Bildungswege
In demokratischen Gesellschaften hat das Bildungssystem den Auftrag, soziale Ungleichheit zu kompensieren und gleiche Teilhabechancen zu ermöglichen. Empirische Forschungen belegen jedoch, dass Ungleichheitsstrukturen durch das Bildungssystem reproduziert werden. Dieser Band untersucht das Spannungsfeld zwischen Ausgrenzung und Teilhabe aus biographiewissenschaftlicher Perspektive.
Bettina Dausien ist Professorin für Pädagogik der Lebensalter an der Universität Wien. Daniela Rothe ist Professorin für Erwachsenen- und Berufsbildung an der Universität Klagenfurt. Dorothee Schwendowius ist Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Flensburg.
Inhalt
Einleitung9
Bettina Dausien, Daniela Rothe und Dorothee Schwendowius
I Theoretische und methodologische Reflexionen
Teilhabe und Ausgrenzung als biographische Erfahrung - Einführung in eine biographiewissenschaftliche Analyseperspektive25
Bettina Dausien, Daniela Rothe und Dorothee Schwendowius
Milieu, "Passungen" und die biographische Selbstzuschreibung von Erfolg und Scheitern im Bildungswesen69
Helmut Bremer
Subjektwissenschaftliche und intersektionale Perspektiven - Konzeptionelle Überlegungen für eine kritische Forschung zu Bildungswegen in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen97
Christine Riegel
II Erfahrungen und Positionierungen im schulischen Kontext
Prozesse von Teilhabe und Ausgrenzung im Bildungssystem - Biographische Konstruktionen von Studierenden 'mit Migrationsgeschichte'125
Dorothee Schwendowius
"... nur weil ich schwarze Haare hab" - Biographische Selbstpräsentation eines Hauptschülers 'mit Migrationshintergrund' im Feld Schule147
Katrin Huxel
"Auf der Kippe" - Biographische und institutionelle Konstruktionen von Möglichkeitsräumen für Bildungsteilhabe167
Astrid Hebenstreit und Merle Hinrichsen
III Literalität und Grundbildung
Von verhinderter Literalität und Chancen im Erwachsenenalter - Die biographische Bedeutung der Teilnahmean Basisbildungsangeboten193
Antje Doberer-Bey
Die Überwindung der Defizitperspektive - Aktive Lebensbewältigung im Zeichen des Schriftsprachmangels215
Manfred Krenn
Prekäre Übergänge in Biographien funktionaler Analphabeten - Implikationen für pädagogisch-professionelles Handeln237
Birte Egloff
Zwischen Biographieforschung und biographieorientierter Bildungspraxis - Empirische Befunde und Praxiskonzepte im Feld der Grund- und Basisbildung255
Daniela Rothe
IV Biographische und institutionelle Übergänge und ihre pädagogische Begleitung
Die Ausbildung des Übergangs - Überlegungen zur Institutionalisierung einer Lebenslaufphase287
Beatrix Niemeyer-Jensen
Die Bedeutung von Normalitätskonstruktionen in den Biographien von Jugendlichen mit Migrations- und Heimerfahrungen311
Angela Rein
Erfolgreiche Wege "bildungsbenachteiligter" Jugendlicher in duale Ausbildungen - Rekonstruktionen zu Erfolgsbedingungen aus biographieanalytischer Perspektive333
Nina Erdmann
Übergangsbegleitung und Beziehungskontinuität - Zur Bedeutung pädagogischer Professioneller in Bildungsbiographien von 'Sinti'- und 'Roma'-Frauen363
Julia Reimer
Autorinnen und Autoren387
"Der Band zeichnet sich durch lesenswerte Artikel aus, welche zu klar umrissene Themenbereiche der Bildungsforschung ein differenziertes Bild zeichnen. Der Band kann einerseits als Einstiegswerk zu biographieanalytischer Bildungsforschung verwendet werden, da im ersten Teil auch die methodologischen und theoretischen Rahmenbedingungen skizziert werden; andererseits bieten die Artikel auch tiefergehende Einsichten in die Mechanismen, welche hinter Bildungsteilhabe und sozialer Teilhabe wirksam werden." Bernd Liedl, socialnet.de, 31.08.2017
»Der Band zeichnet sich durch lesenswerte Artikel aus, welche zu klar umrissene Themenbereiche der Bildungsforschung ein differenziertes Bild zeichnen. Der Band kann einerseits als Einstiegswerk zu biographieanalytischer Bildungsforschung verwendet werden, da im ersten Teil auch die methodologischen und theoretischen Rahmenbedingungen skizziert werden; andererseits bieten die Artikel auch tiefergehende Einsichten in die Mechanismen, welche hinter Bildungsteilhabe und sozialer Teilhabe wirksam werden.« Bernd Liedl, socialnet.de, 31.08.2017
Einleitung
Bettina Dausien, Daniela Rothe und Dorothee Schwendowius
Prozesse sozialer Ausgrenzung und gesellschaftliche Ungleichheiten werden in den Sozial- und Bildungswissenschaften seit einigen Jahren wieder verstärkt thematisiert. Anlass dafür sind die sichtbaren Verwerfungen gesellschaftlicher Modernisierung wie die steigende Zahl der Langzeitarbeitslosen, die "Rückkehr der Armut" (z.B. Bude 2010; Butterwegge 2012; Neckel 2013; Mau/Schöneck 2015) und die Zuspitzung gesellschaftlicher Verteilungskonflikte sowie neue Formen von Migration, Grenzverschiebungen, Flucht und kriegerische Konflikte, die mitten in Europa virulent sind. Diese Prozesse betreffen nicht nur Strukturen und Politiken auf der Makro- und Mesoebene der Gesellschaft, sie wirken auch in die alltäglichen Lebensverhältnisse, in die biographischen Erfahrungs- und Handlungsräume der Individuen hinein und werfen die Frage nach den Bedingungen für gesellschaftliche Teilhabe auf.
In der Erziehungswissenschaft wird diese Frage vor allem mit Blick auf das Bildungssystem diskutiert. Dieses ist in modernen Gesellschaften in doppelter Weise an der Ermöglichung und Begrenzung sozialer Teilhabe beteiligt. Einerseits trägt es dazu bei, den Individuen kulturelle Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, die notwendig sind bzw. gesellschaftlich als notwendig erachtet werden, um an den komplexen sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen, in denen wir leben, teilhaben und diese mitgestalten zu können. Andererseits ist Bildung als gesellschaftliches Teilsystem, das historisch und funktional eng an nationalstaatliche Interessen und Ordnungen gebunden ist, seinerseits an der Definition und Institutionalisierung von Teilhabebedingungen beteiligt. Über die Vergabe von Bildungszertifikaten wird der Zugang zu unterschiedlichen beruflichen Positionen ermöglicht oder verschlossen und damit die Positionierung der Subjekte im sozialen Raum wesentlich vorstrukturiert.
Bildungssoziologische und erziehungswissenschaftliche Forschungen haben nun vielfach gezeigt, dass diese Vergabe von Bildungschancen nicht nach meritokratischen Prinzipien erfolgt und auch das Versprechen der Chancengleichheit, die soziale Ungleichheiten kompensieren, wenn nicht gar beseitigen soll, keineswegs eingelöst ist (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; Becker/Solga 2012). Die Bildungsinstitutionen sind - offen, vor allem aber vielfach verdeckt - von gesellschaftlichen Differenzkonstruktionen und Machtverhältnissen durchzogen und reproduzieren sie zugleich. Im historischen Rückblick wird sichtbar, dass die Geschichte des Schulsystems aufs engste mit gesellschaftlichen Selektions- und Allokationsfunktionen verbunden ist und die Demokratisierung von Bildungszugängen in der bürgerlichen Gesellschaft noch lange an Klassen- und Geschlechtergrenzen scheitert (vgl. z.B. Friedeburg 1989). Auch in der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Gesellschaft, fünfzig Jahre nach der Bildungsreform, sind offene und subtile Mechanismen der Produktion von Ungleichheit im Bildungssystem noch immer wirksam, wobei unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft neue soziale Teilungsstrukturen hinzugekommen sind.
Im Interesse, die Wirkungsweise von Ungleichheit im und durch das Bil-dungssystem genauer zu verstehen, haben empirische Studien beispielsweise die hierarchische Logik der Anerkennung unterschiedlicher lebensweltlicher Zugänge zu Bildung (vgl. z.B. Helsper u.a. 2009; Wiezorek/Grundmann 2013) oder institutionelle Normen, Regelungen und professionelle Handlungsroutinen herausgearbeitet, die zu Benachteiligungen und Ausschlüssen führen (vgl. Gomolla/Radtke 2009; Dirim/Mecheril 2010; Leeman u.a. 2016), und auch Prozesse auf der Mikroebene gezielt untersucht (vgl. Siebholz u.a. 2013). In Abwandlung einer Charakterisierung, die Pierre Bourdieu (vgl. 1987: 98) für sein Konzept des "Habitus" entwickelt hat, könnten auch Bildungsinstitutionen als "strukturierte und strukturierende Strukturen" bezeichnet werden. S
Erscheinungsdatum | 03.12.2016 |
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Reihe/Serie | Biographie- und Lebensweltforschung ; 13 |
Co-Autor | Helmut Bremer, Bettina Dausien, Antje Doberer-Bey, Birte Egloff, Katrin Huxel, Manfred Krenn, Beatrix Niemeyer, Angela Rein, Daniela Rothe, Dorothee Schwendowius |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 215 mm |
Gewicht | 478 g |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Mikrosoziologie | |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien | |
Schlagworte | Arbeitsmarkt- u. Bildungsforschung • Ausbildung • Bildungsbiografie • Bildungssystem • Biografie • Biografieforschung • Biografiewissenschaft • Integration • Lebenslauf • Soziale Ungleichheit • Soziologie • Teilhabe |
ISBN-10 | 3-593-50632-7 / 3593506327 |
ISBN-13 | 978-3-593-50632-6 / 9783593506326 |
Zustand | Neuware |
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