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Der Nibelungenmythos im Ersten Weltkrieg: Die Entstehung kontrafaktischer Narrationen und deren Wirkung auf das Geschichtsbewusstsein - Tobias Hermann Kehm

Der Nibelungenmythos im Ersten Weltkrieg: Die Entstehung kontrafaktischer Narrationen und deren Wirkung auf das Geschichtsbewusstsein

Buch | Softcover
120 Seiten
2015
Diplomica Verlag
978-3-95850-985-6 (ISBN)
CHF 62,95 inkl. MwSt
Dieser Arbeit liegt die Fragestellung zu Grunde, wie Mythen sich in ihrem Entstehungsprozess, der sogenannten Metamorphose, verändern, dadurch politisch nutzbar werden und Identitäten schaffen. In den einzelnen Themenbereichen werden dazu die Faktoren, die bei kontrafaktischen Narrationen auf das Geschichtsbewusstsein wirken, herangezogen, um sowohl in der heutigen Gegenwart als auch in der Zeit um und nach dem Ersten Weltkrieg herauszukristallisieren zu können, welches Potential diese Mythen bieten und wie wir als mündige Bürger mit ihnen umgehen müssen bzw. wie die Bevölkerung und das Schulsystem in den Anfängen des 20. Jahrhunderts darauf ansprachen und sie umsetzten.
Neben maßgeblichen Autoren wie Johann Jacob Bodmer, Friedrich Heinrich v. d. Hagen, Heinrich Heine, Friedrich Hebbel, Felix Dahn, Karl Lachmann, Emanuel Geibel, Georg Herwegh, Wilhelm Jordan, Franz v. Liszt u.a. wird speziell ein Schwerpunkt auf Richard Wagners Nibelungen Adaption gelegt.
Wie trug der Mythos zur Kriegsbegeisterung bei bzw. wie konnte er davon ablenken, dass das einzelne Individuum längst nicht mehr zählte und nun die Maschinen herrschten? Warum sollten wir als Lehrkräfte, Eltern gemäß des Beutelsbacher Konsens auf den fruchtbaren und objektiven Umgang mit solch tradierten aber auch aktuellen Mythen hinweisen?

Tobias H. Kehm wurde 1988 in Lich (Hessen) geboren. Nach der gymnasialen Schulbildung und dem Zivildienst studierte er in Gießen an der Justus-Liebig-Universität Lehramt auf gymnasialer Ebene (L3). Neben den Grundwissenschaften Politologie, Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften und Psychologie waren seine Fächer Germanistik und Geschichte.
Interesse am Thema kam ihm durch die in seiner schulischen und akademischen Laufbahn nur selten angesprochene Wichtigkeit von volkstümlichen, propagandistisch aufgeladenen Erzählungen, die jedoch unbestreitbar über Jahrhunderte im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung verankert waren und die Mentalität prägten. Mythen und Legenden sind in einer modernen Gesellschaft nicht tot, im Gegenteil. Noch heute prägen sie unsere Wahrnehmung und das Geschichtsbewusstsein. Damit werden sie sogar zum aktiven, zukunftsgerichteten, politischen Werkzeug. Hieraus entsteht, laut Kehm, eine Aufforderung an die Eltern, Lehrkräfte, Medien etc. nach dem Beutelsbacher Konsens zu handeln und die Heranwachsenden mit einer Vielzahl von Geschichts- und Gegenwartseindrücken vertraut zu machen und sich nicht von den einfachen, in ihrer Komplexität und Objektivität reduzierten Lösungen der modernen Mythenerzähler blenden zu lassen.

Textprobe:
Kapitel 5a, Täuschung oder Aufklärung? Die Ästhetik des Mythos und die Angst vor dem Fremden:
Herfried Münkler erkennt eine Systematik in der Nibelungenrezeption: Es sind die Krisen des Reiches, der Wille zur Nation, die fehlenden Alternativen für einen positiven, eigenen Ursprungsmythos und die Kriege. Etwas Undenkbares war geschehen, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war zerfallen, Franzosen hatten Teile des Landes besetzt, wurden wieder vertrieben und hinterließen eine politisch, kulturell wie demographisch sich neuordnende Nation. Die Ängste des Fremden der neuen Epoche zwangen die Menschen entweder in eine Flucht nach vorne, in einen naiven Fortschritts- und Zukunftsglauben oder ließen ihre Blicke zurückwandern in die archaische, scheinbar wohlgeordnete Zeit ihrer Vorfahren. Das Nibelungenlied wirkte dabei einigend gegen jedwedes Fremde, es bot eine Handlungsanleitung, Tugenden und schillernde Charaktere. Rathäuser, Schulen und sonstige öffentliche Gebäude erhielten Nibelungenfresken, Politiker ließen sich Denkmäler mit Verweisen auf die mythischen Archetypen errichten, aus dem Verteidigungsgebaren wurde erstmals ein Versuch des Ausbrechens aus den europäischen Zwängen (1905) und die Nibelungentreue zum Schlachtruf bzw. zur deutsch-österreichischen Staatsdoktrin (1909).
Der Nibelungenstoff war durch Wagner und seine Zeitgenossen in der Gesellschaft angekommen, Wilhelm Jordan hatte die Anfänge einer Blut-, Zucht- und Rasselehre mit in die Erzählung integriert. Hunderte von Bearbeitungen hatten den Stoff in Motivpartikel unterteilt, die beinahe zu jedem Zweck neu zusammengesetzt und gedeutet werden konnten. Speziell jedoch die letzte Phase des Liedes begann das Geschichtsbewusstsein und die Geschichtskultur der Deutschen zu beeinflussen: Der Untergang der Burgunden an Etzels Hof wurde beispielsweise illustriert durch Zeichnungen und Skulpturen von Ernst Barlach. Düster wurde die Zukunft gezeichnet, selbstzerstörerisch war der Ausbruch aus allen Zwängen, doch schien er unvermeidlich. Dazu brauchte man neue Tugenden - neue Tugenden, die man jedoch in den uralten, archaischen der Vorfahren gefunden zu haben dachte.
Die moderne Zeit stellte neue Anforderungen an den jahrhundertealten Mythos, die Ambivalenz des Epos musste durch geschickte Anpassungen aktuell bleiben. Bismarck, der neue Siegfried, hatte begonnen das Reich zu schmieden und nach seinem Tod sehnte man sich nicht selten wieder nach dem Mitbegründer des Deutschen Reiches. Der Nibelungenmythos lieferte nun den nötigen Optimismus, um nicht nur wehmütig zurückblicken zu müssen und vielleicht auch, um die Augen zu verschließen vor den diplomatischen Fehlern, die die Schlinge um Deutschland und seine wenigen Verbündeten zuzogen. Ist von Mythen in der Politik die Rede, erweckt dies sogleich die Assoziation konservativer, reaktionärer Politik. Zielsetzungen, die einer kritischen Reflexion nicht standhalten würden, eine Verschleierung, Einkleidung benötigen, werden deshalb mit dem Mythenbegriff in Verbindung gebracht. Ein Mythos wird kaum reflektiert, er wird im breiten Volk geglaubt. Oftmals werden die Tendenzen der Aufklärung deshalb mit der der Mythenbildung kontrastiert. Die Frage, die uns hierbei beschäftigen sollte ist jedoch: Greift ein Mythos nicht auch klärend in das Welt- und Geschichtsbild der Menschen ein? Münkler spricht von alten und neuen Unübersichtlichkeiten , die es gelte zu klären, einen Einblick zu erlangen in unüberschaubare Zusammenhänge . Eine essentielle Frage, die wir in der Schuldidaktik nicht unkommentiert lassen sollten, ist deshalb: Ist ein Mythos durch seine Vereinfachung, Stilisierung, Reduktion von Komplexität als aufklärerisch oder als täuschend zu werten?
Die Antwort ist nicht pauschal zu geben, sie ist eine Frage der politischen Einstellung.
Jede Ausrichtung hat ihre eigenen Mythen bzw. Weltanschauungen, beteuert den Wahrheitsanspruch der eigenen und bezichtigt die Oppos

Erscheint lt. Verlag 3.3.2015
Sprache deutsch
Maße 155 x 220 mm
Gewicht 202 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Ethnologie Völkerkunde (Naturvölker)
Schlagworte Nationalismus
ISBN-10 3-95850-985-1 / 3958509851
ISBN-13 978-3-95850-985-6 / 9783958509856
Zustand Neuware
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