit des Geschehens selbst, man könnte auch sagen: auf das, was in unserem Sprachgebrauch den Charakter des Unfalls ausmacht" (ebd.). Diese unspezifische Herangehensweise von Prävention an den Amoklauf, die sich gleichwohl sehr handfest gibt, lässt sich in der Tat in aktuellen Ansätzen zur Prävention möglicher Amokläufe finden. So schlägt die Kriminologin Britta Bannenberg vor, sich bereits auf die "stillen, zurückgezogenen Kinder" (2010: 176) zu konzentrieren, um "mögliche Störungen und Auffälligkeiten von einzelnen stillen Schülern im Vorfeld zu erkennen und damit Entwicklungsverläufe frühzeitig positiv beeinflussen zu können" (ebd: 177f.). Spezifischer gehen die Psychologen Herbert Scheithauer und Rebecca Bondü in ihren Vorschlägen vor, räu-men aber auch ein: "Die Erstellung von Täterprofilen [ist] nicht zuverläs-sig" (2011: 94); "die Gefahr der fälschlichen Einschätzung einer Person als gefährlich ist hoch" (ebd: 89). Das wirft ein Schlaglicht auf das Verhältnis moderner Gesellschaften zur Kategorie des Risikos, ist diese doch mindestens seit Ulrich Becks Diagnose zu einer der Leitkategorien der Moderne avanciert. Moderne Gesellschaften gibt es demnach überhaupt nur im Bewusstsein des Risikos als einer Riskanz des eigenen und des kollektiven Handelns. So spricht Beck von einer "zivilisatorischen Risikoaskriptivität" (1986: 54), die für die Moderne grundlegend und unvermeidlich sei. Diese Risikobasiertheit der Moderne resultiert aus ihrer Ausrichtung auf die Zukunft, die wiederum nicht absehbar und nicht planbar ist, weshalb die "Beseitigung des Risikos" zum neuen gesellschaftlichen Imperativ aufsteige (ebd.: 63). Das Bewusstsein des Risikos erschließt Zukunft deshalb über Berechnungen von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, die flankiert werden durch einen permanenten Zustand der Unsicherheit dieser Gesellschaften. Letztlich erschließt sich die Agenda der Risikovermeidung als Imperativ der risikogesättigten Moderne. Sicherheit als selbstevidente longue durée der Gesellschaft ist so gesehen nicht mehr einlösbar. Ein Amoklauf scheint daher zwar stets möglich, aber so gut wie gar nicht wahrscheinlich; als Phänomen bleibt er eine Variable, die lange als vernachlässigbar und als problemlos integrierbar in die Gesamtstruktur moderner Gesellschaften galt. In seiner frühen Studie zum Thema unterstreicht Lothar Adler, "wie selten Amok tatsächlich ist" (2000: 92). Hier erscheinen Risiken als zwar vorhanden, aber letztlich als sozial kontrollierbare und eben auch berechenbare Sachverhalte. Diese Wahrnehmung hat sich jedoch in den letzten 20 Jahren geändert, was für die westlichen Gesellschaften nicht zuletzt auf das vermehrte Aufkommen sogenannter Amokläufe oder School Shootings zurückzuführen ist, die seit dem fanalartigen Massaker an der Columbine High School in Littleton, Colorado, im April 1999 einen extremen Zuwachs an Aufmerksamkeit und gesellschaftlicher Sensibilisierung erhalten. Ralph Larkin spricht im Hinblick auf dieses Massaker gar von einer "kulturellen Wasserscheide" (2009: 1311). Denn wenngleich die westlichen Gesellschaften nach wie vor faktisch immer sicherer werden, gibt es doch eine kontinuierlich ansteigende Wahrnehmung einer Bedrohungslatenz, die unter anderem auf einen immensen Zugewinn an Information, nicht zuletzt in der digitalisierten Mediengesellschaft, zurückgeht. Risiko als Leitkategorie der Moderne wendet sich insofern von einem abenteuerlich gehaltenen Versprechen auf viele Möglichkeiten hin zu einer Primärwahrnehmung der Gefährdung vertrauter Lebenswelten. Der Amoklauf steht genau für diesen Schwenk einer Umbesetzung des Risikos in ein Modell der Bedrohung. Hier gilt, und sogar schon deutlich früher, was Beck für den Terrorismus diagnostiziert: "Und weil Medium und Ziel der Inszenierung die Erwartung ist, verwischt die Grenze zwischen berechtigter Sorge und Hysterie" (2007: 132). In diesem Sinne folgert Vogl: "Als Risiko, als Wahrscheinlichkeit und Eventualität ist das Übel permanent gegenwärtig und doch bloß potenziell, ist es geradezu unanschaulich, abstrakt und unsichtbar und doch immer gleich nah. Und wenn es eintrifft, wissen wir als Betroffene wie als Zuschauer: Es ist nichts als Zufälligkeit, aber es musste geschehen" (2000: 86). Ähnlich ordnet Hajo Eickhoff den Zustand grassierender gesellschaftlicher Unsicherheit in ein Szenario "großer Veränderung" ein, sei doch noch nie "so viel gesichert und abgesichert" worden, wie in der "Sicherheitskultur" der Gegenwart. Unsicherheit sei daher vor allem ein Verweis auf einen "wahrgenommene[n] Mangel an Sicherheit" (2015: 13). Vogl pointiert, der Amokläufer erscheine in diesem Zusammenhang als "Sinngeber und Apokalyptiker des Risikos" (2000: 87). Die Risikogesellschaft, prophezeite bereits Beck, markiere eine Epoche, "in der die Solidarität aus Angst entsteht und zu einer politischen Kraft wird" (1986: 66). Auf diese Angst reagiert das Ansinnen der Prävention, das nicht bloß konkrete Amokläufe zu verhindern beab-sichtigt, sondern insbesondere Vertrauen in die Sicherheit gesellschaftlicher Strukturen und Wirklichkeit wiederherstellen will. Wenngleich nun diese über Verfahren der Prävention gebildete Sicherheit weder messbar noch zu garantieren ist, so ist sie doch ganz wesentlich das Ergebnis eines allgemeinen Affekts, der es den Einzelnen ermöglicht, Vertrauen in die gesellschaftliche Gegenwart zu fassen. An dieser Bearbeitung sind seitens der Humanwissenschaften verschiedenste Disziplinen beteiligt. Allen voran engagieren sich die Psychologie und die Kriminologie im Rahmen von Präventionsbemühungen, aber auch die Soziologie setzt in ihren Untersuchungen zum Amoklauf vor allem hier an (Collins 2013; Leuschner 2013). Seit das Phänomen der sogenannten Amokläufe Europa und insbesondere Deutschland erreicht hat, wird in diese Richtung geforscht. Während bis etwa zur Bluttat von Erfurt 2002, dem ersten großen Amoklauf in Deutschland, kaum Untersuchungen zum Thema oder dessen Subkategorie, dem School Shooting, vorlagen, ist diese Lücke unterdessen geschlossen. Taten vom Ausmaß eines Amoklaufs sind nicht einfach exzeptionelle, spektakuläre Gewaltakte, die das gewohnte, oder besser: das normaler-weise akzeptierte Maß an Gewalt im alltäglichen Umfeld der Menschen, bei weitem übersteigen. Vielmehr bringen sie den gesamten Haushalt an sozialer, normativer und affektiver Normalität ins Wanken, von dem ein lebensweltlicher Alltag üblicherweise ausgeht, auf den dieser sich bezieht und auf dessen Regelhaftigkeit er sich verlässt - die Kernressource von Gesellschaft heißt Vertrauen (Reemtsma 2009: 34-37). Individuen in Gesellschaft befolgen Regeln und Konventionen; sie unterwerfen sich bestimmten Einschränkungen ihrer Freiheit, die aber im Umkehrschluss genau das herstellen, was sich als gesellschaftliche Ordnung bezeichnen lässt. Diese "Ordnung der Dinge" (Foucault 1974) ermöglicht gesell-schaftliches Handeln, weil sie zugleich Routinen und Ritualisierungen initiiert und die Menschen damit auch davon entlastet, in jeder Situation Handlungsfolgen und die Interaktionen zwischen Menschen neu zu er-finden. Natürlich sind solche Muster der gesellschaftlichen Ordnung nie absolut verbindlich. Das können sie auch gar nicht sein, wenn zugleich die Möglichkeit individuellen Handelns erhalten bleiben soll. Die Ord-nung der Gesellschaft lässt zwingend stets hinreichend Spielraum für eine Realisierung des nicht Erlaubten, das dem individuellen Eigensinn an-heimgestellt ist. Letztlich bewegt sich Gesellschaft immer in einer Art Zwischenraum zwischen erwartbaren und verlässlichen Regelfolgen und deren Übertretung, Nichtbeachtung und gezielter Verletzung. Dass Gesellschaften der Regelverletzungen bedürfen, beschäftigt die Soziologie, seit sie sich als Fach etabliert hat. Abweichendem Verhalten, Devianz oder auch Kriminalität ist gemeinsam, dass sie sich über die Verletzung oder die Überschreitung gesellschaftlicher Regeln und Ord-nungsmuster definieren. Das kann freilich auf ganz unterschiedliche Handlungen zutreffen, die beim Klamauk anfangen und über Pöbeleien oder belästigendes Verhalten bis hin zu eindeutigem Gewaltverhalten reichen. Allerdings bleibt der gesellschaftlich als normal wahrgenommene Radius solcher Regelverletzungen begrenzt. Denn wenn jede Abweichung jederzeit möglich wäre, wäre die etablierte gesellschaftliche Ordnung sinnlos und bloße Rhetorik. Auf der Ebene individueller Erwartungshaltungen, die sich daran orientieren, was sich im gesellschaftlichen Alltag jeweils als Normalität etabliert hat, werden mögliche Abweichungen von einer solchen Skala der Normalität gerahmt und einer normativen Begrenzung unterworfen: "Das Wort ›normal‹ changiert" (Reemtsma 2009: 17) und es folgt einem zeitlich und gesellschaftlich definierten "Maßstab" (ebd.). In Anlehnung an Michel Foucault hat Jürgen Link diese kulturellen Chiffren folgende Konstruktion von gesellschaftlicher Normalität den "Normalismus" genannt. Speziell in den "hochdynamischen Bereichen der Moderne" seien solche "Diskurskomplexe" und Dispositive etabliert worden (1999: 77), die über eine Definition von Normalität den Eindruck von Stetigkeit und Unveränderlichkeit inmitten einer Dynamik permanenter Veränderung wecken sollen. Historische Veränderungen passen sich dann solchen Dispositiven der Normalität an; Normalisierung, meint Link, bedeute auch, und nicht zuletzt, "Normal-Machung" (2013: 10) und kippt auf diese Art schnell um in eine normative Passung des Normalen. Wo Vergesellschaftung praktiziert wird, ist deshalb soziale Normalität von sozialer Normativität nicht zu trennen: "Soziale Normen können nicht gelten, ohne dass allgemein verbindliche Typisierungen von Handlungen und Situationen als geltend anerkannt und durchgesetzt werden […]" (Popitz 2006: 65). Das bedeutet nicht, dass keine extremeren oder unüblichen Abweichungen von jener Schwelle möglich wären, die den Grenzbereich eines noch als normal vorstellbar anerkannten Handelns bezeichnet und die ich das "Normalitätssoll" von Gesellschaft nennen möchte (Kapitel 8). Im Gegenteil, solche Abweichungen sind grundsätzlich jederzeit möglich; sie geschehen immer wieder, werden aber als Abweichungen auch sanktioniert. "Von der Geltung einer Norm wollen wir erst dann sprechen, wenn ein Abweichen von solchen erwarteten Regelmäßigkeiten Sanktionen gegen den Abweicher auslöst, etwa demonstrative Missbilligung, Repressalien, Diskriminierung, Strafen" (Popitz 2006: 69). Das Normalmaß der Gesellschaft ist also keineswegs, selbst wenn es gewaltvermeidend vorgeht, eine friedfertige Veranstaltung. Im Gegenteil, in Krisensituationen und gegenüber Regelverstößen positioniert sich das Normalitätssoll als Sanktionsmacht. Speziell in der Krise, meint Link, sei der Normalitätsbegriff unverzichtbar; es sei die Krise, "die allererst Nor-malität beschafft" (Link 2013: 12). Das Erstaunliche an der Verfasstheit von Gesellschaften ist lediglich, dass es ihnen ganz überwiegend tatsäch-lich gelingt, solche extremen Varianten der Abweichung zu vermeiden oder zu unterdrücken. Diese normative Kompetenz von Gesellschaften, "dass Menschen ihr Verhalten sozial binden, sozial verbindlich machen" (Popitz 2006: 61), zählt, wie Heinrich Popitz einmal formuliert hat, zu deren erstaunlichsten Leistungen. Eben darum reagiert eine Gesellschaft - in Gestalt ihrer Individuen und Institutionen - jedes Mal einerseits mit einem Schock, wenn in ihren Alltag Extremabweichungen vom Normalitätssoll einbrechen, andererseits setzen Bearbeitungsstrategien ein. Eine solche Extremabweichung stört nicht einfach das Normalitäts-empfinden in einer Gesellschaft erheblich, sondern bricht es radikal auf. Genau deshalb scheint es mir interessant, sich mit den im Anschluss an eine solche Extremabweichung einsetzenden gesellschaftlichen Bearbei-tungen solcher Vorfälle sozialwissenschaftlich auseinanderzusetzen. Amokläufe sind keineswegs die einzig mögliche Gestalt von Extremabweichungen, die außerdem nicht zwingend gewaltsam und traumatisch ausfallen müssen. Denkbar wäre genauso, dass sie karnevaleske oder orgiastische Gestalt annehmen. Amokläufe eignen sich aber insbesondere, um einen Blick auf diese Zusammenhänge zu werfen. Denn sie bilden nicht nur als Taten spektakuläre Ausnahmen vom normalen Verhalten der Einzelnen, sondern auch vom normalen Repertoire an Devianz. Sie erhalten einen breit gefächerten Aufmerksamkeitsradius und fokussieren für einen mehr oder weniger gedehnten Moment die Aufmerksamkeitsspanne einer ganzen Gesellschaft. Spektakulär ist auch die Wirkung dieser Gewaltakte in der Gesellschaft, die Fassungslosigkeit, Trauer und Schock auslösen. Kurz: Sie brechen mit fast allen Konventionen, die, auch negativ, in der Alltags-lebenswelt allgemein für möglich gehalten werden. In der Extremabwei-chung des Amok wird daher die "Normalitätsgrenze" (Link 1999: 23) durchbrochen, die gemeinhin als Schallmauer einer sozial geteilten Wirk-lichkeit fungiert. Insofern geben Amokläufe ganz bestimmt ein geradezu paradigmatisches Beispiel für Extremabweichungen ab. Ihre starke Präsenz und Repräsentation in der Gesellschaft, die gesellschaftliche Polarisierung, die sie in den Diagnosen und Präventionsoptionen auslösen, machen sie zu aufschlussreichen Fällen, wenn es um den gesellschaftlichen Umgang mit dem Einbruch von extremer Devianz in Form eines radikal gewaltsamen Handelns geht. Amokläufe sind sowohl Akte extremer Gewaltausübung als auch extreme Abweichungen von der üblicherweise gewohnten gesellschaftlichen Normalität. Diese in vielfältigen sozialen Praktiken und Kulturtechniken eingeübte Normalität konstituiert nichts anderes als das, was soziale Realität ist, also derjenige soziale Zusammenhang, der jeweils allgemein als Realität in und von Gesellschaft geteilt wird. Sofern Amokläufe als extreme Gewalttaten - und damit als Extremform der sozialen Regelverletzung - tatsächlich einen Bruch des für die fortlaufende Praxis von Vergesellschaftung stets notwendigen Kontinuums an lebensweltlicher Normalität darstellen, bezeichnen sie letztlich nicht einfach eine Störung der für die Verbindlichkeit gesellschaftlicher Routinen und für das Vertrauen der Individuen in die Sicherheit der Lebenswelt erforderlichen Stabilität und Kontinuität sozialer Institutionen. Vielmehr stellt eine Tat wie ein Amoklauf die erfolgreiche Verwirklichung von Vergesellschaftung grundsätzlich infrage. Götz Eisenberg meint dazu, die Erschütterung der Öffentlichkeit sei hier so groß, weil der Amoklauf das über das staatliche Gewaltmonopol gewährleistete "Sicherheitsversprechen" tendenziell widerlege; zumal jede Prävention ins Leere gehe, da die Täter ja gemeinhin aus den Durchschnittszonen der Gesellschaft stammten und nicht von deren Rändern (2010: 68f.). Die soziale Störung, die von solchen Ereignissen einer extremen, das gesellschaftliche Normalitätssoll radikal überschreitenden Gewalt ausgeht, ist nicht situativ definiert, sondern negiert zunächst einmal ganz basal die Möglichkeit von Vergesellschaftung. Indem nämlich diese Taten die Verbindlichkeit des sozialen Bandes durchtrennen, stehen all die Selbstverständlichkeiten zur Disposition, auf die soziale Individuen in ihren Alltagspraktiken vertrauen und von denen aus sie Habituskonzepte, Handlungsweisen und Identitäten entwerfen. Für Link bezeichnet das den Fall der sozialen Katastrophe, mit der inmitten des "normalistischen homogenen und quantitativen Feldes die irreduktible Qualität, das Heterogene und das Andere" auftrete (1999: 169). Schließlich basiert die Möglichkeit von Gesellschaft auf einem von den Individuen eingegangenen, im Alltag aber unausgesprochenen Einverständnis mit den strukturellen und normativen Rahmenbedingungen von Gesellschaft, das sich dadurch auszeichnet, dass es nicht eigens in jeder Situation neu kommuniziert werden muss - bestätigt werden immer und notwendig die "Felder des Normativen […] und des Normalen" (Link 2013: 33). Vielmehr liegt der Wert dieses Einverständnisses gerade darin, dass es über symbolische Kommunikationen aktiviert wird und auf einen jeweils expliziten Verweis verzichten kann. Denn insbesondere in der Alltagswelt, so Schütz und Luckmann, sei dem Einzelnen daran gelegen, "mich routinemäßig in meinem Handeln orientieren zu können" (2003: 42); zu viel Aushandlungspotenzial würde diese Abläufe bloß stören. Nur wenn das gewährleistet ist, kann eine in topografischer wie auch in symbolischer Hinsicht so ausgedehnte und abstrakte Unternehmung wie eine Gesellschaft langfristig gelingen und die an ihr beteiligten Individuen unter Berücksichtigung von deren fortbestehender Handlungsmächtigkeit in ihre Strukturen und Abläufe integrieren. Vor diesem Hintergrund wird klar, wie wichtig es ist, die Taten und Ereignisse einer das Normalitätssoll überschreitenden, extremen Gewalt in den Rahmen der legitimen gesellschaftlichen Ordnung zurückzuholen. Solche Taten, unter denen Amokläufe zu den prominent akzentuierten Fällen gehören, sprengen den Rahmen gesellschaftlicher Routinen nicht nur nachhaltig auf, sondern stellen deren Legitimität im Ganzen zur Disposition. Was die Gesellschaft insgesamt angeht, ist beim Amoklauf deshalb nicht die Tat selbst so ausgesprochen interessant, die gleichwohl ein schreckliches Verbrechen bleibt, sondern vielmehr die nach dem Eintreten der extremen Gewalthandlung verstärkt beobachtbaren sozialen Praktiken mit dem Ziel einer Re-Integration der jeweiligen Taten in den allgemeinen Ordnungsmodus. Aus gesellschaftlicher Perspektive als extrem wahrgenommene Gewalt-taten fordern also die Bindekräfte einer Gesellschaft massiv heraus. Sie verdeutlichen deren begrenzte Reichweite hinsichtlich der Durchsetzung der in ihr üblicherweise anerkannten Ordnungsmuster. Damit zeigen sie zugleich die normativen wie institutionellen Grenzen von Vergesellschaf-tung auf, die sich als gar nicht selbstverständlich erweisen. Wie wichtig es trotzdem ist, dass eine Gesellschaft genau diese Selbstverständlichkeit vermittelt, hat Arnold Gehlen betont: "Das Gefühl, dass der soziale Zusammenhang stabilisiert und geordnet ist, wird von der Daseinssicherheit gefordert und bedarf der objektiven, sichtbaren Außenstützung" (1986: 52). Laut Gehlen gelingt dies über die Routinisierung und "Virtualisierung" von Fertigkeiten und Wissensbeständen in dem, was er die "Hintergrundserfüllung" nennt, der Ablagerung jederzeit abrufbarer Kompetenzen im Individuum und der unbewussten Aneignung von Routinen und Abläufen (ebd.: 50ff.). Die Riskanz dieser zunächst einmal Stabilität und Kontinuität gewährleistenden Routinen besteht darin, dass durch sie die soziale Wirklichkeit tatsächlich als etwas fraglos Gegebenes erscheint, etwas, das kaum gestört werden kann. Routine sorgt im Umkehrschluss auch dafür, dass Risikobewusstsein abnimmt. Erst mit dem Einbruch von Ereignissen in die Gesellschaft, die jede Normalitätserwartung durchkreuzen, wie etwa Formen extremer Gewalt, wird wieder klar, dass solche Grenzen und die darüber institutionalisierten gesellschaftlichen Übereinkünfte mühsam durchgesetzt, immer vor einem je spezifischen zeitgeschichtlichen und kulturellen Hintergrund konstruiert und natürlich absolut kontingent sind. Damit negiert extreme Gewalt die immanenten Bindekräfte der Gesellschaft, wie sie sich über Konventionen, Werte, Normen und Identitäten ergeben. Indem extreme Gewalt für eine radikale Missachtung des sozialen Zusammenhalts, insbesondere aber der Integrität des Anderen und jeder ethischen Grenzziehung steht, provoziert sie den Fortbestand des gesellschaftlichen Zusammenhalts massiv. Dennoch, oder vielmehr genau deshalb, lässt sich auch der an solche Taten anschließende Versuch beobachten, das soziale Band, das der Gewalttäter zunächst durchtrennt hat, in vielfältigen Verge-meinschaftungsformen umso stärker neu zu weben. Und es lässt sich beobachten, wie gerade das Unerklärliche an der extremen Gewalt die gesellschaftliche Deutungsmaschinerie anwirft, wie das Unsagbare Diskurse und Narrationen hervorbringt und wie der über die Traumatisierungserfahrung solcher Gewalt ausgelösten sozialen Erosion mit mannigfaltigen Mechanismen zur Re-Integration der infrage stehenden Taten begegnet wird. In dieser Situation der Konfrontation mit einer Handlung, die strukturell und normativ schlicht nicht vorgesehen ist, wird das Unfassbare zu einem eigenständigen Topos zur Erfassung einer als neu empfundenen Realität. Ein Verbrechen wie den Amok als "unfassbar" zu bezeichnen, was häufig geschieht, entspricht einem ersten Ansatz zu dessen Klassifizierung. Indem die Gewalt als "unfassbar" beschrieben wird, wird sie zumindest bezeichnet und innerhalb der sprachlichen Welt des Sozialen als anwesend markiert. Von dieser Markierung als nicht fassbar hin zum Versuch einer nachholenden Wiedereingliederung dieser Gewalt in das soziale Diskursuniversum ist es dann nur noch ein weiterer Schritt. Halbwegs lakonisch fasst denn auch die Nachrichtenseite Spiegel Online wenige Tage nach dem Amoklauf von Winnenden zusammen: "Unfassbar ist das Wort des Tages" (SP.Online: 11.3.2009a). In der Tat sind die großen Affekte, die attributhaft eine Krisensituation der Person ganz genauso wie der Gesellschaft anzeigen, die bevorzugten rhetorischen Instrumente. So formuliert Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) prägnant: "Es ist un-fassbar." Zuvor wird sie bereits mit den Worten zitiert, "wie alle Men-schen" sei auch sie "bestürzt und fassungslos" (ebd.). Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verweist auf das Versagen der Sprache "in solch einer Stunde" und Guido Westerwelle (FDP) gibt an, er sei "schockiert und erschüttert" (ebd.). Formulierungen wie diese verleihen der Passivität Ausdruck, die die extreme Gewalt des Amok den gesellschaftlichen Akteuren oktroyiert, indem sie so einfach wie brachial mit allem bricht, was die lebensweltliche Realität der Einzelnen und der Gesellschaft zu garantieren scheint. Mit der Zerschlagung von Normalität muss zwangsläufig auch das Vertrauen in die Gesellschaft enttäuscht werden, die nicht in der Lage ist, die mit dieser Normalität einhergehende Sicherheit zu gewährleisten. Jan Philipp Reemtsma weist daher völlig zu Recht darauf hin, es gebe "eine gewisse emotionale (und im Gefolge intellektuelle) Scheu", solche Formen extremer Gewalt "überhaupt als existent […] wahrzunehmen" (2009: 117). Entsprechend fällt die Reaktion auf einen derart radikal vollzogenen Gewalteinbruch zunächst auch einigermaßen hilflos aus. Demgegenüber liege der "Sinn der Gewalt", wie Karl Otto Hondrich akzentuiert, gerade darin, ein "Lebenszeichen freien Waltens, freier Ge-walt in einer ansonsten ver-walteten Welt zu setzen" (2002). Die Gewalt des Amok zeigt auch die Arbitrarität der gesellschaftlichen Ordnung auf. Eine als Reaktion auf den Erfurter Amoklauf 2002 herausgegebene Pressemitteilung der Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth und Fritz Kuhn, erfasst dieses Verhältnis mit großer Präzision. Dort heißt es: "Wir sind entsetzt über die unfassbare Tat des Amokläufers in Erfurt. In diesen Stunden der tiefen Trauer ist unser ganzes Mitgefühl bei den Angehörigen und Freundinnen und Freunden" (Bündnis 90/Die Grünen: Pressedienst Nr. 53/02). An einer Formulierung wie dieser wird deutlich: Die Trauer ist nicht nur eine Floskel, die die Pietät gebietet; sie eröffnet auch einen Möglichkeitsraum der Reaktion und des Handelns inmitten der Störung von Sicherheit, Normalität und sozialem Vertrauen, denn die Trauer stellt diese Normalität gewissermaßen wieder her, indem sie einen Raum schafft, der im Außerordentlichen strikt nach den Mustern funktioniert, die gerade empfindlich gestört wurden. Die "unfassbare Tat" hingegen, die hier wohl tatsächlich ihre Erstformulierung in Reaktion auf einen Akt extremer Gewalt in Deutschland erfährt, bleibt in sich ambivalent bis antagonistisch - sie ist zwar real, aber sie bleibt behaftet mit dem Ruch des Irrealen und eigentlich Unmöglichen. Taten wie diese haben keinen epistemischen Hinterhof mehr, unter keinen Umständen lassen sie sich auf selbstverständliche Art nachvollziehen. Diese Schwierigkeit macht sie unfassbar. Was in dieser Hinsicht als "unfassbar" gilt, ist wiederum abhängig von der spezifischen historischen und sozialen Situation, in der eine bestimmte Handlung vollzogen wird. Sieben Jahre später, anlässlich des Amoklaufs von Winnenden, lanciert der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen wiederum eine Pressemitteilung der Vorsitzenden, Claudia Roth und Cem Özdemir. Erneut gilt die Emphase ab dem zweiten Satz der Trauer um die Opfer und dem Mitgefühl für deren Angehörige; hier scheint unterdessen ein Muster eingeübt und abrufbereit. Der erste Satz jedoch, der unmittelbar auf die Gewalttat reagiert, erscheint in abgewandelter Form und verwendet nicht die Formel des Unfassbaren. Vielmehr zeigen sich die Parteivorsitzenden "entsetzt und tief betroffen über den furchtbaren Amoklauf" (Bündnis 90/Die Grünen: Pressedienst Nr. 034/09). Partiell ist der Amoklauf, so scheint es, damit bereits eingesickert in den Möglichkeitshorizont an Gefährdungslagen des Sozialen. Das Entsetzen, die Betroffenheit sind ethische Reaktionen der Abwehr, die auf die Ebene von Affekten übersetzt werden. Das Unvermögen zu verstehen, das Unfassbare also, ist nicht einmal dazu in der Lage, weil ihm das auch dafür erforderliche Konzept einer Realität fehlt, in der es solche Situationen überhaupt gäbe, auf die dann zu reagieren wäre. Am Folgetag gibt sich der Parteivorstand in einer weiteren Pressemitteilung noch nüchterner, anerkennt zwar die "Grenzen des Verstehens", die "Taten wie die in Winnenden" aufzeigen würden, betont dann aber, wichtig sei jetzt insbesondere, "die genauen Umstände der Tat und ihrer furchtbaren Folgen aufzuklären" (Bündnis 90/Die Grünen: Pressedienst Nr. 036/09). Hier wird, gegen den Extremismus des Unverstehens, wieder Handlungsmacht gegenüber dem radikalen Bruch mit allen kalkulierbaren Fahrnissen sozialer Realität behauptet. Der heftige Wille zur Aufklärung entspricht dem Willen zur Einhegung des Ausmaßes der Störungsintensität. Der Amok darf als Akt der Dekomposition verstanden werden, der als "Denormalisierung" einen Normalitätsverlust anzeigt. Der Effekt eines solchen Ereignisses ist dann mindestens zunächst soziale Instabilität und, wie Link formuliert, "Denormalisierungsangst oder Angst, aus der Normalität zu fallen" (2013: 62). Insofern fordern Handlungen extremer Gewalt sozialwissen-schaftliche Forschung in doppelter Weise: Einmal müssen perspektivisch soziale Praktiken und politische Techniken gefunden werden, die extremer Gewalt entgegenwirken; hierzu liegen zahlreiche Untersuchungen vor. Zum anderen aber muss diese Gewalt empirisch und theoretisch in die Rahmensetzungen der Gesellschaft der Gegenwart eingeordnet werden; hier fehlt es bislang noch erkennbar an Beiträgen. Um diese Re-Integration zu erreichen, bedarf es massiver Anstrengungen zur Normalisierung extremer Ereignisse, die die Rahmensetzungen gesellschaftlicher Normalität in radikaler Weise überschritten haben, die deren Kontext an Normalität aufsprengen und gesellschaftlich traumatisierend wirken. Per definitionem kommt außerdem erschwerend hinzu, dass die Integration extremer Gewalt in die Praktiken gesellschaftlicher Routinen nur rückblickend möglich ist. Denn Voraussetzung für diese gesellschaftliche Situation ist ja, dass eine Gesellschaft die Erfahrung eines Aufsprengens ihrer Ordnungsparameter gemacht hat. Amokartige Taten zeichnen sich im Moment ihres Eintretens in die gesellschaftliche Realität dadurch aus, dass sie die Effizienz solcher Ordnungsmuster widerlegen und ebenso plötzlich eintreten, wie sie unvorhersehbar sind - damit stützen sie scheinbar Dirk Baeckers These, soziale Normen seien grundsätzlich kontrafaktisch angelegt (2007: 148), würden also ihre Nichtbefolgung nicht nur schon implizieren, sondern faktisch dazu geradezu aufrufen. Die Bemühungen um eine Re-Integration extremer Gewalthandlungen in die Ord-nungsmuster und den alltäglichen Kontext gesellschaftlicher Routinen, aus denen diese herausfallen, erfolgt in der Regel entlang von immer wieder genutzten Scripts einer gesellschaftlichen Narration. Dabei ist vor allem wichtig, das sowohl normativ als auch mit Blick auf seine Normalitätsgel-tung als extrem erscheinende, gewissermaßen gegen jeden gesellschaftlichen Regulierungsanspruch immune Ereignis rückblickend in eine funktionierende Erzählung gesellschaftlicher Koordinaten einzubinden. Das macht Taten wie den Amoklauf in ihrer massiven Gewaltsamkeit zwar nicht weniger furchtbar, lässt sie aber im gesellschaftlichen Feld als ein mögliches Vorkommnis unter anderen plausibler wirken, bricht ihrer Extremität die Spitze ab und ordnet sie im Nachhinein wieder in jene Ordnung der Dinge ein, die sie gerade noch tendenziell außer Kraft gesetzt hatten. Eine der hier vertretenen Thesen lautet daher, dass die in diesem Zusammenhang angewendeten sozialen Mechanismen der Re-Integration und der kommunikativen Abschließung über Techniken der Sinnstiftung verlaufen. An das individuelle Ereignis einer extremen Gewalthandlung im gesellschaftlichen Raum werden Narrationen angeschlossen, die letztlich plausibel machen sollen, wie solche Taten sich aus den Routinen gesellschaftlicher Normalität heraus entwickeln. Die Leistung dieser Erzählungen besteht darin, die Extremhandlung rückblickend in ein bloßes Devianzphänomen zu übersetzen, das zwar immer noch außergewöhnlich bleibt, aber als vorstellbar im Sinne des gesellschaftlichen Normalitätssolls erscheint. Das ist häufig nur über das Paradox einer Art von inkludierender Exklusion möglich, indem nämlich die Täter im Zuge dieser Narration pathologisiert werden und somit ihren Status als legitime Mitglieder der Gesellschaft verlieren (Kapitel 7.5). Die Tat selbst wird in den Ordnungsrahmen von Gesellschaft zurückgeholt - der (beim Amoklauf ohnehin in aller Regel am Ende tote) Täter aber wird aus der Gesellschaft entfernt; er ist kein Teil mehr von ihr.
Erscheinungsdatum | 06.05.2017 |
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Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 142 x 214 mm |
Gewicht | 430 g |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien | |
Schlagworte | Amok • Amoklauf • Computerspiele • Gesellschaft • Gewalt • Medien • Politische Soziologie • Täter |
ISBN-10 | 3-593-50726-9 / 3593507269 |
ISBN-13 | 978-3-593-50726-2 / 9783593507262 |
Zustand | Neuware |
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