Sexualitäten (eBook)
626 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-42108-7 (ISBN)
Volkmar Sigusch (1940-2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er - insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973-2006) - national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch »Sexuelle Störungen und ihre Behandlung« gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie. Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt. Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: »Neosexualitäten« (2005), »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008), »Personenlexikon der Sexualforschung« (2009, zusammen mit Günter Grau), »Die Suche nach der sexuellen Freiheit« (2011), »Sexualitäten« (2013) und »Kritische Sexualwissenschaft« (2019).
Volkmar Sigusch (1940–2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er – insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973–2006) – national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch »Sexuelle Störungen und ihre Behandlung« gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie. Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt. Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: »Neosexualitäten« (2005), »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008), »Personenlexikon der Sexualforschung« (2009, zusammen mit Günter Grau), »Die Suche nach der sexuellen Freiheit« (2011), »Sexualitäten« (2013) und »Kritische Sexualwissenschaft« (2019).
Inhalt 7
Vorwort 11
Kritische Sexualtheorie:Prämissen und Aporien 17
#1 Notwendigkeit der Begriffe, Terror der Theorie 21
#2 Sexualität als gesellschaftlicher Begriff 26
#3 Was ist natürlich am Sexuellen? 29
#4 Das Sexualobjektiv 34
# 5Die Sexualform 36
#6 Die Geschlechtsform 42
# 7 Metaphysik des Geschlechts 45
#8 Der »heilige Eros« 47
#9 Sexus potior, Sexus sequior 50
#10 Die Liebesform 53
#11 Die Sexualpersonalität und die Differentia sexualis specifica 57
#12 Begriff der Gesellschaft und Sexualtheorie 63
#13 Einzelnes Allgemeines und Gesellschaft, Innen und Außen 80
#14 Notwendigkeit und Kritik der Kritik 84
#15 Wissen als gesellschaftlicher Fetisch 88
#16 Transgressionen oder Metamorphosen von Leben und Tod 92
#17 Theorem der Hylomatie 97
#18 Paradoxaler Status der Scientia sexualis 99
#19 Feminismus und Sexualwissenschaft 104
#20 Kritik des patriarchalen Sexismus 108
#21 Differentia generum, Differentia generis specifica 113
#22 Aporie des Mann-Frau-Verhältnisses 116
#23 Logik der Differentia generum 119
#24 Prämissen Kritischer Sexualwissenschaft 127
#25 Notwendigkeit der Empirie 131
#26 Ein epistemologisches Missverständnis: Furor naturalis 133
#27 Eine vergebliche Suche: Furor causalis 138
#28 Getrennte Einheit Körper/Seele 140
#29 Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft 145
#30 Grundannahmen einer Theorie der Psychosexualität 153
#31 Drang, Begierde oder Trieb? 169
#32 Salz der Sexualwissenschaft 189
#33 Der irreduzible Sexualrest als Substanz des Sexuellen 193
#34 Das Krankheits- und das Operationsobjektiv 195
#35 Sexualwissenschaft als gesellschaftliche Einrichtung 202
#36 Was also ist das Sexuelle? 207
Mundus sexualis: Paläo- und Neosexualitäten 221
#37 Inthronisation des Königs Sex 223
#38 Neosexuelle Revolution 228
#39 Dissoziation von Reproduktion und Sexualität 237
#40 Dissoziation von Geschlecht und Sexualität 239
#41 Transsexuelle und ihr Wunsch 243
#42 Zissexuelle und ihre Abwehr 246
#43 »Neogeschlecht« und die Ansichten Betroffener 250
#44 Geschlechterdistinktion, Gender Blending und Liquid Gender 252
#45 Nosomorpher Blick 256
#46 Thesen als Prothesen 260
#47 Intergeschlechtliche und ihr Aufbruch 267
#48 Dissoziation von körperlicher Reaktion und Erleben 274
#49 Ambra, Zibet, Viagra und der Wille zur Selbsterregung 276
#50 Der Phallus, der Penis und die symbolische Ordnung 280
#51 Dissoziation der aggressiven von der zärtlichen Sphäre 283
#52 Infantile Erotik und das reine Kind als Gegenbild 286
#53 Die infantile Sexualität und die Medizin 292
#54 Die infantile Not 295
#55 Differente Übergriffe, Traumatisierungen und Täter 298
#56 Pädophilie und Pädosexualität 303
#57 Dissoziation von personaler Beziehung und sexuellem Erleben 307
#58 Objektophilie und die Ansichten Betroffener 309
#59 Dispersion der Sexualfragmente 318
#60 Shopsex 331
#61 Politische Pornografen und die Heuchelei der Pornophilen und Pornoklasten 333
#62 Anachronistischer Dienst am sexuellen Elend und die Kopulation der Klischees 336
#63 Ein Besuch im Sexkino 340
#64 E-Sex als emergente Neosexualität 342
#65 Neoallianzen oder Diversifikation der Lebens- und Beziehungsformen 349
#66 Schwule in Bewegung oder Differenzierung der Homosexualität 355
#67 Lesben in Bewegung 361
#68 Bisexuelle 365
#69 BDSM/Sadomasochismus 368
#70 Perverse und normale Sexualität 373
#71 »Perversion« der Perversion 383
#72 Von den Perversionen über die Paraphilien zur Sexualsucht 387
#73 Neozoophilie als Neoallianz 394
#74 Portalsex und Polyamorie als Neoallianzen 403
#75 Keine allgemeine Moral 408
#76 Individuell-intime Konsensmoral 412
#77 Prostitution, Sexarbeit 415
#78 AIDS als Krankheit und Blendwerk 422
#79 Wandel als Große Erzählung 430
#80 Diskursive vs. nichtdiskursive Sexualität:Diskursfiguren 432
#81 Erhellende und verdunkelnde Fakten 434
#82 Wohllust der Jugend 444
#83 Paarsexualität 454
#84 Silver Sex 461
#85 Gesundheitsgewinn gelebter Sexualität 467
#86 Kritik der sexualmedizinischen Fachsprache 469
#87 Kritik der psychoanalytischen Orgasmuslehre 472
#88 Vom Kommen und Gehen sexueller Störungen 477
#89 Freuds Abschied von der Sexualität 482
#90 Asexualität und die Ansichten Betroffener 487
#91 Paradoxale Verhältnisse 494
#92 Selfsex und Lean Sexuality als neue Paradigmen 506
#93 Vielsagende Nachrichten aus der neosexuellen Revolution 511
#94 Neosexuelle Involution 523
#95 Neosexualitäten vs. Paläosexualität 529
#96 Sexogenerischer Kern 544
#97 Auf der Suche nach einer Ars erotica 548
#98 Kostbarer Fetisch Liebe 561
#99 Geht das sexuelle Zeitalter zu Ende? 568
Literatur 585
Sachregister 618
Ein Stein ist mir vom Herzen gefallen. Vor Jahren forderte mich eine Rezensentin des Buches 'Anti-Moralia' auf, die verstreuten Bemerkungen zu einer neuen Kritischen Sexualtheorie zusammenzuführen. Diese Aufforderung hat mich in den letzten Jahren begleitet. Mit dem Erscheinen der vorliegenden 99 Fragmente lege ich das vor, was mir möglich ist.
Die Sexualwissenschaft hat in 150 Jahren so viele Daten aufgehäuft, Schicksale dargestellt, Debatten geführt, Thesen formuliert, Sumpfblüten produziert und Termini in die Welt gesetzt, dass es mir notwendig zu sein scheint, den ungeheuren Faktenberg, den ungeheuren Meinungswust, den niedergelegten Erfahrungsschatz, aber auch die Affirmationen, Ausblendungen, Irrtümer und Privatheiten, die ich in meiner 'Geschichte der Sexualwissenschaft' (2008) beschrieben habe, mit dem Versuch einer begrifflichen Bestimmung, ja mit dem Grundriss einer allgemeinen Sexualtheorie zu konfrontieren - in der Hoffnung, Getrenntes zusammenzuführen, Beliebigkeiten zu überwinden, Ideologisches zu enttarnen, ohne zu sagen: wie nun alles einzig zu sehen sei.
Die Haltbarkeit aller Sexualtheorien ist zeitlich begrenzt, weil die menschliche Sexualität nichts ist, was seit Jahrtausenden unverändert wäre wie der Salzgehalt des Blutes. Im 20. Jahrhundert haben sich drei sogenannte sexuelle Revolutionen ereignet, die letzte, von mir neosexuelle Revolution genannt, begann vor drei Jahrzehnten. Die Umcodierung und Umwertung der alten Geschlechts-, Liebes- und Sexualformen ist dadurch in den Ländern des Westens so einschneidend gewesen, dass wir theoretisch und praktisch umdenken müssen. Allein die technologische, kulturelle und personale Trennung der Fortpflanzungssphäre von der Sexualsphäre hat die alten Theorien entwertet. Noch aber zehren wir vor allem von Sigmund Freuds 'Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie', die vor mehr als einhundert Jahren erschienen sind. Dabei denken, fühlen, arbeiten, lieben, leben und sterben wir heute anders.
Als Michel Foucault vor Jahrzehnten zurückblickte, sah er vier strategische Komplexe seiner unsere Sexualität erfindenden Wissens- und Macht-Dispositive. Diese vier historischen Einschnitte waren: die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung der kindlichen Sexualität, die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und die Psychiatrisierung der perversen Lust. Heute gelten diese Beobachtungen nicht mehr. Heute beschreiben wir stattdessen vor allem die Resexualisierung der weiblichen Sexualität, die Tabuisierung und den Missbrauch der kindlichen Sexualität, die Ungleichbehandlung der Geschlechter, das Auseinanderfallen von Sexualität und Fortpflanzung, das Abdanken von Heterosexualität und Ehe als einzige Lebens- und Liebesmodelle sowie die Kulturalisierung und partielle Anerkennung vordem als pervers klinifizierter Sexualitäten. Vor wenigen Jahrzehnten hätten die Bewohner Mitteleuropas nicht für möglich gehalten, was wir heute erleben: In 'wilder Ehe' Lebende oder offen homosexuell Begehrende können höchste Staatsämter einnehmen, gehen eine staatlich anerkannte Lebenspartnerschaft ein. Transsexuelle können ihr Geschlecht wechseln, mit oder ohne Operation. Bisexuelle können gleichzeitig mit einem Mann und einer Frau intim verbunden sein. Sadomasochisten können im Fernsehen demonstrieren, wie manfrau sich ohne böse Folgen verletzt. Im Internet können Singles in zahllosen Portalen einen Partner suchen, der ihren Vorstellungen entspricht. Dort werden ohnehin alle undenkbaren sexuellen Vorlieben weltumspannend präsentiert. So können natürlich auch Pädophile unbehindert von Aufsichtsbehörden im Internet hunderttausende Fotografien nackter Kinder zur sexuellen Stimulation benutzen. Selbst ein Kannibale findet ein menschliches Objekt. Gleichzeitig werden die sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmungsrechte der Frauen abgebaut und Sexualstraftäter rücksichtsloser bestraft. Ein Beispiel für die insgesamt paradoxalen Verhältnisse.
Merkwürdiger- und bedauerlicherweise hat sich, von ganz ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die akademische Soziologie trotz der enormen Transformationen bisher nicht in der Lage gesehen, Sexualität, Kultur und Gesellschaft kritisch zusammen zu denken (Sigusch 2010b). Und auch die Psychoanalyse und die aus wenigen Personen bestehende akademische Sexualwissenschaft kamen über verstreute Ansätze nicht hinaus. Die verbleibenden Wissenschaften schweigen ohnehin oder tischen uralte biologistische Ladenhüter auf. So blieb es oft bei Theoremen, die vor mehr als einhundert Jahren aufgestellt worden sind, als hätten sich seither Gesellschaft, Kultur und Leben bei uns nicht drastisch verändert. Dabei gab Sigmund Freud schon vor der vorletzten Jahrhundertwende als Theoretiker zu bedenken, dass man immer ein Kind seiner Zeit bleibe.
Kritische Sexualwissenschaft, die immer wieder von den Universitäten vertrieben wird, ist weiterhin notwendig, weil unsere vor einigen Jahrhunderten als allgemeine kulturelle Form entstandene Paläosexualität noch nicht ganz in Vollzug, Marktförmigkeit, Apathie und Aggression untergegangen ist. Nach der zweiten sexuellen Revolution hatte die Medizin der Sexualwissenschaft einen kleinen Finger gereicht, den sie jetzt wieder wegzieht, weil vor allem Neurowissenschaften die Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen versprechen. Da die Medizin immer mehr zur Hure der Ökonomie wird, haben kritische Sexualwissenschaft und kritische Sexualmedizin jenseits der Pharmaindustrie keine Chance mehr. Sich um missbrauchte Kinder, vergewaltigte Frauen, sexsüchtige Männer, einen Geschlechtswechsel ersehnende Transsexuelle, tote Gegenstände Liebende, im Iran verfolgte Homosexuelle usw. kümmern, ist unergiebig, wirft keinen Gewinn ab. Und auch medial ist kritische Sexualwissenschaft ein Trockengebiet. Die Feuchtgebiete überlässt sie anderen.
Doch das sexuelle Elend dauert an, die Einsamkeit, die Selbstbezüglichkeit, die Unvereinbarkeit, die Mystifikation, drapiert durch Neosexualitäten, Neogeschlechter und Neoallianzen, die noch um ihre kulturelle Anerkennung kämpfen. Ein Blick auf die Leistungen der Kritischen Sexualwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zeigt, warum eine solche Wissenschaft theoretisch und praktisch benötigt wird. Die Kluft zwischen der diskursiven und veröffentlichten Sexualität einerseits und dem realen und unveröffentlichten Sexualleben der allermeisten Bürgerinnen und Bürger andererseits ist gewaltig.
Wichtig ist mir außerdem zu sagen, dass ich als ein weißer Mann aus Mitteleuropa spreche, der bewusst zwei politische Systeme erlebt hat, das ost- und das westdeutsche. Es spricht also nicht ein Mann aus China oder eine schwarze Frau aus Afrika. Ich sage das, weil ich davon überzeugt bin, dass 'unsere' Sexualität als kulturell-gesellschaftliche Form nur in Europa und in Nordamerika existiert.
Wichtig ist mir auch zu sagen, dass angesichts der heutigen Komplexität der Forschungsverhältnisse und des Forschungsgegenstandes der eigene Horizont benannt und bedacht werden sollte. Denn selbstverständlich blickt ein Mediziner anders auf einen Gegenstand oder eine Szene oder überhaupt in die Welt als ein Philosoph. Mein Horizont umfasst das Studium der Medizin sowie begrenzt der Psychologie und Philosophie, Praxis in mehreren medizinischen Fächern, darunter insbesondere Psychiatrie, Psychotherapie, Gynäkologie und Sexualmedizin, Forschung zunächst vor allem sozialpsychologisch in empirischer und experimenteller Richtung, später klinisch-therapeutisch, kulturtheoretisch und sexualhistorisch sowie Lehre als Professor für Sexualwissenschaft im Fachbereich Medizin und für Spezielle Soziologie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften.
Mein Bemühen kreist um Sexualität als kultureller und gesellschaftlicher Begriff, nicht als physiologischer oder psychologischer. Denn selbst die Liebe ist in erster Hinsicht ein kulturell-gesellschaftliches Ereignis und nicht ein psychologisch-biologisches. Um das zu erkennen, genügt ein schweifender Blick über die europäischen Jahrtausende seit der Antike. Grob gesagt, geht kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Sexualtheorie aufs Allgemeine, psychologische aufs Besondere. Deshalb kann der soziologische Theoretiker übers Ganze sprechen, der psychologische aber eigentlich nur über einen Menschen, weil kein individuell-personales Sexual-, Liebes- und Geschlechtsleben mit einem anderen identisch ist. Wie sich die in diesem Buch erörterten sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen seelisch im einzelnen Individuum niederschlagen, muss eine entsprechend reflektierte Höhen- und Tiefenpsychologie im Einzelnen untersuchen.
Mir geht es nicht vorrangig um das Personale wie Affektregulation, Frustrationstoleranz, Selbstschutzverhalten, Symbolisationsfähigkeit, Selbstgefühl, Objektkonstanz, Schamvermögen usw. Eine Sexualpsychologie werde ich nicht bieten, einmal aus Nichtkönnen, andermal aus Nichtwollen. Denn, so sagte es Theodor W. Adorno, 'der umstandslose Ansatz beim Individuum ist Ideologie' (Adorno und Krakauer 2008: 289). Ich werde also überwiegend als Nichtpsychologe sprechen, der es den psychologischen Wissenschaften überlässt, seelentheoretische Schlüsse zu ziehen. Bemüht habe ich mich aber, nicht in einen soziologischen Jargon zu verfallen, nach dem Liebe die 'Inklusion der Vollperson' ist und Sexualität 'der symbiotische Basismechanismus der Intimkommunikation'.
Diese Position schließt ein, dass auf der Subjekthaftigkeit des Sexuellen bestanden wird, weil das Objektivale und Objektive vorgängig ist. Wird alle Lust verordnet, muss das Anarchische und Widerständige des Sexuellen betont werden, als verzweifelte Suche nach Gegenbildern und Gegenrealitäten im Zustand der generellen Versachlichung. Das Subjekt ist aus weiten Bereichen der Philosophie verschwunden, das Individuum ist objektiv belanglos, doch die Sexualwissenschaft muss an allem festhalten, Subjekt, Individuum, Wunsch und Befriedigung, will sie nicht ins Leere fallen und es jener Sexologie gleichtun, deren geistige Beweglichkeit schon lange der der Warenhauskataloge entspricht. Denn trotz aller Vergesellschaftung ist Sexualität nur individuell wirklich.
Indem nach den geschichtlich?theoretischen Prämissen und Aporien einer Kritischen Sexualtheorie gefragt wird, indem das rätselhaft Sexuelle von den allgemeinen Sexualformen und dem kommerzialisierten Sex unterschieden und der wissenschaftliche Status ebenso wie die Praxis der Sexologie problematisiert wird, geht eine Kritische Sexualtheorie durch die Freud'sche Psychoanalyse, aber auch durch die Kritik der Politischen Ökonomie und die Kritische Theorie hindurch - und vor allem zu affirmativer oder bloß fortschrittlicher Sexologie auf Distanz. Der Kritik unterliegt die Sexualität als ideologische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Form. Als gesellschaftliche Form unterliegt sie der Kritik, weil Lust und Macht, Begierde und Gewalt, Liebe und Tausch, sexueller Vollzug und allgemeine Verstofflichung ineinanderliegen, wenn Individuum und Gesellschaft nicht nur im Kopf der Theoretiker zusammengebrannt sind, sondern tatsächlich; als Begriff, weil das wissenschaftlich disziplinierte Sexuelle zum undisziplinierten im Widerspruch steht, die Unwahrheit jeder Sexualwissenschaft verratend; als Ideologie, weil das gesunde und glückliche Sexualleben nun einmal die Ideologie seiner Verhinderung ist.
Müsste ich meine Thesen auf ihren gemeinsamen Kern reduzieren, würde ich am ehesten sagen: Alle Sphären des Sexuellen, von der großen Liebe bis zum perversen Triebdurchbruch, bilden eine Einheit: die des ungelösten Widerspruchs. Weil der Widerspruch aus allgemeinem Grund ungelöst ist, ist keine in sich harmonische Möglichkeit des Sexuellen zu erkennen. Zwischen dem sexuellen Wunsch und seiner Befriedigung gähnt ein Abgrund, der nur überbrückt werden kann durch objektiv bestimmte Formen, also durch Sexualität, also durch Diszipliniertes und Erstarrtes. Noch aber gibt es die Geheimnisse der sexualpersonalen Erregung und die unkalkulierbare Befriedung durch die intersubjektive Liebe.
Damit sei angedeutet, dass ich die Dinge keineswegs nur pessimistisch sehe. Ich bin davon überzeugt, dass es gut und richtig ist, in der Theorie äußerst kritisch und das heißt leider oft pessimistisch zu sein, in der Praxis aber so optimistisch wie nur irgend denkbar. Anders könnten wir ja als Sexualmediziner und Psychotherapeuten Patienten gar nicht beraten und behandeln. Auch die neosexuelle Revolution sehe ich bei Weitem nicht so negativ wie einige angedeutet haben. Sie hat einige Liberalisierungen gebracht, die Menschen das Leben erleichtern. Verglichen mit früheren Zeiten sind heute unsere Geschlechtsbeziehungen außerdem gleichberechtigter und unsere Intimbeziehungen ehrlicher.
Von unseren großen Philosophen haben wir gelernt: Meinungen und Betrachtungen sind ohne Begriffe blind, Begriffe aber sind ohne Meinungen und Betrachtungen leer. Aus diesem Grund werden in diesem Buch nicht nur Begriffe eingeführt, sondern auch durch praktische Beispiele aus der gegenwärtigen Sexualkultur mit Leben gefüllt. Insgesamt bleibt zu kritisieren, was ist, so wie es ist, ohne den Anschein zu erwecken, wir wüssten, wie ein 'richtiges' Sexualleben beschaffen wäre. Eine Kritische Sexualtheorie verträgt sich nicht mit absoluten und letzten Gewissheiten. Die vorliegenden Theoreme und sonstigen Fragmente sind für mich ein 'Werkzeugkasten' im Sinne von Michel Foucault. Möge er hier und da hilfreich sein.
Mein Dank gilt nach Jahrzehnten der Zusammenarbeit im Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft vor allem Martin Dannecker, Agnes Katzenbach, Bärbel Kischlat und Reimut Reiche. Dem Campus Verlag, insbesondere seiner Wissenschafts-Chefin Judith Wilke-Primavesi, danke ich erneut für die vertrauensvolle und anregende Zusammenarbeit.
Erscheint lt. Verlag | 10.9.2013 |
---|---|
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Wirtschaft | |
Schlagworte | Asexualität • Geschlecht • Heterosexualität • Homosexualität • Internet • Liebe • Michel Foucault • Neosexualität • Sex • Sexualforschung • Sexualität • Sexualmedizin • Sexualtheorie • Sigmund Freud • Transsexualität • Trieb |
ISBN-10 | 3-593-42108-9 / 3593421089 |
ISBN-13 | 978-3-593-42108-7 / 9783593421087 |
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