Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Erben in der Leistungsgesellschaft

(Autor)

Buch | Softcover
246 Seiten
2013
Campus (Verlag)
978-3-593-39867-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erben in der Leistungsgesellschaft - Jens Beckert
CHF 54,60 inkl. MwSt
Theorie und Gesellschaft

Herausgegeben von Jens Beckert, Rainer Forst, Wolfgang Knöbl, Frank Nullmeier und Shalini Randeria


Kaum eine Institution ist für die Reproduktion sozialer Ungleichheit so bedeutsam wie die Vererbung von Vermögen. Doch Erbschaften widersprechen dem Leistungsprinzip, mit dem in modernen Gesellschaften soziale Ungleichheit gerechtfertigt wird.
  • Wie gehen wir mit diesem Widerspruch um?
  • Welche Kontroversen entspannen sich um die Vermögensvererbung?
  • Welche normativen Ansprüche werden im Erbrecht reguliert?
Mit Bezug auf die Erbschaftssteuer, das Pflichtteilsrecht und die wirtschaftlichen Folgen erbrechtlicher Regulierung diskutiert Jens Beckert diese Fragen.

Jens Beckert ist Professor für Soziologie und Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.

Inhalt

Dank ... 7
Einleitung ... 9

Teil I • Erbschaft und Moderne

Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung ... 23
Im Würgegriff der toten Hand, Mit Peter Rawert ... 37
Erbschaft und Leistungsprinzip: Dilemmata liberalen Denkens ... 41
Lachende Erben? Leistungsprinzip und Erfolgsorientierung am Beispiel der Eigentumsvererbung ... 65
Erbschaft als unverdientes Vermögen und als Kapital für Investitionen und Arbeitsplätze ... 73

Teil II • Die historische Entwicklung des Erbrechts

Die longue durée des Erbrechts: Diskurse und institutionelle Entwicklung in Frankreich, Deutschland und den Vereinigten
Staaten seit 1800 ... 87
Demokratische Umverteilung: Erbschaftsbesteuerung und meritokratisches Eigentumsverständnis in den USA ... 129

Teil III • Erbschaftssteuern

Wie viel Erbschaftssteuern? ... 153
Der Streit um die Erbschaftssteuer ... 179

Teil IV • Aktuelle Herausforderungen für das Erbrecht

Familiäre Solidarität und die Pluralität moderner Lebensformen: Eine gesellschaftstheoretische Perspektive
auf das Pflichtteilsrecht ... 195
Gesellschaftspolitische Herausforderungen für das Erbrecht ... 217

Literatur ..................................................................................... 229
Quellen ...................................................................................... 245

Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung Seit über zweihundert Jahren zählt die Regulierung des Vermögensübergangs von Todes wegen zu den Hauptanliegen von Sozialreforme rn. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Reform des Erbrechts ein dringendes Anliegen von Denkern und Politikern wie Montesquieu, Rousseau, Mirabeau, Thomas Jefferson, Alexis de Tocqueville, Blackstone, Hegel, Fichte und John Stuart Mill. Sie alle waren sich über die Bedeutung einig, die ein Erbrecht, das auf den Prinzipien der Individualität, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und der Gleichheit aller vor dem Gesetz beruht, für die Umgestaltung der gesellschaftlichen und familiären Ordnung hat. Sozialreformer hielten die private Vererbung von Vermögen oft für äußerst problematisch. Die Reform des Erbrechts wurde daher als ein wesentliches Instrument der Gesellschaftsreform betrachtet, mithilfe dessen die feudale Ordnung aufgelöst und die bürgerliche Ordnung verwirklicht werden konnte. Sozialreformer verbanden mit der Vermögensvererbung die für aristokratische Gesellschaften charakteristische Perpetuierung von Statusprivilegien, die im Widerspruch zu grundlegenden bürgerlichen Werten wie Gleichheit und Leistungsorientierung stand. Diese Werte sind aufs Engste mit der Entfaltung der modernen Gesellschaft verbunden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1951) etwa beschrieb Gesellschaftsentwicklung anhand der von ihm defi nierten fünf pattern variables, die je zwei entgegengesetzte Ausprägungen zur Beschreibung der Grundstrukturen sozialer Beziehungen und Institutionen vorsehen. Während die sozialen Beziehungen in traditionellen Gesellschaften durch Affektivität, Kollektivorientierung, Partikularismus, Diffusität und Askription gekennzeichnet sind, werden sie in modernen Gesellschaften durch affektive Neutralität, Selbstorientierung, Universalismus, Spezifi tät und Leistung charakterisiert. Im Folgenden werde ich die in einer der Pattern Variables zum Ausdruck gebrachte Gegenüberstellung näher erörtern: den Unterschied zwischen Askription und Leistung. Unter Askription versteht man die institutionelle Zuweisung eines sozialen Status, basierend auf Merkmalen, die einem Menschen qua Geburt zugeschrieben werden. Einer Person werden bestimmte Rechte, Pfl ichten, Rollen oder Privilegien übertragen, die auf der sozialen Stellung ihrer Eltern oder auf Merkmalen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalität beruhen. Demgegenüber besagt der Begriff »Leistung«, dass Vermögen und sozialer Status aufgrund des tatsächlichen Leistungsbeitrags der Gesellschaftsmitglieder verteilt werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Vermögensübertragung von Generation zu Generation schwer mit den normativen Prinzipien moderner Gesellschaften vereinbar. Ererbtes Vermögen fällt dem Erben »mühelos« zu, durch den Tod eines anderen. Indem die Vermögensvererbung den Fortbestand sozialer Privilegien sichert, steht sie im Widerspruch zu einer Vermögensverteilung, bei der Ungleichheit auf unterschiedlichen individuellen Leistungsbeiträgen beruht. Außerdem verletzt die Vermögensvererbung das Prinzip der Chancengleichheit, das möglichst gleiche Startbedingungen für alle verlangt. Wie lässt sich die »unverdiente « Erlangung von Vermögen im Kontext einer Gesellschaftsordnung rechtfertigen, die soziale Ungleichheit als Ergebnis der unterschiedlichen persönlichen Leistungsbeiträge ihrer Mitglieder legitimiert? Doch ist für unsere heutigen Gesellschaften die Vermögensübertragung von Generation zu Generation wirklich noch ein Problem? Das Thema der Vermögensvererbung beschäftigte Sozialreformer von der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als es aus der öffentlichen Debatte fast gänzlich verschwand. Heutzutage ist es ein Randproblem, das zwar gelegentlich auftaucht, aber keine sozialpolitischen Kontroversen mehr entfacht. Doch diese Beobachtung ist, für sich allein genommen, nicht interessant. Denn man könnte ja vermuten, dass das Recht nach einhundertfünfzig Jahren der Reform schließlich »modern« geworden ist und sich der sozialpolitische Diskurs anderen Themen zuwenden kann. Ich werde jedoch zeigen, dass dies nicht die ganze Geschichte ist. Vielmehr können wir seit vierzig Jahren in entscheidenden Bereichen des Erbrechts einen backlash beobachten, durch den mit dem Versprechen der Aufklärung gebrochen wird, Askription durch Leistung zu ersetzen. Daher also die Frage: »Sind wir noch modern?« Zunächst werde ich drei Reformbereiche des Erbrechts darstellen, die für liberale Reformer seit dem späten 18. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung sind: Änderungen des gesetzlichen Erbrechts, die Abschaffung der Fideikommisse sowie die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer. Ich werde zeigen, wie die Änderungen in diesen Rechtsbereichen als Anerkennung der Werte Gleichheit, Leistungsorientierung und soziale Gerechtigkeit aufgefasst werden können. Anschließend werde ich darlegen, dass in zweien dieser Bereiche seit vierzig Jahren eine Gegenbewegung zu verzeichnen ist, die die früheren Errungenschaften deutlich schmälert. Doch ist all das wirklich problematisch? Müssen wir uns immer noch um die Debatten kümmern, die vor zweihundert Jahren mit Leidenschaft geführt worden sind? Sind die normativen Prinzipien des 18. und 19. Jahrhunderts heute noch relevant? Im letzten Teil werde ich die Frage erörtern, welche Bedeutung die diagnostizierte Gegenbewegung für die Gesellschaft und für das Konzept der Modernisierung hat. 1 Erbrecht und Familie Zunächst also zu den Reformen des gesetzlichen Erbrechts und ihren Folgen für die familiären Beziehungen. Historische Analysen zeigen, dass den Reformen des Erbrechts eine entscheidende Bedeutung für politische und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse beigemessen wurde (Beckert 2004). Eines der Ziele der Erbrechtsreformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bestand darin, die Struktur von Familienbeziehungen zu ändern. Diese Änderungen wurden gleichzeitig als Teil der Reformen der politischen Ordnung betrachtet. Die Erbrechtsreform, die in Frankreich während der Revolution erfolgte, bringt dies klar zum Ausdruck. Sie zielte auf eine Änderung der Familienstrukturen, indem sie Gleichheit zwischen den Kindern anstrebte, die väterliche Willkür bei Erbentscheidungen reduzierte und mit der dynastischen Reproduktion von Reichtum in den Adelsfamilien brechen wollte. Der durch die Erbrechtsänderungen bewirkte Wandel der Familienstrukturen war außerdem ein Mittel, um die gesellschaftlichen Bedingungen für demokratische politische Strukturen zu schaffen. In Frankreich betrachtete man die auf größerer Gleichheit beruhenden Familienbeziehungen als die Fundamente, auf denen die Sozialstrukturen des neuen politischen Gemeinwesens errichtet werden sollten. In einer immer wieder verwendeten Metapher wurde die Familie als die »Zelle« der Nation beschrieben, deren Struktur entscheidenden Einfl uss auf die Beschaffenheit der politischen Ordnung haben würde. Familienangelegenheiten waren somit auch immer eine »affaire d’État«. Diese normativen und politischen Überzeugungen spiegelten sich in verschiedenen Reformen wider. Die erste war die Abschaffung des Erstgeburtsrechts, die in dieser Zeit in den meisten europäischen Ländern erfolgte. Bemerkenswerte Ausnahme war England, wo dieses Recht erst 1925 abgeschafft wurde. In feudalistischen Gesellschaften spielte das Erstgeburtsrecht eine wichtige Rolle bei der generationenübergreifenden Bewahrung wirtschaftlicher und politischer Macht, weil das Vermögen im Erbgang nicht zwischen den Geschwistern aufgeteilt wird. Seine Abschaffung trug dazu bei, mit dieser Gesellschaftsordnung zu brechen. Weitere Reformen des gesetzlichen Erbrechts betrafen die Gleichstellung von Söhnen und Töchtern sowie die Rechte des überlebenden Ehepartners am Nachlass des Verstorbenen. Während Söhne und Töchter die Gleichheit vor dem Gesetz mit der Abschaffung des Erstgeburtsrechts erlangten, war die Stärkung des Erbrechts des überlebenden Ehepartners ein lang andauernder Prozess, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Abschluss fand. Hierbei geht es großenteils um die Frage der Gleichstellung von Mann und Frau. Das Eigentumsrecht begünstigte die Männer. Im Gewohnheitsrecht (Common Law) kam dies am deutlichsten zum Ausdruck. Dort war festgelegt, dass die Verfügungsrechte über das Eigentum einer Frau bei ihrer Heirat an ihren Ehemann übergingen. Das bewegliche Vermögen der Ehefrau wurde dem Ehemann übertragen und somit auch von ihm weitervererbt. Immobilienvermögen blieb zwar formell im Eigentum der Ehefrau, die Erträge hieraus gehörten jedoch dem Ehemann. Die Ehefrau wurde, kurz gesagt, zur femme couverte. Rechtlicher Hintergrund von alledem war das Prinzip der Eheeinheit (Marital Unity) im Common Law. »Vollzieher« dieser Einheit war der Ehemann. »The husband and wife are one person in law«, lautete das berühmte Diktum von William Blackstone ([1771]2001, Bd. 1: 339). Die Reformen zur Stärkung der rechtlichen Stellung des überlebenden Ehepartners begannen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während eines Zeitraums von einhundertfünfzig Jahren lässt sich im Eigentums- und im Erbrecht ein kontinuierlicher Angleichungsprozess der Rechte von Mann und Frau beobachten. Diese Tendenzen machen eine zunehmende Durchsetzung des Gleichheitsprinzips deutlich. Außerdem zeigen sie die abnehmende Bedeutung der dynastischen Vermögensvererbung in der männlichen Blutlinie auf. Die Erbrechtsreformen, die in die traditionellen Familienbeziehungen eingriffen, um Gleichheit innerhalb der Familie anzustreben, beschränkten sich jedoch nicht auf die Gleichstellung von Mann und Frau. Insbesondere in Frankreich, doch auch in Deutschland sollte das normative Prinzip der Gleichheit außerdem durch eine Beschränkung der Testierfreiheit durchgesetzt werden. So wurde in Frankreich die Testierfreiheit während der Revolution komplett abgeschafft, und selbst heute ist sie durch die Bestimmungen des Code Civil stark eingeschränkt.

Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung Seit über zweihundert Jahren zählt die Regulierung des Vermögensübergangs von Todes wegen zu den Hauptanliegen von Sozialreforme rn. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Reform des Erbrechts ein dringendes Anliegen von Denkern und Politikern wie Montesquieu, Rousseau, Mirabeau, Thomas Jefferson, Alexis de Tocqueville, Blackstone, Hegel, Fichte und John Stuart Mill. Sie alle waren sich über die Bedeutung einig, die ein Erbrecht, das auf den Prinzipien der Individualität, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und der Gleichheit aller vor dem Gesetz beruht, für die Umgestaltung der gesellschaftlichen und familiären Ordnung hat. Sozialreformer hielten die private Vererbung von Vermögen oft für äußerst problematisch. Die Reform des Erbrechts wurde daher als ein wesentliches Instrument der Gesellschaftsreform betrachtet, mithilfe dessen die feudale Ordnung aufgelöst und die bürgerliche Ordnung verwirklicht werden konnte. Sozialreformer verbanden mit der Vermögensvererbung die für aristokratische Gesellschaften charakteristische Perpetuierung von Statusprivilegien, die im Widerspruch zu grundlegenden bürgerlichen Werten wie Gleichheit und Leistungsorientierung stand. Diese Werte sind aufs Engste mit der Entfaltung der modernen Gesellschaft verbunden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1951) etwa beschrieb Gesellschaftsentwicklung anhand der von ihm defi nierten fünf pattern variables, die je zwei entgegengesetzte Ausprägungen zur Beschreibung der Grundstrukturen sozialer Beziehungen und Institutionen vorsehen. Während die sozialen Beziehungen in traditionellen Gesellschaften durch Affektivität, Kollektivorientierung, Partikularismus, Diffusität und Askription gekennzeichnet sind, werden sie in modernen Gesellschaften durch affektive Neutralität, Selbstorientierung, Universalismus, Spezifi tät und Leistung charakterisiert. Im Folgenden werde ich die in einer der Pattern Variables zum Ausdruck gebrachte Gegenüberstellung näher erörtern: den Unterschied zwischen Askription und Leistung. Unter Askription versteht man die institutionelle Zuweisung eines sozialen Status, basierend auf Merkmalen, die einem Menschen qua Geburt zugeschrieben werden. Einer Person werden bestimmte Rechte, Pfl ichten, Rollen oder Privilegien übertragen, die auf der sozialen Stellung ihrer Eltern oder auf Merkmalen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalität beruhen. Demgegenüber besagt der Begriff »Leistung«, dass Vermögen und sozialer Status aufgrund des tatsächlichen Leistungsbeitrags der Gesellschaftsmitglieder verteilt werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Vermögensübertragung von Generation zu Generation schwer mit den normativen Prinzipien moderner Gesellschaften vereinbar. Ererbtes Vermögen fällt dem Erben »mühelos« zu, durch den Tod eines anderen. Indem die Vermögensvererbung den Fortbestand sozialer Privilegien sichert, steht sie im Widerspruch zu einer Vermögensverteilung, bei der Ungleichheit auf unterschiedlichen individuellen Leistungsbeiträgen beruht. Außerdem verletzt die Vermögensvererbung das Prinzip der Chancengleichheit, das möglichst gleiche Startbedingungen für alle verlangt. Wie lässt sich die »unverdiente « Erlangung von Vermögen im Kontext einer Gesellschaftsordnung rechtfertigen, die soziale Ungleichheit als Ergebnis der unterschiedlichen persönlichen Leistungsbeiträge ihrer Mitglieder legitimiert? Doch ist für unsere heutigen Gesellschaften die Vermögensübertragung von Generation zu Generation wirklich noch ein Problem? Das Thema der Vermögensvererbung beschäftigte Sozialreformer von der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als es aus der öffentlichen Debatte fast gänzlich verschwand. Heutzutage ist es ein Randproblem, das zwar gelegentlich auftaucht, aber keine sozialpolitischen Kontroversen mehr entfacht. Doch diese Beobachtung ist, für sich allein genommen, nicht interessant. Denn man könnte ja vermuten, dass das Recht nach einhundertfünfzig Jahren der Reform schließlich »modern« geworden ist und sich der sozialpolitische Diskurs anderen Themen zuwenden kann. Ich werde jedoch zeigen, dass dies nicht die ganze Geschichte ist. Vielmehr können wir seit vierzig Jahren in entscheidenden Bereichen des Erbrechts einen backlash beobachten, durch den mit dem Versprechen der Aufklärung gebrochen wird, Askription durch Leistung zu ersetzen. Daher also die Frage: »Sind wir noch modern?« Zunächst werde ich drei Reformbereiche des Erbrechts darstellen, die für liberale Reformer seit dem späten 18. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung sind: Änderungen des gesetzlichen Erbrechts, die Abschaffung der Fideikommisse sowie die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer. Ich werde zeigen, wie die Änderungen in diesen Rechtsbereichen als Anerkennung der Werte Gleichheit, Leistungsorientierung und soziale Gerechtigkeit aufgefasst werden können. Anschließend werde ich darlegen, dass in zweien dieser Bereiche seit vierzig Jahren eine Gegenbewegung zu verzeichnen ist, die die früheren Errungenschaften deutlich schmälert. Doch ist all das wirklich problematisch? Müssen wir uns immer noch um die Debatten kümmern, die vor zweihundert Jahren mit Leidenschaft geführt worden sind? Sind die normativen Prinzipien des 18. und 19. Jahrhunderts heute noch relevant? Im letzten Teil werde ich die Frage erörtern, welche Bedeutung die diagnostizierte Gegenbewegung für die Gesellschaft und für das Konzept der Modernisierung hat. 1 Erbrecht und Familie Zunächst also zu den Reformen des gesetzlichen Erbrechts und ihren Folgen für die familiären Beziehungen. Historische Analysen zeigen, dass den Reformen des Erbrechts eine entscheidende Bedeutung für politische und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse beigemessen wurde (Beckert 2004). Eines der Ziele der Erbrechtsreformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bestand darin, die Struktur von Familienbeziehungen zu ändern. Diese Änderungen wurden gleichzeitig als Teil der Reformen der politischen Ordnung betrachtet. Die Erbrechtsreform, die in Frankreich während der Revolution erfolgte, bringt dies klar zum Ausdruck. Sie zielte auf eine Änderung der Familienstrukturen, indem sie Gleichheit zwischen den Kindern anstrebte, die väterliche Willkür bei Erbentscheidungen reduzierte und mit der dynastischen Reproduktion von Reichtum in den Adelsfamilien brechen wollte. Der durch die Erbrechtsänderungen bewirkte Wandel der Familienstrukturen war außerdem ein Mittel, um die gesellschaftlichen Bedingungen für demokratische politische Strukturen zu schaffen. In Frankreich betrachtete man die auf größerer Gleichheit beruhenden Familienbeziehungen als die Fundamente, auf denen die Sozialstrukturen des neuen politischen Gemeinwesens errichtet werden sollten. In einer immer wieder verwendeten Metapher wurde die Familie als die »Zelle« der Nation beschrieben, deren Struktur entscheidenden Einfl uss auf die Beschaffenheit der politischen Ordnung haben würde. Familienangelegenheiten waren somit auch immer eine »affaire d’État«. Diese normativen und politischen Überzeugungen spiegelten sich in verschiedenen Reformen wider. Die erste war die Abschaffung des Erstgeburtsrechts, die in dieser Zeit in den meisten europäischen Ländern erfolgte. Bemerkenswerte Ausnahme war England, wo dieses Recht erst 1925 abgeschafft wurde. In feudalistischen Gesellschaften spielte das Erstgeburtsrecht eine wichtige Rolle bei der generationenübergreifenden Bewahrung wirtschaftlicher und politischer Macht, weil das Vermögen im Erbgang nicht zwischen den Geschwistern aufgeteilt wird. Seine Abschaffung trug dazu bei, mit dieser Gesellschaftsordnung zu brechen. Weitere Reformen des gesetzlichen Erbrechts betrafen die Gleichstellung von Söhnen und Töchtern sowie die Rechte des überlebenden Ehepartners am Nachlass des Verstorbenen. Während Söhne und Töchter die Gleichheit vor dem Gesetz mit der Abschaffung des Erstgeburtsrechts erlangten, war die Stärkung des Erbrechts des überlebenden Ehepartners ein lang andauernder Prozess, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Abschluss fand. Hierbei geht es großenteils um die Frage der Gleichstellung von Mann und Frau. Das Eigentumsrecht begünstigte die Männer. Im Gewohnheitsrecht (Common Law) kam dies am deutlichsten zum Ausdruck. Dort war festgelegt, dass die Verfügungsrechte über das Eigentum einer Frau bei ihrer Heirat an ihren Ehemann übergingen. Das bewegliche Vermögen der Ehefrau wurde dem Ehemann übertragen und somit auch von ihm weitervererbt. Immobilienvermögen blieb zwar formell im Eigentum der Ehefrau, die Erträge hieraus gehörten jedoch dem Ehemann. Die Ehefrau wurde, kurz gesagt, zur femme couverte. Rechtlicher Hintergrund von alledem war das Prinzip der Eheeinheit (Marital Unity) im Common Law. »Vollzieher« dieser Einheit war der Ehemann. »The husband and wife are one person in law«, lautete das berühmte Diktum von William Blackstone ([1771]2001, Bd. 1: 339). Die Reformen zur Stärkung der rechtlichen Stellung des überlebenden Ehepartners begannen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während eines Zeitraums von einhundertfünfzig Jahren lässt sich im Eigentums- und im Erbrecht ein kontinuierlicher Angleichungsprozess der Rechte von Mann und Frau beobachten. Diese Tendenzen machen eine zunehmende Durchsetzung des Gleichheitsprinzips deutlich. Außerdem zeigen sie die abnehmende Bedeutung der dynastischen Vermögensvererbung in der männlichen Blutlinie auf. Die Erbrechtsreformen, die in die traditionellen Familienbeziehungen eingriffen, um Gleichheit innerhalb der Familie anzustreben, beschränkten sich jedoch nicht auf die Gleichstellung von Mann und Frau. Insbesondere in Frankreich, doch auch in Deutschland sollte das normative Prinzip der Gleichheit außerdem durch eine Beschränkung der Testierfreiheit durchgesetzt werden. So wurde in Frankreich die Testierfreiheit während der Revolution komplett abgeschafft, und selbst heute ist sie durch die Bestimmungen des Code Civil stark eingeschränkt.

Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung Seit über zweihundert Jahren zählt die Regulierung des Vermögensübergangs von Todes wegen zu den Hauptanliegen von Sozialreforme rn. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Reform des Erbrechts ein dringendes Anliegen von Denkern und Politikern wie Montesquieu, Rousseau, Mirabeau, Thomas Jefferson, Alexis de Tocqueville, Blackstone, Hegel, Fichte und John Stuart Mill. Sie alle waren sich über die Bedeutung einig, die ein Erbrecht, das auf den Prinzipien der Individualität, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und der Gleichheit aller vor dem Gesetz beruht, für die Umgestaltung der gesellschaftlichen und familiären Ordnung hat. Sozialreformer hielten die private Vererbung von Vermögen oft für äußerst problematisch. Die Reform des Erbrechts wurde daher als ein wesentliches Instrument der Gesellschaftsreform betrachtet, mithilfe dessen die feudale Ordnung aufgelöst und die bürgerliche Ordnung verwirklicht werden konnte. Sozialreformer verbanden mit der Vermögensvererbung die für aristokratische Gesellschaften charakteristische Perpetuierung von Statusprivilegien, die im Widerspruch zu grundlegenden bürgerlichen Werten wie Gleichheit und Leistungsorientierung stand. Diese Werte sind aufs Engste mit der Entfaltung der modernen Gesellschaft verbunden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1951) etwa beschrieb Gesellschaftsentwicklung anhand der von ihm defi nierten fünf pattern variables, die je zwei entgegengesetzte Ausprägungen zur Beschreibung der Grundstrukturen sozialer Beziehungen und Institutionen vorsehen. Während die sozialen Beziehungen in traditionellen Gesellschaften durch Affektivität, Kollektivorientierung, Partikularismus, Diffusität und Askription gekennzeichnet sind, werden sie in modernen Gesellschaften durch affektive Neutralität, Selbstorientierung, Universalismus, Spezifi tät und Leistung charakterisiert. Im Folgenden werde ich die in einer der Pattern Variables zum Ausdruck gebrachte Gegenüberstellung näher erörtern: den Unterschied zwischen Askription und Leistung. Unter Askription versteht man die institutionelle Zuweisung eines sozialen Status, basierend auf Merkmalen, die einem Menschen qua Geburt zugeschrieben werden. Einer Person werden bestimmte Rechte, Pfl ichten, Rollen oder Privilegien übertragen, die auf der sozialen Stellung ihrer Eltern oder auf Merkmalen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalität beruhen. Demgegenüber besagt der Begriff »Leistung«, dass Vermögen und sozialer Status aufgrund des tatsächlichen Leistungsbeitrags der Gesellschaftsmitglieder verteilt werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Vermögensübertragung von Generation zu Generation schwer mit den normativen Prinzipien moderner Gesellschaften vereinbar. Ererbtes Vermögen fällt dem Erben »mühelos« zu, durch den Tod eines anderen. Indem die Vermögensvererbung den Fortbestand sozialer Privilegien sichert, steht sie im Widerspruch zu einer Vermögensverteilung, bei der Ungleichheit auf unterschiedlichen individuellen Leistungsbeiträgen beruht. Außerdem verletzt die Vermögensvererbung das Prinzip der Chancengleichheit, das möglichst gleiche Startbedingungen für alle verlangt. Wie lässt sich die »unverdiente « Erlangung von Vermögen im Kontext einer Gesellschaftsordnung rechtfertigen, die soziale Ungleichheit als Ergebnis der unterschiedlichen persönlichen Leistungsbeiträge ihrer Mitglieder legitimiert? Doch ist für unsere heutigen Gesellschaften die Vermögensübertragung von Generation zu Generation wirklich noch ein Problem? Das Thema der Vermögensvererbung beschäftigte Sozialreformer von der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als es aus der öffentlichen Debatte fast gänzlich verschwand. Heutzutage ist es ein Randproblem, das zwar gelegentlich auftaucht, aber keine sozialpolitischen Kontroversen mehr entfacht. Doch diese Beobachtung ist, für sich allein genommen, nicht interessant. Denn man könnte ja vermuten, dass das Recht nach einhundertfünfzig Jahren der Reform schließlich »modern« geworden ist und sich der sozialpolitische Diskurs anderen Themen zuwenden kann. Ich werde jedoch zeigen, dass dies nicht die ganze Geschichte ist. Vielmehr können wir seit vierzig Jahren in entscheidenden Bereichen des Erbrechts einen backlash beobachten, durch den mit dem Versprechen der Aufklärung gebrochen wird, Askription durch Leistung zu ersetzen. Daher also die Frage: »Sind wir noch modern?« Zunächst werde ich drei Reformbereiche des Erbrechts darstellen, die für liberale Reformer seit dem späten 18. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung sind: Änderungen des gesetzlichen Erbrechts, die Abschaffung der Fideikommisse sowie die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer. Ich werde zeigen, wie die Änderungen in diesen Rechtsbereichen als Anerkennung der Werte Gleichheit, Leistungsorientierung und soziale Gerechtigkeit aufgefasst werden können. Anschließend werde ich darlegen, dass in zweien dieser Bereiche seit vierzig Jahren eine Gegenbewegung zu verzeichnen ist, die die früheren Errungenschaften deutlich schmälert. Doch ist all das wirklich problematisch? Müssen wir uns immer noch um die Debatten kümmern, die vor zweihundert Jahren mit Leidenschaft geführt worden sind? Sind die normativen Prinzipien des 18. und 19. Jahrhunderts heute noch relevant? Im letzten Teil werde ich die Frage erörtern, welche Bedeutung die diagnostizierte Gegenbewegung für die Gesellschaft und für das Konzept der Modernisierung hat. 1 Erbrecht und Familie Zunächst also zu den Reformen des gesetzlichen Erbrechts und ihren Folgen für die familiären Beziehungen. Historische Analysen zeigen, dass den Reformen des Erbrechts eine entscheidende Bedeutung für politische und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse beigemessen wurde (Beckert 2004). Eines der Ziele der Erbrechtsreformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bestand darin, die Struktur von Familienbeziehungen zu ändern. Diese Änderungen wurden gleichzeitig als Teil der Reformen der politischen Ordnung betrachtet. Die Erbrechtsreform, die in Frankreich während der Revolution erfolgte, bringt dies klar zum Ausdruck. Sie zielte auf eine Änderung der Familienstrukturen, indem sie Gleichheit zwischen den Kindern anstrebte, die väterliche Willkür bei Erbentscheidungen reduzierte und mit der dynastischen Reproduktion von Reichtum in den Adelsfamilien brechen wollte. Der durch die Erbrechtsänderungen bewirkte Wandel der Familienstrukturen war außerdem ein Mittel, um die gesellschaftlichen Bedingungen für demokratische politische Strukturen zu schaffen. In Frankreich betrachtete man die auf größerer Gleichheit beruhenden Familienbeziehungen als die Fundamente, auf denen die Sozialstrukturen des neuen politischen Gemeinwesens errichtet werden sollten. In einer immer wieder verwendeten Metapher wurde die Familie als die »Zelle« der Nation beschrieben, deren Struktur entscheidenden Einfl uss auf die Beschaffenheit der politischen Ordnung haben würde. Familienangelegenheiten waren somit auch immer eine »affaire d’État«. Diese normativen und politischen Überzeugungen spiegelten sich in verschiedenen Reformen wider. Die erste war die Abschaffung des Erstgeburtsrechts, die in dieser Zeit in den meisten europäischen Ländern erfolgte. Bemerkenswerte Ausnahme war England, wo dieses Recht erst 1925 abgeschafft wurde. In feudalistischen Gesellschaften spielte das Erstgeburtsrecht eine wichtige Rolle bei der generationenübergreifenden Bewahrung wirtschaftlicher und politischer Macht, weil das Vermögen im Erbgang nicht zwischen den Geschwistern aufgeteilt wird. Seine Abschaffung trug dazu bei, mit dieser Gesellschaftsordnung zu brechen. Weitere Reformen des gesetzlichen Erbrechts betrafen die Gleichstellung von Söhnen und Töchtern sowie die Rechte des überlebenden Ehepartners am Nachlass des Verstorbenen. Während Söhne und Töchter die Gleichheit vor dem Gesetz mit der Abschaffung des Erstgeburtsrechts erlangten, war die Stärkung des Erbrechts des überlebenden Ehepartners ein lang andauernder Prozess, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Abschluss fand. Hierbei geht es großenteils um die Frage der Gleichstellung von Mann und Frau. Das Eigentumsrecht begünstigte die Männer. Im Gewohnheitsrecht (Common Law) kam dies am deutlichsten zum Ausdruck. Dort war festgelegt, dass die Verfügungsrechte über das Eigentum einer Frau bei ihrer Heirat an ihren Ehemann übergingen. Das bewegliche Vermögen der Ehefrau wurde dem Ehemann übertragen und somit auch von ihm weitervererbt. Immobilienvermögen blieb zwar formell im Eigentum der Ehefrau, die Erträge hieraus gehörten jedoch dem Ehemann. Die Ehefrau wurde, kurz gesagt, zur femme couverte. Rechtlicher Hintergrund von alledem war das Prinzip der Eheeinheit (Marital Unity) im Common Law. »Vollzieher« dieser Einheit war der Ehemann. »The husband and wife are one person in law«, lautete das berühmte Diktum von William Blackstone ([1771]2001, Bd. 1: 339). Die Reformen zur Stärkung der rechtlichen Stellung des überlebenden Ehepartners begannen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während eines Zeitraums von einhundertfünfzig Jahren lässt sich im Eigentums- und im Erbrecht ein kontinuierlicher Angleichungsprozess der Rechte von Mann und Frau beobachten. Diese Tendenzen machen eine zunehmende Durchsetzung des Gleichheitsprinzips deutlich. Außerdem zeigen sie die abnehmende Bedeutung der dynastischen Vermögensvererbung in der männlichen Blutlinie auf. Die Erbrechtsreformen, die in die traditionellen Familienbeziehungen eingriffen, um Gleichheit innerhalb der Familie anzustreben, beschränkten sich jedoch nicht auf die Gleichstellung von Mann und Frau. Insbesondere in Frankreich, doch auch in Deutschland sollte das normative Prinzip der Gleichheit außerdem durch eine Beschränkung der Testierfreiheit durchgesetzt werden. So wurde in Frankreich die Testierfreiheit während der Revolution komplett abgeschafft, und selbst heute ist sie durch die Bestimmungen des Code Civil stark eingeschränkt.

Erscheint lt. Verlag 18.4.2013
Reihe/Serie Theorie und Gesellschaft ; 76
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 315 g
Einbandart kartoniert
Themenwelt Recht / Steuern Privatrecht / Bürgerliches Recht Erbrecht
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Sozialwissenschaften Soziologie Mikrosoziologie
Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Erbe • Erbrecht • Erbrecht (ErbR) • Erbschaft • Erbschaftssteuer • Leistung • Leistungsgesellschaft • Leistungsprinzip • Programm • Soziale Ungleichheit • Vermögen • Vermögensvererbung
ISBN-10 3-593-39867-2 / 3593398672
ISBN-13 978-3-593-39867-9 / 9783593398679
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich

von Hans Brox; Wolf-Dietrich Walker

Buch | Softcover (2023)
Franz Vahlen (Verlag)
CHF 38,95

von Rainer Frank; Tobias Helms

Buch | Softcover (2024)
C.H.Beck (Verlag)
CHF 37,65