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Die bezifferte Welt (eBook)

Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74197-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die bezifferte Welt - Colin Crouch
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Ein Staat, der seinen Ärzten 55 Pfund für jede gestellte Demenzdiagnose versprechen will. Firmen, die die Warnungen von Wissenschaftlern und Ingenieuren ignorieren und Sicherheitsmängel nicht beseitigen, weil ihnen die Beseitigung zu teuer erscheint. In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass die Logik des Neoliberalismus trotz der Krise weiterhin auf dem Vormarsch ist. Colin Crouch zeigt, wie sie sich auf alle Lebensbereiche ausdehnt: Schulen, Krankenhäuser und Polizei werden im Rahmen des großen Zahlenspiels umstrukturiert und dem Diktat der Kennziffern unterworfen; aus Studierenden und Fahrgästen sollen Kunden werden, die agieren wie Rechenmaschinen. Auf dem Weg in die »Informationsgesellschaft« bleibt eine zentrale Ressource auf der Strecke: das Wissen selbst.
Colin Crouch zeichnet nach, wie der Neoliberalismus alternative Formen des Wissens und der Expertise korrumpiert und letztlich unsere Gesellschaften gefährdet.



<p>Colin Crouch, geboren 1944, lehrte bis zu seiner Emeritierung Governance and Public Management an der Warwick Business School. F&uuml;r sein Buch <em>Das befremdliche &Uuml;berleben des Neoliberalismus</em> erhielt Crouch 2012 den Preis &raquo;Das politische Buch&laquo; der Friedrich-Ebert-Stiftung.</p>

Colin Crouch, geboren 1944, lehrte bis zu seiner Emeritierung Governance and Public Management an der Warwick Business School. Für sein Buch Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus erhielt Crouch 2012 den Preis »Das politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung. Frank Jakubzik, geboren 1965, übersetzte unter anderem Zygmunt Bauman, G. K. Chesterton, Colin Crouch, Daniel Miller und Franco Moretti.

2. Kapitel
Das Wissen und die Privatwirtschaft


Als das Energieunternehmen BP seine Ölförderung im Golf von Mexiko ausdehnte, wußten die zuständigen Ingenieure, daß dies weitere Sicherheitsvorkehrungen erforderlich machte, und warnten das Management wiederholt, man laufe Gefahr, die entsprechenden Standards zu unterschreiten. Die Finanzfachleute des Unternehmens vertraten jedoch die Auffassung, daß die Berücksichtigung solcher Bedenken das Unternehmen ziemlich teuer zu stehen kommen werde und seine Profitspanne gefährden könne.

Im April 2010 kam es auf der von BP betriebenen Bohrinsel »Deepwater Horizon« zu einer Explosion und in deren Folge zu einem sogenannten »Blowout«. Die Plattform geriet in Brand, elf Menschen kamen ums Leben, gewaltige Teile des Golfs wurden verschmutzt. Es war die schwerste Umweltkatastrophe in der Geschichte der USA. 87 Tage lang strömten gewaltige Mengen Rohöls aus dem Leck, wodurch große Teile des submarinen Lebens zerstört wurden, was wiederum Tausenden Menschen in der Region die Lebensgrundlage entzog. Die Firma BP mußte mindestens 43 Milliarden US-Dollar für Strafen und Schadensersatz aufwenden und immense Reputationsverluste in Kauf nehmen. Im September 2014 urteilte ein amerikanisches Gericht, BP habe »grob fahrlässig« und »bewußt unverantwortlich« gehandelt, wodurch die Schadensersatzansprüche um weitere 18 Milliarden Dollar steigen könnten (allerdings hat das Unternehmen gegen dieses Urteil Berufung eingelegt).

Die Kennzahlen der Finanzfachleute wirkten sich in diesem Fall ganz ähnlich wie eine Autoimmunerkrankung aus: Sie setzten die qualifizierte Einschätzung der Ingenieure und Geologen außer Kraft, letztlich auf Kosten der von ihnen getriebenen Profitoptimierungsstrategie des Unternehmens selbst.

Am 11. März 2011 wurde die japanische Ostküste von einem heftigen Erdbeben erschüttert, auf das ein gewaltiger Tsunami folgte. Zu den dadurch ausgelösten Katastrophen gehörte auch die Beschädigung des von der Tokyo Electric Power Company (Tepco) betriebenen Atomkraftwerks in Fukushima, die zum Austreten nuklear verstrahlter Stoffe und zu einer massiven Gefährdung des bei Reparaturversuchen am Reaktor eingesetzten Personals führte.

Der offizielle Bericht über das Unglück stellt im ersten Absatz fest, daß eine Naturkatastrophe zwar Auslöser des Geschehens war, es sich jedoch bei dem »darauffolgenden Unfall in [Fukushima] um ein grundsätzlich durch menschliches Handeln verursachtes Desaster handelt, das hätte vorhergesehen und verhindert werden können« (National Diet of Japan 2012). Der Bericht der Parlamentskommission kommt weiter zu dem Ergebnis, daß der

 

Unfall auf kollusives Zusammenwirken der Regierung, der Aufsichtsbehörden und der Betreiberfirma Tepco sowie mangelhafte Erfüllung der Aufsichtspflichten der genannten Parteien zurückzuführen ist. Sie haben die japanische Nation regelrecht um das Recht auf Schutz vor nuklearen Unfällen betrogen […]. Wir glauben, daß die tieferen Ursachen in den organisatorischen und regulatorischen Systemen zu suchen sind, die die falschen Grundprinzipien zum Maßstab von Entscheidungen und Handlungen machen, und nicht in Problemen der Kompetenz irgendeines bestimmten Individuums. (Ebd., S. 16).

 

Die Kommission führte diese Mißstände auf spezifische Eigenheiten der japanischen Kultur zurück, vor allem auf einen übertriebenen Respekt vor Hierarchien und organisatorischen Strukturen. Allerdings sind vor der Katastrophe im Golf von Mexiko in der fraglos eher englisch geprägten Firma BP ganz ähnliche Dinge geschehen: Erkenntnisse von Geologen, Ingenieuren und Sicherheitsexperten wurden unterdrückt, weil ihre Berücksichtigung Kosten verursacht hätte, die den Erkenntnissen der Finanzfachleute zufolge höher gewesen wären, als es aus Sicht der Profitziele vertretbar war.

Die Schlagworte »Wissensgesellschaft« und »Informationsgesellschaft« werden heutzutage gern herangezogen, um die Gesellschaft zu beschreiben, in der wir leben oder demnächst leben werden. Wie die Fälle BP und Tepco zeigen, stehen manche Anreize, die die gegenwärtige Wirtschaftsordnung gibt, einer effizienten Nutzung der uns verfügbaren Informationen und Erkenntnisse jedoch diametral entgegen. Das Problem liegt darin, daß das Bestreben, unser Wissen zur ökonomischen Effizienzsteigerung zu nutzen, mit der Annahme verknüpft wird, daß für diese Aufgabe niemand besser geeignet sei als auf Aktionärsgewinne abzielende kapitalistische Unternehmen. Finanzkennzahlen sind zu einer hochprivilegierten, alle anderen Informationen ausstechenden Erkenntnisform geworden, weil sie von entscheidender Bedeutung für Unternehmen wie Banken, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, Hedgefonds, Beteiligungsgesellschaften und andere finanzwirtschaftliche Institutionen sind, die vor allem der Profitmaximierung verpflichtet sind.

Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Dominanz der Finanzdaten allerdings selbstzerstörerische Folgen haben, indem sie andere Formen des Wissens verdrängt, von denen die Zukunft des ganzen Systems abhängt – genau so, wie eine Autoimmunerkrankung dazu führt, daß das Immunsystems eines Lebewesens Teile von dessen Organismus angreift, die für seine Gesundheit unverzichtbar sind.

Wir sollten aus Katastrophen wie denen im Golf von Mexiko und in Fukushima nicht schließen, daß Finanzdaten immer ein schlechter Ratgeber sind, wenn sie andere Entscheidungen nahelegen als andere Informationen. In vielen Fällen kann eine auf Finanzkennziffern gestützte Entscheidung Verschwendung und ineffizienten Umgang mit Ressourcen verhindern helfen. Wichtig ist, daß wir uns klarmachen, in welchen Situationen es zu den oben geschilderten Konflikten kommen kann, weil wir die Möglichkeit im Auge behalten müssen, daß uns die Dominanz der Finanzkennziffern unter Umständen dazu verleitet, Warnungen aus anderen Wissensgebieten zu ignorieren.

Es lassen sich mindestens fünf Formen unterscheiden, die derartige Konflikte annehmen können. Erstens können wie in den Fällen BP und Tepco die Empfehlungen von Finanzfachleuten und Experten anderer Gebiete unmittelbar im Widerspruch zueinander stehen. Zweitens kann ein Unternehmen auf Grund von Profiterwägungen versucht sein, seinen Kunden Informationen vorzuenthalten, die diesen von Nutzen wären. Drittens (und schlimmer) kann das Diktat der Profitmaximierung Marktakteure dazu verleiten, finanzwirtschaftliche oder andere Informationen zum eigenen Vorteil zu verzerren oder zu verfälschen. Viertens können Unternehmen versuchen, bestimmte Erkenntnisse unter ihre Kontrolle zu bringen, um ihre Erzeugung und Verbreitung an ihren Profitinteressen statt am Interesse der Allgemeinheit auszurichten. Etwa, indem sie Druck auf staatliche Stellen ausüben, damit diese bestimmte Forschungsvorhaben bevorzugt fördern und andere fallenlassen, oder aber ganz unmittelbar, indem sie Forschungsvorhaben selber finanzieren. Fünftens schließlich, und im Anschluß an den letzten Punkt, können große Unternehmen versuchen, bestimmte Formen des Wissens in ihr Privateigentum zu überführen und ihres Status als Gemeingut zu berauben. Wir werden im Folgenden alle diese Möglichkeiten diskutieren.

Der Konflikt zwischen Finanzwissen und anderen Wissensformen


Es kommt häufig vor, daß wir aus unterschiedlichen Wissensgebieten unterschiedliche Empfehlungen beziehen. Um ein alltägliches Beispiel zu nennen: Man sagt uns, daß wir, wenn wir abnehmen wollen, bestimmte Nahrungsmittel meiden sollten; andererseits warnt man uns davor, daß manche Diäten eine Mangelernährung zur Folge haben können. In solchen Situationen entscheiden wir uns gewöhnlich dafür, der einen Information den Vorzug vor der anderen zu geben, oder wir versuchen, einen Kompromiß zu bilden. Derartige Dilemmata sind nicht weiter dramatisch.

Problematischer wird es, wenn man Daten eines bestimmten Bereichs systematisch denen aus allen anderen Gebieten vorzieht, denn daraus müssen zwangsläufig erhebliche Verhaltensänderungen resultieren. Und dies droht bei Privatunternehmen und Behörden zu geschehen, wenn sie Finanzkennziffern Priorität vor allen sonstigen Informationen einräumen. Im privaten Sektor resultiert dies daraus, daß die Grundsätze der Unternehmensführung (corporate governance) seit einiger Zeit die Steigerung des Börsenwerts zum obersten oder sogar einzigen Ziel des Managements erklären. Bewertungsgesellschaften beurteilen Unternehmen heute ausschließlich anhand ihrer Börsenperformance, die wiederum von der Höhe des Gewinns abhängt. Einschätzungen zur langfristigen Entwicklung eines Unternehmens spielen keine Rolle mehr, es sei denn, sie schlagen sich zufällig im Aktienpreis nieder. Ein Unternehmen, das in dieser Hinsicht schlecht performt, gilt sofort als Übernahmekandidat. Ähnlich sieht die Situation für viele Staaten aus, die auf Grund zunehmender finanzieller Abhängigkeit von einigen wenigen global operierenden Großbanken gezwungen sind, sich vor allem an deren Prioritäten zu orientieren.

Im privatwirtschaftlichen Bereich gehört es zum Alltagsgeschäft, daß Aktienhändler Fehlinformationen oder Gerüchte verbreiten, um ein Unternehmen als gefährdet dastehen zu lassen und aus dem fallenden Aktienkurs Profit zu schlagen. Bei dem als »Leerverkauf« bekannten Verfahren leiht sich ein Händler Aktien eines Unternehmens, verkauft diese und...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2015
Übersetzer Frank Jakubzik
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abgas-Skandal • Brexit • Cum Ex • Cum-Ex • Das politische Buch 2012 • Finanzmarkt • grexit • Griechenland • Neoliberalismus • Sachbuch • ST 4746 • ST4746 • suhrkamp taschenbuch 4746 • TTIP • Volkswagen-Skandal • VW
ISBN-10 3-518-74197-7 / 3518741977
ISBN-13 978-3-518-74197-9 / 9783518741979
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