Talent in Fesseln
Am Vormittag des 30. Oktober 1849 versammelte sich eine große Menschenmenge in der Pariser Kirche La Madeleine, Hunderte Kutschen versperrten die umliegenden Straßen und verursachten einen Stau, der bis zur Place de la Concorde reichte. Die Fassade der gewaltigen, tempelartigen Kirche war mit Bahnen aus schwarzem Samt verhängt, auf die mit Silberfaden die Initialen F.C. aufgestickt waren. Nur die Besitzer von Eintrittskarten wurden eingelassen, wer es nicht geschafft hatte, eine Karte zu ergattern, drängte sich mit den anderen auf den monumentalen Stufen.
»Um zwölf Uhr erschienen die Leichenträger mit dem Sarg des großen Künstlers am Eingang der Kirche. In diesem Augenblick ertönte vom Chor herab ein allen Bewunderern Chopins bekannter Trauermarsch, den man eigens für diesen düsteren Anlass orchestriert hatte. Ein Todesschauer durchrieselte die ganze Hörerschaft«, erinnert sich der französische Dichter Théophile Gautier. »Uns selbst kam es vor, als würde die Sonne erbleichen und der Glanz in den Kuppeln eine fahle, drohende Färbung annehmen…«1
Mozarts Requiem wurde gesungen, und zu den Solisten gehörten die legendäre Mezzosopranistin Pauline Garcia-Viardot und der berühmte Bassist Luigi Lablache. Begleitet wurden sie vom Orchester und vom Chor des Pariser Konservatoriums, den besten in ganz Europa. Als Offertorium spielte der Organist der Madeleine zwei von Chopins Préludes.
Nach dem Gottesdienst brachte man den Sarg von der Madeleine zum Friedhof Père Lachaise. Der Trauerzug wurde von Fürst Adam Czartoryski angeführt, der als der ungekrönte König von Polen galt, und zu den Sargträgern zählten Giacomo Meyerbeer, der berühmteste Opernkomponist jener Zeit, und der Maler Eugène Delacroix. Hinter dem Sarg folgten Dutzende Musiker und Künstler und Tausende Freunde und Bewunderer des Toten. Selbst die ranghöchsten Damen gingen zu Fuß, und ihre wappengeschmückten Kutschen fuhren in einer langen Prozession hinterher. Auf dem Friedhof wurde der Sarg ohne Predigt in das Grab hinabgelassen, und die Trauergäste entfernten sich schweigend.2
Kein Musiker hatte jemals ein so prächtiges Begräbnis erhalten, und nur wenige wurden so aufrichtig betrauert. Das ein Jahr später errichtete Grabmal entwickelte sich rasch zu einer Pilgerstätte, an der bis zum heutigen Tag Besucher Briefe und Botschaften ablegen. Manche äußern lediglich Bewunderung und Dankbarkeit, doch bei den meisten handelt es sich um persönliche, häufig ungemein leidenschaftliche Zeilen, aus denen manchmal sogar eine geradezu krankhafte besitzergreifende Liebe spricht.
Chopin wurde nicht allein wegen seiner Musik verehrt, sondern auch als Person, und er wurde nicht nur verehrt, sondern begehrt und vereinnahmt. Dieser extrem diskrete, schüchterne Mensch wurde von Musikern, Musikwissenschaftlern, Künstlern, Biografen, Filmemachern und sogar Politikern in Besitz genommen, die ihn zu verstehen und sein Innerstes zu kennen glaubten und sein Bild ihren eigenen Zielen entsprechend gestalteten. Musiker haben seine Musik ihren persönlichen, oft sehr subjektiven Interpretationen unterworfen, Musikwissenschaftler haben sie neu geschrieben, Künstler ihn so gemalt, wie sie ihn sehen wollten, Biografen verflochten ihre eigene dramatische Schöpfungskraft mit seinem Leben, Filmemacher ließen Blut auf die Tasten tropfen, und auch Politiker haben versucht, Anspruch auf ihn zu erheben, für Frankreich, für Polen, für das Slawentum, ja sogar für die jüdische Gemeinschaft Polens.
Chopin war von Natur aus zurückhaltend und sehr verschlossen, wenn es um private Angelegenheiten ging. Er war zu träge, ein Tagebuch zu führen, und hatte eine zu geringe Meinung von sich selbst, um seine Memoiren zu schreiben. Er hinterließ auch keine Witwe oder Nachkommen, die sein Bild für die Nachwelt hätten formen können. So blieb dieses Feld weitläufigen Bekannten überlassen, die, wie in solchen Fällen üblich, Tatsachen verfälschten oder erfanden, um sich selbst im gewünschten Licht zu präsentieren. Der Großteil von Chopins persönlichen Unterlagen wurde in zwei Weltkriegen, einer Revolution und einem privaten Rachefeldzug zerstört. Aus diesem Grund verlegten sich Biografen auf Spekulationen und Fantasie, um die Lücken zu füllen, und jede Generation projizierte ihre eigene Ästhetik und ihre eigenen Sehnsüchte auf die weiße Leinwand. Erst in vergleichsweise jüngerer Zeit wurde auch die Geschichtswissenschaft hinzugezogen, sodass die Herkunft des Komponisten vollständig geklärt werden konnte.
Seine Wurzeln liegen in einer armen Bauernfamilie namens Chapin, die am Ende des siebzehnten Jahrhunderts aus dem Dorf Saint-Crépin in der französischen Region Dauphiné in das reichere Herzogtum Lothringen zog. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die Familie zu Weinbergbesitzern und Stellmachern im Vogesendorf Marainville-sur-Madon hochgearbeitet, und ihr Name hatte sich zu Chopin gewandelt. In jener Zeit wurde Lothringen von König Stanisław Leszczyński regiert, dem Schwiegervater von Ludwig XV., der das Herzogtum 1737 als Entschädigung für den Verlust des polnischen Thrones erhalten hatte, und viele seiner polnischen Unterstützer und Höflinge hatten dort eine neue Heimat gefunden. Der Vater des Komponisten, Nicolas, wurde 1771 in Marainville als Sohn des Dorfeinnehmers François Chopin geboren (auch wenn sich hartnäckig das – später angeblich sogar von Nicolas selbst geschürte – Gerücht hielt, er sei in Wahrheit der uneheliche Sohn des örtlichen Schlossherrn, eines Höflings von König Stanisław).
1780 erwarb ein polnischer Adliger namens Michał Jan Pac das Schloss von Marainville. Sein Verwalter Adam Weydlich, ebenfalls ein Pole, war mit einer Frau aus dem Pariser Bürgertum verheiratet, die dem jungen Nicolas Chopin offenbar Lesen, Schreiben und möglicherweise auch das Flötespielen beibrachte. Als die Weydlichs nach Pacs Tod und dem Verkauf des Anwesens 1787 nach Polen zurückkehrten, nahmen sie den sechzehnjährigen Nicolas mit. In Warschau brachten sie ihn im Haushalt von Weydlichs Bruder Franciszek unter, der an der Kadettenakademie Deutsch und Latein unterrichtete. Seinen Lebensunterhalt verdiente Nicolas durch die Arbeit als Buchhalter in der Warschauer Tabakfabrik und, als diese 1789 schloss, als Hauslehrer für die Kinder der Weydlichs. Er war ehrlich und verlässlich und muss in der Zwischenzeit nicht nur eine beachtliche Bildung erworben, sondern auch hochgestellte Förderer gewonnen haben, denn anschließend wurde er Hauslehrer des Sohnes des Warschauer Bürgermeisters Jan Dekert und 1792 Hauslehrer der Kinder der Familie Dziewanowski auf deren Landgut in Szafarnia.
Zwei Jahre zuvor hatte sich ihm die Möglichkeit geboten, seine Familie in Marainville zu besuchen, da jemand zurück nach Frankreich reisen sollte, um einige Angelegenheiten in Zusammenhang mit Pacs Besitz zu regeln. Aber Nicolas Chopin nutzte weder diese Gelegenheit, noch scheint er irgendwann später den Versuch unternommen zu haben, noch einmal mit seinen Angehörigen Kontakt aufzunehmen. Vermutlich schreckte ihn auch die Aussicht, im revolutionsgeschüttelten Frankreich eingeschlossen oder womöglich sogar in die Armee eingezogen zu werden. Doch das bewahrte ihn nicht vor einem Krieg, denn 1792 marschierte die russische Armee in Polen ein. Nach einer kurzen militärischen Auseinandersetzung verlor das Land einen großen Teil seines Territoriums an Russland und einen kleineren Teil an Preußen, außerdem wurde das verbleibende Gebiet vollständig von russischen Truppen besetzt. 1794 brach ein Aufstand gegen die russischen Besatzer los. Nicolas Chopin trat in die Warschauer Miliz ein und wurde beim russischen Angriff auf die Stadt, mit dem der Aufstand endgültig niedergeschlagen wurde, verwundet.3
Im weiteren Verlauf dieses Jahres oder zu Beginn des nächsten zog er auf das Landgut Kiernozia, um dort als Vaterfigur und Hauslehrer für die kürzlich verwaisten Kinder von Maciej Łączyński zu fungieren (eine seiner Schutzbefohlenen, Maria, sollte nach ihrer Hochzeit mit Anastazy Walewski als Napoleons Geliebte Berühmtheit erlangen). Nicolas Chopin blieb dort bis 1802, als er eine vergleichbare Stellung im Haushalt des Grafen Skarbek auf dem Gut Żelazowa Wola annahm, wo er sich um die vier Kinder des Grafen kümmerte. 1806 heiratete der inzwischen fünfunddreißigjährige Nicolas Chopin Tekla Justyna Krzyżanowska, die allem Vernehmen nach schöne und sanftmütige vierundzwanzigjährige Tochter eines verarmten Adligen, der als Gutsverwalter für Skarbek gearbeitet hatte.
Im darauffolgenden Jahr bekamen die Chopins eine Tochter namens Ludwika und bezogen ein paar Zimmer in einem der Nebengebäude des Gutes, einem geräumigen einstöckigen Haus mit strohgedecktem Dach. Und in einem dieser weiß getünchten Räume mit Lehmfußboden kam 1810 ihr Sohn zur Welt. Sie ließen ihn nach seinem Paten, dem jungen Grafen Fryderyk Skarbek, und Nicolas Chopins Vater François auf den Namen Fryderyk Franciszek taufen. Im Taufregister der Pfarrkirche von Brochów bei Żelazowa Wola ist vermerkt, dass das Kind am 22. Februar geboren wurde, aber die Familie Chopin und auch der Komponist selbst nannten als sein Geburtsdatum später immer den 1. März. Um die Sache noch komplizierter zu machen, wurde sein Alter durchgängig um ein Jahr erhöht, wenn er als Kind in der Presse erwähnt wurde oder öffentlich auftrat, sodass selbst bei einigen Freunden der Eindruck entstand, er sei bereits 1809 geboren worden. Das Taufregister ist kein Geburtsregister, und das dort festgehaltene Datum werden Nicolas Chopin oder seine Frau selbst angegeben haben. Es gibt daher keinen Grund, einem der beiden Daten den Vorzug zu geben, aber zumindest das Geburtsjahr...