Das verschuldete Selbst
Campus (Verlag)
978-3-593-50688-3 (ISBN)
1) und somit der finanziellen Schuldbefreiung würdig erweisen. Was aber macht Redlichkeit im Kontext von Verschuldung aus? Die geforderten Haltungen zeigen eine neoliberale Prägung: Selbstaktivierung, Selbstauskunft, Eigenverantwortlichkeit. Anhand von narrationsanalytisch ausgewerteten Interviews mit Verschuldeten zeigt die Autorin, wie diese Anforderungen und damit die Schuld an den Schulden internalisiert werden. Mit der Untersuchung des Erzählens als diskursiv anschlussfähiger Akt der Selbstkonstitution leistet das Buch nicht zuletzt einen methodologischen Beitrag zur empirischen Subjektivierungsforschung.
Seit dem 1. 1. 1999 ist in Deutschland die Restschuldbefreiung von privaten Schulden gesetzlich möglich. Die Insolvenzordnung sieht hierfür ein pädagogisches Programm vor, mit dem sich die Überschuldeten als "redlich" (InsO §1) und somit der finanziellen Schuldbefreiung würdig erweisen. Was aber macht Redlichkeit im Kontext von Verschuldung aus? Die geforderten Haltungen zeigen eine neoliberale Prägung: Selbstaktivierung, Selbstauskunft, Eigenverantwortlichkeit. Anhand von narrationsanalytisch ausgewerteten Interviews mit Verschuldeten zeigt die Autorin, wie diese Anforderungen und damit die Schuld an den Schulden internalisiert werden. Mit der Untersuchung des Erzählens als diskursiv anschlussfähiger Akt der Selbstkonstitution leistet das Buch nicht zuletzt einen methodologischen Beitrag zur empirischen Subjektivierungsforschung.
Silke Meyer ist assoziierte Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck.
Inhalt
1. Einleitung 7
Schuldenfragen, Schuldverhältnisse und das verschuldete Selbst 7
Empirische Subjektivierungsforschung 17
Geschichte und Kontext der Ver- und Überschuldung in der Bundesrepublik Deutschland 28
2.Soziale und kulturelle Aspekte des Kredit- und Schuldenwesens 49
Pluralisierung und Differenzierung im historischen Schulden- und Kreditwesen 52
Vieldeutiges Schulden- und Kreditverständnis in traditionalen und Übergangsgesellschaften 58
Schulden und Subjekte in Ethnografien neoliberaler Gesellschaften 62
3.Verschuldung erforschen: Methodik der Datenerhebung 67
Wege ins soziale Feld der Verschuldung 69
Interviews 73
Verschriftlichung 76
Codierung 78
Asymmetrien im Feld 79
4.Narrationsanalyse als kulturwissenschaftliche Methode: Datenauswertung 90
Poetics of Folklore: Erzählen als kulturelle Leistung 91
Alltägliches Erzählen 95
Funktionen des Erzählens 103
Formen des Erzählens 108
Narrativer Habitus 121
Narrative Identität 127
5.Schuldengeschichten und der narrative Habitus der Rechtfertigung 131
Erfolgsgeschichten 133
Vergleichsgeschichten als soziale Positionierung 184
Versachlichen als Bewältigungsstrategie 229
Beziehungsgeschichten 252
Sprechen über Scheitern 265
Schweigemuster 297
Wünsche und Hoffnungen: "ein ganz normales Leben" 308
Die ethische Narrativitätsthese: die Moral der Geschichte 312
6.Subjektivierungsformate in Schuldendiskursen 328
Zur Entstehungsgeschichte der Insolvenzordnung: moderner Schuldturm vs. kritische Verbraucher/-innen 330
Die Verbraucherinsolvenz in Deutschland: ein Rechtsdiskurs und seine soziale Wirksamkeit 334
Imperative des medialen Schuldendiskurses 360
7.Der Ich-Effekt der Schuldenerzählungen: Zusammenfassung und Ergebnisse 376
Schulden- und Schuldverhältnisse als Ausdruck einer neoliberal verfassten Gesellschaft 379
Ver- und Entschuldungskultur als Umgang mit sozialen Problemen 393
Literatur 397
Gedruckte und online publizierte Sekundärliteratur mit ausgewiesenen Autoren und Autorinnen 397
Internetquellen (ohne ausgewiesene Autoren und Autorinnen) 444
Anhang 445
Transkriptionszeichen 445
Interviews und zugehörige Biogramme 445
Dank 447
1. Einleitung "Schulden muss man doch zurückzahlen." Diesen Satz legt der Wirt-schaftsethnologe David Graeber auf den ersten Seiten seiner umfangrei-chen Studie zur Geschichte der Verschuldung - provokant betitelt mit "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" (2012) - einer engagierten jungen An-wältin in den Mund, mit der er auf einer Gartenparty ein Gespräch über die Finanzkrise, den Internationalen Währungsfonds und die Möglichkeit eines Schuldenschnittes für Entwicklungsländer begann. Seine Selbstver-ständlichkeit bezieht der Satz über die Rückzahlungspflicht aus der scheinbar unumstößlichen Verbindlichkeit von Schulden und Schuld: Wer seinen finanziellen Verbindlichkeiten nicht nachkommt und vertragsbrüchig wird, wird schuldig im juristischen wie im moralischen Sinn. Während Graeber in seinem Buch historisch argumentiert, dass und warum Schulden durchaus nicht immer zurückzuzahlen sind, möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, was geschieht, wenn eine Privatperson ihre Schulden nicht zurückzahlt. Wie wirkt sich ökonomische Zahlungsunfähigkeit auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Schuldnern und Schuldnerinnen aus, was konstituiert ein verschuldetes Selbst? Rechtlich ist die Restschuldbefreiung in Deutschland seit 1999 möglich. Wenn aber aus der ökonomischen Transaktion der Schuldhaftigkeit auch ein moralischer Schuldzustand her-vorgeht, was geschieht bei einer finanziellen Entschuldung mit dieser Schuld? Schuldenfragen, Schuldverhältnisse und das verschuldete Selbst Mein Forschungsanliegen lässt sich mit der Frage nach Ökonomie, Bedeutung und Praxis von Verschuldung umreißen, wie sie Schuldner/-innen in narrativen Interviews dargestellt haben. Wenn der ökonomische Alltag fragil und prekär wird, wie es vor allem, aber nicht erst seit der 2007 ausgebrochenen Finanz- und Schuldenkrise für Millionen von Menschen auch in Deutschland der Fall ist, erfahren Schulden eine besondere Aufmerksamkeit: Sie werden zum Maßstab der Lebensbewältigung und zum Muster der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Rechnen, weiteres Leihen, Umschichten, Abstottern, Sparen und Verzichten bestimmen den Rhythmus des Alltags und der Teilhabe an Gesellschaft. Schulden vereinen individuelle wirtschaftliche Gegebenheiten mit Bedürfnissen, Möglichkeiten und Wünschen des Selbst. Als solche werden sie zum Fluchtpunkt moralischer Vorstellungen, denn Schulden und Schuld teilen sich einen "gemeinsamen semantischen Hallraum" (Suter 2016: 8). Dieser "Hallraum" ist diskursiv verfasst: Schuldendiskurse formen den Selbstentwurf des Subjekts (mit), gestalten die Vorstellung von ökonomi-scher Normalität und sozialer Inklusion und nehmen maßgeblich Einfluss auf die Verfasstheit des verschuldeten Selbst. Zwar gehen Verschuldete sowohl mit monetären Außenständen als auch mit moralischen Schuldzu-weisungen unterschiedlich um, gemeinsam ist ihnen jedoch ein verhältnis-mäßig hoher Aufwand, den sie sowohl im alltäglichen Wirtschaften sowie identitätspolitisch betreiben (müssen), um Schulden und Schuld zu erklä-ren, zu rechtfertigen oder abzustreiten. Dies trifft vor allem auf Schuld-ner/-innen zu, die vor oder in einem Verbraucherinsolvenzverfahren ste-hen, also qua Gesetz von ihren wirtschaftlichen Restschulden befreit werden wollen. Wie wird hier eine moralische Entschuldung auf der Ebene des Subjekts verhandelt? Denn auch wer von der Pflicht der Rückzahlung befreit ist, zum Beispiel durch die Privatinsolvenz, muss ihr doch "in seinem Verhalten, seiner Einstellung, seinem Bewegungsspielraum, Projekten, (im) eigenen subjektiven Engagement und der für die Arbeitssuche gewidmeten Zeit Rechnung tragen" (Lazzarato 2012: 94-95). Versteht man Schuld als Verletzung einer rechtlichen, sozialen oder moralischen Ordnung und kann diese gestörte Ordnung durch bestimmte Verhaltensweisen (auch) der Selbstschädigung wiederhergestellt werden (vgl. Horn 2007: Sp. 227-232), dann stehen diese Praktiken, Argumentationen und Denkweisen der Wiedergutmachung im Mittelpunkt meines Interesses. Ergänzen möchte ich Lazzaratos Beobachtungen durch das Reden über Schulden. Diese narrative Darstellung von Verschuldung und Möglichkeiten zur Schuldbefreiung interpretiere ich als einen Subjektivierungsprozess, der zur Konstitution und Modulation des verschuldeten Selbst beiträgt. Meine Forschungsfrage richtet sich darauf zu rekonstruieren, wie diese Art der Subjektivierung erfolgt. Mit welchen empirisch nachvollziehbaren Praktiken verinnerlichen Menschen schulden- und schuldbezogene Denk- und Verhaltensmuster und machen sich und ihr Handeln so anschluss- und diskursfähig? Meine Antwort darauf ist das Erzählen. Präziser gefasst, zielt das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit darauf zu untersuchen, mit welchen narrativen Praktiken als diskursiven Praktiken dauerhaft Verschuldete ihre Verbindlichkeiten verhandeln, deuten und in ihr Selbstbild integrieren. Narrative Praktiken als diskursive Praktiken zu deuten, beschreibt das europäisch-ethnologische Interesse an Schuldenerzählungen als kultureller Leistung zwischen einem sprachlichen Symbolsystem und seiner individu-ellen funktional-pragmatischen Aneignung. Damit steht diese Arbeit in der fachgeschichtlichen Tradition volkskundlicher Erzählforschung, genauer gesagt in dem Zweig der Erzählforschung, der sich mit dem biografischen Erzählen als Mittel der Aneignung und Bewältigung gesellschaftlicher Verhältnisse beschäftigt. Angeregt durch die Untersuchungen des alltäglichen Erzählens von Hermann Bausinger in den 1950er-Jahren (vgl. Bausinger 1952; 1958; 1977) richtete sich die Erzählforschung neu aus und widmet sich seither vermehrt lebensweltlichen Themen und gesellschaftlichen Problemlagen (vgl. Sedlaczek 1997), wobei sie ihr Interesse an Gattungsstrukturen und ihrem Wandel beibehält (z. B. Schneider 2001). Die Erweiterung der Erzählforschung um die Leitlinien des alltäglichen und autobiografischen Erzählens führt Albrecht Lehmann schließlich im Ansatz seiner kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsanalyse zusammen (vgl. Lehmann 2007). Diesen Zugang kombiniere ich mit einem funktional-pragmatischen Verständnis von Erzählen als sozialem Handeln. Ein solch erzähltheoretischer Ansatz untersucht soziales Handeln im Modus des Kulturellen (vgl. Wietschorke 2012: 349-355). Ihr elastischer Kulturbegriff gereicht der Europäischen Ethnologie gleichermaßen zum Vor- und zum Nachteil. Sabine Eggmann hat in ihrer diskursanalytischen Arbeit über den Kulturbegriff herausgestellt, dass Kultur in der europä-isch-ethnologischen Forschung weniger den Gegenstand der Wissensbe-stände ausmacht, sondern vielmehr als "Instrument volkskundlichen Arbeitens" (Eggmann 2009: 246, Kursivierung im Original) funktioniert. Gegenstand des europäisch-ethnologischen Erkenntnisinteresses sind damit soziale Ordnungen, während Kultur die analytische Perspektive darauf bestimmt: Die Europäische Ethnologie wird zu einer "kulturell argumentierenden Sozialwissenschaft" (Wietschorke 2012: 353). Wenn ich Schuldenerzählungen im Folgenden als kulturelle Wahrneh-mungs-, Deutungs- und Aushandlungsmuster einer sozialen Problemlage interpretiere, möchte ich diese analytische Kulturperspektive in drei Di-mensionen operationalisieren: Erstens verbindet das Erzählen das Indivi-duum mit einem Kollektiv, indem die Einzelnen sich über Geschichten als kulturelle Hervorbringungen sozial positionieren. Erzählen ist die kulturelle Ausdrucksform einer sozialen Positionierung und Selbstermächtigung. Kultur ist zweitens eine praxeologische Leistung, durch die sich Akteure und Akteurinnen Diskurse aneignen, sie verändern oder bestätigen und sich somit zu sozialen Fragen verhalten. Der Umgang mit Schulden - hier konkret: die Schuldenerzählungen - stellen eine diskursive Aushandlung der gesellschaftlichen Problemlage Verschuldung dar. Und drittens verbinden kulturelle Kontexte Geschichte und Gegenwart und schärfen damit vergleichend die Spezifik des Handelns innerhalb historischer Gegebenheiten. Schließlich versteht sich die Europäische Ethnologie - in weiten Teilen - als eine "historisch argumentierende Gegenwartswissenschaft" (Kaschuba 22003: 85), die ihren empirischen Ansatz vergleichend kontex-tualisiert. Die kulturellen Modulationen und sozialen Regulationen von Schuldbefreiung sind damit auch Ausdruck einer historischen Verfasstheit von Gesellschaft. Das Sprechen über Schulden in der Interviewsituation interpretiere ich als eine diskursive Aushandlung von Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen Gruppe. Die meisten Menschen in einer Krisensituation wie der Ver- und Überschuldung, die mit der Erfahrung ökonomischer Deprivation und sozialer Exklusion einhergeht, agieren mit dem Ziel der Zugehörigkeit und der gesellschaftlichen Teilhabe. Die gesellschaftliche Mitte und mit ihr eine Fiktion von Normalität üben eine starke Faszination auf diejenigen aus, die sich als marginalisiert empfinden, und leiten ihre Wahrnehmung, ihr Denken und Handeln. Eine europäisch-ethnologische Schuldenforschung fragt also danach, a) wie Ver- und Überschuldete ihr individuelles Verhalten als kollektiv ratifizierbar erklären und ihr Handeln damit anschlussfähig an eine historisch bedingte Normalität machen, b) welche kulturellen Formen und Argumentationsmuster in den Selbsterzählungen eingesetzt werden, c) wie und mit welchen Autoritätsinstanzen gesellschaftliche Diskurse auf Einzelne wirken und ihre Verhaltensweisen zurichten. Mit der darin angestrebten Diskursfähigkeit ist jedoch keine reine Unterwerfung der Subjekte gemeint: Vielmehr machen die in sich logischen und sinnstiftenden Antworten in der akteursorientierten Forschung das zentrale Erkenntnisinteresse aus. So erkennt eine europäisch-ethnologische Schuldenforschung - stärker vielleicht als die anderer disziplinärer Prägungen - den Eigensinn der Akteure und Akteurinnen, hört ihren Schuldengeschichten mit "ethnologischem Respekt" (Warneken 2006: 10) zu und deutet sie in ihrer kulturellen und sozialen Funktionalität. Beim Kredit wechseln Geldbeträge, Waren oder Dienstleistungen die Seiten in der Anerkennung von Vertrauen, in der Hoffnung der Produktivität und mit dem Ergebnis der gegenseitigen Verpflichtung. Schulden sind zunächst der ökonomische Ausdruck einer sozialen Beziehung zwischen Kreditgebenden und Kreditnehmenden. Als solche bestimmen sie den Standpunkt der Einzelnen in einer hierarchisch strukturierten sozialen Ordnung und reproduzieren diese damit. Das Risiko der Kreditgebenden wird quantifiziert in Form von Zinsen, die der Kreditsumme hinzugefügt werden, ihr Vertrauen hat also eine monetäre Absicherung. Haben die Kreditnehmenden die Schulden samt Zinsen zurückgezahlt, endet die ökonomische Schuld, die Verbindung der Transaktionspartner/-innen bleibt (zumindest bei Privatpersonen) jedoch in unterschiedlichem Ausmaß bestehen. Die Herrschaft der Gabe, so die ökonomisch-anthropologische Prämisse von Marcel Mauss, endet nicht mit der Liquidierung der ursprünglichen Leistung, sondern erhält sich in Form von Loyalitätsverpflichtungen und Dankbarkeitsempfinden: Einmal unterstützt, bleibt man einander verbunden; der Zwang, der mit dem Tausch einhergeht, stellt "Gemeinschaft und Verbindung" her, die "fast unzerstörbar" sind (Mauss 1990: 77). Was aber geschieht, wenn Schulden nicht zurückgezahlt werden (kön-nen)? In diesem Fall geraten vor allem die Kreditnehmenden unter Druck, weil sie ihrer finanziellen wie ihrer Beziehungspflicht nicht nachkommen können. Der Ausweg liegt in der Moralisierung der Schuldenobligation. Damit ist keineswegs eine "›wärmere‹ ökonomische Sozialität" (Tellmann 2014: 163) gemeint, hier darf Mauss nicht missverstanden werden: Seine Thesen basieren auf einer Theorie des Zwangs, auf dem Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, "daß in archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk zwangsläufig erwidert wird" (Mauss 1990: 18, Kursivierung im Original). Die Anwendung auf archaische Gesellschaften relativiert er selbst, indem er den "Trobriand- oder Tsimshianhäuptling" mit dem Kapitalisten gleichsetzt, "der sich zum richtigen Zeitpunkt seines Geldes zu entledigen weiß, um dann sein bewegliches Kapital von neuem aufzubauen" (Mauss 1990: 170). Wer seiner Reziprozitätspflicht nicht nachkommen kann, hat nur den Ausweg, sein letztes Kapital einzusetzen: sich selbst. Historisch führte die Zahlungsunfähigkeit bis ins 19. Jahrhundert in die Schuldknechtschaft: Schuldner/-innen blieben lebenslang arbeitspflichtig, das heißt sie wurden in diesem Sinne versklavt. Erst mit der Rückzahlung wurden aus den männlichen Sklaven wieder freie Bürger mit Bürgerrechten; Frauen erlebten die Befreiung aus der Schuld zu anderen Bedingungen. Schulden stehen also der Gleichheit und dem freien und demokratischen Zusammenleben der Menschen entgegen. Verschuldete sind unfrei, fremdbestimmt und handlungsunfähig. Im Rechtsstaat des 20. Jahrhunderts gibt es in Europa keine legale Schuldknechtschaft mehr, vielmehr sind mit dem Insolvenzrecht national unterschiedliche Möglichkeiten zur legalen Entschuldung geschaffen worden. Wie aber gelingt die Schuldbefreiung, wenn kein Geld die Seiten wechselt? Wie lassen sich Schulden ohne Rückzahlung aufheben? Was wird von denen verlangt, die ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen können? Die Antworten auf diese Fragen sind historisch und nationalstaatlich spezifisch. Für die deutsche Gegenwartsgesellschaft lässt sich ein Subjektivierungsprozess nachzeichnen, der die Schuld an den Schulden durch die Umwandlung einer juristischen und ökonomischen Fremdregierung in eine moralische Selbst-regierung moderiert. Als ideengeschichtliches Vorbild dient in dieser Argumentation der re-ligiöse Mythos der Urschuld durch den Sündenfall Adams. Die bereits bei der Geburt entstandene Erbsünde als Schuldenfall ist im Diesseits prinzi-piell nicht zur Gänze ableistbar und fungiert trotz oder gerade wegen der Unmöglichkeit ihrer Abzahlung als Imperativ für Gottesfurcht und norm-gerechtes Verhalten. Die moderne Theologie setzt an die Stelle der Gottesfurcht die Nächstenliebe, bleibt aber bei der Aufgabe, die Forderungen zu verinnerlichen. Dieser Schuldbegriff wird im modernen Staat zwar säkularisiert, das heißt der aufgeklärte und emanzipierte Mensch kann seine Schulden zurückzahlen und dadurch Freiheit und Selbstbehauptung (wieder-)erlangen. Im Falle seiner Zahlungsunfähigkeit jedoch bleiben Gesetzesfurcht (statt Gottesfurcht) und gesellschaftskonformes Verhalten (statt Nächstenliebe), um zur Restschuldbefreiung zu gelangen. Voraussetzung ist wiederum die Anerkennung von Schuldpflicht und damit die Verinnerlichung von Verantwortung. Der Schuldenschnitt ist möglich, aber das verschuldete Subjekt bezahlt dafür einen Preis - nämlich die Übernahme von Schuld. Kronzeugen dieser Schuldengeschichte als Gesellschaftsgeschichte sind Friedrich Nietzsche und Karl Marx. Nietzsche erklärt Gesellschaft und ihre "Genealogie der Moral" (1887) historisch nicht als Tausch-, sondern als Schuldenökonomie. Die Beziehung zwischen Schuldner/-innen und Gläubiger/-innen steht paradigmatisch für Gesellschaft, demnach muss diese für ihr Fortbestehen Menschen hervorbringen, die sich in einem Schuldenverhältnis als dem "ältesten und ursprünglichsten Personenverhältniss, das es giebt" (Nietzsche 1968 [1887]: 321), behaupten können. Menschen sollen dabei als Garanten ihrer selbst gelten, das heißt die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Ein innerliches Bewusstsein über Verfehlung trägt Sorge hierfür, in der Folge gibt der Schuldner Leib, Besitz, Freiheit und Seelenheil als Pfand: Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzu-flössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet Kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst noch "besitzt", über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben (oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Seligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe) (Nietzsche 1968 [1887]: 315). Schulden werden einverleibt, das Fleisch des Schuldners wird, wie in Shakespeares "Kaufmann von Venedig", zum Pfand, und der Gläubiger kann "dem Leibe des Schuldners alle Arten Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden als der Grösse der Schuld angemessen schien". Die Logik dieser Entschuldung ist bei Nietzsche eine Genugtuung durch Leiden, wobei Schaden und Schmerz als äquivalent betrachtet werden: Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend einer Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Aus-gleich zugestanden wird, - das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen. […] Der Ausgleich besteht also in einem Ausweis und Anrecht auf Grausamkeit (Nietzsche 1968 [1887]: 314-315, Kursivierung im Original). Der moderne Rechtsstaat setzt bei Verschuldung keine körperliche Strafe und Grausamkeit ein. Die Genugtuung für den Gläubiger besteht vielmehr im schlechten Gewissen des Schuldners, das "sich dermaassen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jeder Breite und Tiefe wächst" (Nietzsche 1968 [1887]: 347), dass die innere Schuldökonomie durchaus zerstörerische Ausmaße annehmen kann. Dabei scheint das Kreditwesen auf den ersten Blick eine humane und persönliche Form der Ökonomie, weil es Vertrauen und Moralität über materielle Werte setzt. Die Moral eines Menschen kann, so Karl Marx, seinen Mangel an Kapital aufheben: "Im Kreditwesen […] gewinnt es den Schein, als sei die Macht der fremden, materiellen Macht gebrochen, das Verhältnis der Selbstentfremdung aufgehoben und der Mensch wieder in menschlichen Beziehungen zum Menschen" (Marx 1990 [1844]: 448). Umso enttäuschter klingt der junge Marx, wenn er den Charakter dieser Beziehung aufdeckt und feststellt, dass gerade das moralische Dasein des Menschen, das im Kredit zur Disposition steht, zur völligen Entfremdung des Menschen von sich selbst führt: Aber diese Aufhebung der Entfremdung, diese Rückkehr des Menschen zu sich selbst und daher zum andern Menschen ist nur ein Schein, sie ist eine um so infamere und extremere Selbstentfremdung, Entmenschlichung, als ihr Element nicht mehr Ware, Metall, Papier, sondern das moralische Dasein, das gesellige Dasein, das Innere der menschlichen Brust selbst ist; als sie unter dem Schein des Vertrauens des Menschen zum Menschen, das höchste Mißtrauen und die völlige Entfremdung ist (Marx 1990 [1844]: 448, Kursivierung im Original). Diejenigen Schuldner/-innen, die Kreditwürdigkeit und das damit ein-hergehende geliehene Geld zunächst als Anerkennung erfahren, sind von der Aufkündigung der sozialen Beziehung besonders getroffen. Bonität, das Wort legt es nahe, steht für ein moralisches Konzept, dessen Funda-ment aber nicht mehr im beurteilten Menschen liegt, sondern in der Macht der Gläubiger. Den Menschen so von seinem Selbstwert zu entkoppeln, hält Marx für eine besondere "Niederträchtigkeit" (Marx 1990 [1844]: 449). Während Nietzsche grundlegend anthropologisch argumentiert, be-gründet Marx eine historische Kritik an der Schuldenökonomie der kapitalistischen Gesellschaft, die den Menschen domestiziert und versklavt (vgl. Lazzarato 2012: 66). Beide Positionen verschränken Félix Guattari und Gilles Deleuze in ihrer kapitalismuskritischen Analyse des französischen Schuldenwesens der 1960er- und 1970er-Jahre. Im "Anti-Ödipus" (1974) entwickeln die Autoren eine nicht ökonomische Lesart der Geld- und Schuldentheorie als strategisches Dispositiv der Finanz- und Bankensysteme. Gesellschaftliche Ordnung basiert hiernach nicht auf einer Tausch-ökonomie (wie es die Theorien des Liberalismus vorschlagen) oder auf der Herrschaft der produzierenden Klasse (wie bei Marx), sondern auf Schuldverhältnissen als Archetyp des gesellschaftlichen Systems. Diese Schuldverhältnisse sind grenzenlos, denn der Kapitalismus besitzt als Grenze nur das Kapital, das er allerdings zu reproduzieren vermag, wodurch sich die Grenzen fortwährend verschieben (vgl. Deleuze/Guattari 1974: 296). Ungefähr zeitgleich zu Deleuze und Guattari arbeitet Michel Foucault seine Thesen zur Subjektivierung des Menschen aus. Obwohl er seine frü-hen Thesen zur Geldpolitik in der Antike nicht explizit anhand seines "Werkzeugkoffers" der Subjektivierungsforschung ausführt, ist die Nähe zur Kritik an der modernen Schuldenökonomie unübersehbar. Schulden-verhältnisse sind "Klassifikationsraster […], nach denen Subjekte […] vorgestellt, unterschieden und entsprechend produziert werden bzw. sich selbst produzieren können" (Reckwitz 2008: 25). Das Schuldenwesen bil-det die neue subjektive Verkörperung des Kapitals: "Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch" (Deleuze 1993: 260). Der Aufruf zur Arbeit am Selbst führt zu einer Ökonomie der Subjektivität, für die das Kreditsystem beispielgebend ist. Schuldverhältnisse lassen sich als "Dispositiv der Produktion und Re-gierung kollektiver und individueller Subjektivitäten" (Lazzarato 2012: 42) lesen. Die Subjektivierung im Kreditwesen des gegenwärtigen Neolibera-lismus hat besonders auf die weniger privilegierten Bevölkerungsteile eine fatale Wirkung. Wenn Kredite vordergründig demokratisch und deproletarisierend wirken, weil sie potenziell allen Menschen die Teilhabe am Konsum ermöglichen, so meint "Deproletarisierung" (Lazzarato 2012: 87) nichts anderes, als die ehemaligen Arbeiter/-innen zu Selbst-Unterneh-mer/-innen zu machen. Die historische Arbeiterklasse trägt nach Lazzarato damit die doppelte Last der Subjektivierung: Wo sich im historischen Kapitalismus sozialer Widerspruch am Fließband äußerte, sei dieser heute internalisiert worden. Die historische Arbeiterklasse sei fragmentiert, die Arbeiter/-innen nähmen sich in der Folge als individualisierte Schuldner/-innen wahr, die durch persönliche Defizite selbst die Schuld an ihrer Notlage trügen. Zu dieser inneren Fabrik der Verschuldung kommt in den Zeiten neoliberaler Gesellschaftsverhältnisse noch der Appell des unternehmerischen Selbst hinzu, die Verantwortung für die eigene (unglückliche) Lage zu übernehmen und selbst für ihre Verbesserung zu sorgen. Aus diesem Dispositiv der Schuldenmacht findet die Arbeiterklasse bei Lazzarato keinen Ausweg mehr: Schulden begründen die Machtasymmetrie in der sozialen Ordnung und reproduzieren die Missverhältnisse durch eine ihnen eingeschriebene naturalisierte Moral. Schuldner/-innen würden moralisch evaluiert, aus der ökonomischen Bonität werde Moralität (vgl. Lazzarato 2012: 63-64). "Schuld wird zum Lebensgefühl der Verschuldeten", Schulden "beginnen als äußerer Zwang, der langsam nach innen kriecht" (Hardt/ Negri 2013: 16, vgl. auch Stimilli 2017). Damit kann das Schuldensubjekt seinen Zwängen nicht entkommen, denn allein Konsum und mit ihm Kre-dit sichern ihm die Teilhabe an der Gesellschaft. In der postmodernen Gegenwart ist der Konsument nach Zygmunt Bauman zur kulturell dominanten Sozialfigur geworden. Ihm gegenüber stehen die Produzierenden als "menschlicher Abfall" ohne soziale Zugehörigkeit. Sobald Letztere aber versuchen, der Aufforderung zum Konsum per Kredit nachzukommen, trifft sie die Kritik der Gesellschaft: "Sobald sie [die Produzenten, S. M.] versuchen, sich dem aktuell propagierten Lebensstil anzupassen, bezichtigt man sie sofort der sündhaften Arroganz, der Vorspiegelung falscher Tatsachen" (Bauman 2005: 60). Die Imperative der Gegenwartsgesellschaft sind so widersprüchlich wie sozial problematisch. Empirische Subjektivierungsforschung Verschuldung als Teil der inneren Fabrik eines Menschen zu lesen, ver-weist auf einen Prozess der Selbstkonstitution als "Objektivierung des Subjekts" (Michel Foucault). Theoretischer Ausgangspunkt der Subjektivierungsforschung ist Louis Althussers Idee der Interpellation oder auch Anrufung: Soziale Rollen werden durch sprachliche Benennung sowie durch Ansprechen und Angesprochenwerden angeboten und zugewiesen. Subjektivierung ist nicht nur, aber auch - und vor allem im Forschungskontext von gesellschaftlicher Exklusion - ein Prozess der sozialen Orientierung mit dem Ziel der Anerkennung und Zugehörigkeit. Der "Kampf um Anerkennung" wird in unterschiedlichen Bereichen (Familie, Politik, Arbeit etc.) ausgetragen und unterliegt einem historischen Wandel; er ist aber grundlegend von der Frage bestimmt, wie Menschen im Prozess ihrer Selbstverwirklichung zu sozialer Mitgliedschaft gelangen können (Honneth 1994). Das Subjekt bestimmt sich also in Relation zur Gesellschaft (vgl. Schmidt 2015: 34). Subjektivierung bezeichnet demnach den Aushand-lungsprozess, in dem Menschen sich in ihrem sozialen Umfeld positionie-ren, sich dabei bestimmte Sinnstiftungen und Handlungsmöglichkeiten er-öffnen und andere verschließen. "Die Menschen treten ständig in einen Prozess ein, der sie als Objekt konstituiert und sie dabei gleichzeitig ver-schiebt, verformt, verwandelt - und der sie als Subjekte umgestaltet" (Foucault 2005: 94). Das Aushandeln der Subjektposition wird dabei nach außen verlagert, nämlich in Diskurse als Ansprache- oder "Aussagesysteme" (Schmidt 2015: 39). Die diskursiven Rahmungen der Selbstthematisierungen weisen histori-sche Formbezüge auf und beruhen auf "institutionellen Veranlassungen" (Hahn 1995: 127). Ihre Reihe von "Formtraditionen und Orientierungs-folien" (Fuchs-Heinritz 22000: 25) reicht von Anamnese, Biografie und Autobiografie, Tagebuch, Brief, Lebenslauf bis zur christlichen Beichte und zur Chronik der Facebook-Seite (vgl. Sutter 2013: 104-105). Der abendländische Mensch ist ein "Geständnistier" (Foucault 1977: 77), das die Pflicht zur Selbstauskunft verinnerlicht hat. Unter dem Begriff der Pastoralmacht verhandelt Foucault die Technik, sich in der Selbstauskunft als subjektivierender Handlungsweise normativen Instanzen zu unterwerfen und sich auch hierbei wiederum selbst hervorzubringen: "das Wort Subjekt hat hier einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein" (Foucault 1987: 246). In der Entwicklung des modernen Staates wird die Pastoralmacht da-durch zur Herrschaftstechnik, dass sie den Wunsch nach Zugehörigkeit und Bekenntnis fördert und über Gehorsamkeit und ihre Kontrolle stellt. Voraussetzung ist der Wille zur Selbsterkenntnis und zur Selbstopti-mierung, der die externe Herkunft der internalisierten Anforderungen verschleiert. Während Foucault in seinen frühen Überlegungen die Macht-herrschaft der Selbsttechniken betonte, wurde er sich in seinem Spätwerk jedoch "mehr und mehr bewußt", dass es neben den disziplinarischen Selbsttechniken "noch einen anderen Typ von Technik gibt: Techniken, die es den Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, daß sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit […] erlangen" (Foucault 1986: 35). Zwar hält Foucault daran fest, dass Menschen sich nicht außerhalb eines historisch gewordenen Machtregimes bewegen und denken können, aber er sieht Macht in seinen späteren Arbeiten weniger deterministisch, sondern eher als ein Feld, in dem sich Individuen spielerisch bewegen und Freiräume kreativ und verantwortungsvoll aneignen. Aus der Selbstkontrolle wird die Sorge um sich im Normalisierungsdiskurs, und "Therapeuten und Sozialarbeiter, Psychiater und Sexualwissenschaftler treten an die Stelle von Richtern und Priestern" (Burkart 2006: 16). Die verantwortungsvolle Selbstsorge ist zur alltäglichen Aufgabe ge-worden (vgl. Burkart 2006; Thomä 1998). Ihre Herkunft aus Therapie- und Beratungskontexten lenkt das Augenmerk auf identitätsstiftende autoepistemische Erzählformen, die eine Besserung der Erzählenden abbilden sollen, und auf die biografische Funktion des Geständnisses in der Hoffnung auf Vergebung und Entschuldung (vgl. Gergen 2002; Hahn/Kapp 1987). Das Interview generiert durch die Befragungstechnik eine Art Beichtsituation mit Selbstprüfung, in der das Subjekt in Form von Erzählungen Gestalt annimmt. Interviewte gehen mit den Zugzwängen des Antwortens unterschiedlich um: Sie manövrieren taktisch, entziehen und unterwerfen sich dem Regime des Fragens und Antwortens zugleich. Die Interviewsituation ist Labor der Subjektivierung. Das Subjekt ist nicht universal und folgt auch keiner rationalen Ent-wicklungslogik. Gleichwohl bildet es im Prozess seiner Konstitution Reak-tionen auf eine strukturierte Umwelt ab (vgl. Kleemann/Matuschek/Voß 22003: 4-5). Deren Einflüsse, externe Sanktionskriterien und Prüfungs-parameter werden jedoch unsichtbar gemacht und die Verantwortung für die kritische Selbstreflexion auf das Subjekt übertragen (vgl. Bogusz 2013: 560). Die Subjektivierungsforschung will diese Kriterien visibilisieren und in ihrer historischen Kontingenz dekonstruieren. So fragt sie vor allem nach den Bedingungen der Subjektivierung, zum Beispiel Produktionsver-hältnisse, soziale Unterschiede, Arbeitsformen oder Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung von Lebensläufen (vgl. Seifert 2015: 11-15). Angestrebt wird dabei ein Gleichgewicht zwischen den beiden Polen der Subjektforschung. Die von Judith Butler einst ausgegebene deterministi-sche Diskursperspektive, "daß das Subjekt eine Folgeerscheinung bestimmter regelgeleiteter Diskurse ist, die die intelligible Anrufung der Identität anleiten" (Butler 1991: 213), ist dabei nicht mehr maßgeblich. Ebenso einseitig ist die Gegenposition, wonach die Subjekte die Diskurse beherrschen und sie in heroischen Akten der Geschichtsschreibung einsetzen, etablieren und verändern. Diskursive Formationen unterliegen nicht dem kontrollierten Zugriff Einzelner: Subjekte "aktualisieren die Diskurse, füllen sie mit Leben, for-dern sie heraus, überschreiten sie - aber sie kontrollieren sie nicht" (Keller 2012: 74). Vielmehr müssen Perspektiven miteinander verschränkt werden, um das komplexe Verhältnis von Diskursen und Subjekten im thematischen Einzelfall zu entflechten und die "Doppelstruktur eines subiectum" freizulegen. Denn das subiectum erscheint als "Zugrundeliegendes" der Erkenntnis und als "Unterworfenes" zugleich (Zima 32010: XI). "Indem sich der Einzelne bestimmten kulturellen Ordnungen unterwirft, die ihm körperlich und psychisch die Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit ›einschreiben‹, kann er erst jene Kompetenzen von Selbstregierung, Expressivität, rationaler Wahl etc. ausbilden, die ein Subjekt ausmachen sollen" (Reckwitz 2008: 78). Es geht dabei um die Selbst- und Fremdwahrnehmung, die Menschen in ihrer Lebensführung dazu bringen, "sich auf ›normale‹ und ›nützliche‹ Weise (entsprechend der ›gesellschaftlichen Situation‹, so wie sie diese ›für-wahr-nehmen‹ und ›erfahren‹) zu sich selbst und zur Welt um sie herum zu verhalten" (Bührmann 2012: 157; vgl. auch Bührmann/Schneider 2008). Indem die Subjektivierungsforschung ihr Augenmerk besonders auf alltägliche Lebenswelten richtet und die Subjekte "trotz ihrer individuellen Spielräume und eigenständiger Leistungen in soziale Zusammenhänge eingebunden" (Seifert 2015: 14) sieht, kann sie beide Perspektiven der Subjektivierungsforschung verschränken und den Dualismus von Struktur und Praxis überwinden. Hierzu bedarf es vor allem präziser Begrifflichkeiten, die den Blick auf die Wirkweisen von Struktur und Praxis freizulegen vermögen. Andrea D. Bührmann bietet für die Frage der Subjektkonstitution zwischen Determination und Freiheit zwei unterschiedliche analytische Akzentuierungen an. Hiernach fragt die Subjektformierung, "wie Menschen auf einer normativ programmatischen Ebene über bestimmte Praktiken oder Programme lernen sollen, sich selbst und andere wahrzunehmen, zu erleben und zu deuten". Diese Art der Diskursforschung steht der Perspektive der Determination nahe und betont die diskursive Strukturierungskraft beispielsweise der rechtlichen Rahmung der Insolvenzordnung oder medialer Repräsentationen in Fernsehsendungen und auf Internetseiten der Schuldnerberatungen.
Erscheinungsdatum | 05.05.2017 |
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Reihe/Serie | Arbeit und Alltag ; 12 |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 142 x 214 mm |
Gewicht | 551 g |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien | |
Schlagworte | Insolvenz • Konsum • konsumkredit • Kultursoziologie (Cultural Studies) • Moral • Narration • Ökonomie • Privatinsolvenz • Privatverschuldung • Schulden • Schuldnerberatung • Selbst • Verschuldung |
ISBN-10 | 3-593-50688-2 / 3593506882 |
ISBN-13 | 978-3-593-50688-3 / 9783593506883 |
Zustand | Neuware |
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