Turn Over
Die Soziologie hat sich vom Cultural Turn in vielfacher Weise inspirieren lassen. Dieser Band sondiert die Umbrüche und Veränderungen, die sich für die Soziologie aus der kulturellen Wende ergeben haben, aber auch die Herausforderungen, vor denen das Fach heute steht. In Form von Rück- und Ausblicken beleuchten die Autorinnen und Autoren die Einflüsse des Cultural Turns auf die soziologische Wissensproduktion und entwerfen Zukunftsperspektiven für die Disziplin. Zudem wird am Beispiel aktueller Themenfelder der Soziologie wie Stadt, Vergangenheit, Dezentrierung, Event, ein Überblick über die derzeitige Forschungslandschaft gegeben. Hier zeigt sich, dass Kultur in Form vielfältiger Cultural Turns zum Leitmotiv und Thema soziologischer Forschung geworden ist.
Sybille Frank ist Professorin für Stadt- und Raumsoziologie an der TU Darmstadt.
Jochen Schwenk ist Lehrbeauftragter am Fachbereich Soziologie der Universität Basel
Inhalt
Einleitung
Sybille Frank und Jochen Schwenk
QUERWÄRTS - Eine Collage
Urs Jaeggi
Kultur - Soziologie: Mode und Methode?
Helmuth Berking (1989)
I. Rückblicke
Konjunkturen und Wandlungen des Kulturbegriffs in der deutschen Soziologie
Jochen Schwenk
Erinnerungen an meinen Cultural Turn
Wolfgang Eßbach
Tales of the City or Städte ohne Grenzen
Anthony D. King
II. Ausblicke
Jenseits des Cultural Turns: Die Renaissance der Gesellschaft
Hermann Schwengel
Die Kulturwissenschaften in der Krise
Lutz Musner
Abfall & Eleganz: Materialität vs. Kultur?
Lars Frers
III. Stadt
Schwarzsein als kollektive Praxis in Salvador de Bahia - Stadtsoziologie aus kulturtheoretischer Perspektive
Martina Löw
Wahrzeichen des Geschmacks: Anmerkungen zur Stadt als Geschmackslandschaft
Rolf Lindner
Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt - Eine architektursoziologische Skizze
Silke Steets
Knowledge Turn in der Stadtforschung - Begriffscocktail mit Rezeptur
Ulf Matthiesen
IV. Vergangenheit
Nostalgie - Kreative Effekte eines problematischen Gefühls
Erhard Stölting
Warten auf den Cultural Turn: Das Ende der Geschichte und das Schweigen der Soziologie
Sybille Frank
Wie viel Geschichte braucht das Ich? Normative Implikationen der psychoanalytischen Auffassung von Lebensgeschichtlichkeit
Gunter Weidenhaus
V. Dezentrierung
Reinventing the Commons
Carlo Caduff and Shalini Randeria
Anpassung und Kreativität - Über afrikanische Variationen politischer Heterarchie
Trutz von Trotha und Mario Krämer
Wissenssoziologische Ursprünge der Ungleichheitstheorie: Das Tocqueville-Paradox
Sighard Neckel
VI. Event
Das Ereignis als Aufgabe - Zur Trajektstruktur der "Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010"
Ronald Hitzler und Arne Niederbacher
Basler und Mainzer Fas(t)nacht, Kölner Karneval und Münchner Fasching vor allem - Eine transdisziplinäre Tour d'Horizon
Richard Faber
Autorinnen und Autoren
Tabula Gratulatoria
Dieses Buch ist dem Freund, akademischen Lehrer und Wegbegleiter Helmuth Berking zum 60. Geburtstag gewidmet. Es sondiert die Umbrüche und Veränderungen, die sich für die Soziologie im Verlauf der letzten Jahrzehnte aus dem Cultural Turn ergeben haben, aber auch die Herausforderungen, vor denen die Disziplin heute steht. Damit vermessen die in diesem Band versammelten Beiträge ein Themenfeld, das Helmuth Berking, ausgehend von seinen Arbeiten zu den Diskussionen um "Masse und Geist" in der Weimarer Republik (1984) über die "Anthropologie des Gebens" (1996) bis hin zur "Eigenlogik der Städte" (2008), selber durchwandert hat. Die Soziologie hat sich vom Cultural Turn in unterschiedlichem Maße inspirieren lassen. Ausbuchstabiert wird der allgemeine Trend zur Kultur in den jüngeren Geistes- und Sozialwissenschaften als eine Vielzahl unterschiedlicher Cultural Turns. Entsprechend beleuchten die in diesem Band versammelten Beiträge nicht nur die allgemeinen Einflüsse des Cultural Turns auf die Grundmotive soziologischen Fragens und Forschens. Sie liefern darüber hinaus auch einen Überblick über die entstandene Forschungslandschaft, indem sie die vielfältigen Möglichkeiten widerspiegeln, Kultur zum Leitmotiv oder Thema soziologischer Forschung zu machen. Wir haben diesem Buch zwei Kapitel vorangestellt, die in das Themenfeld auf unterschiedliche Weisen einführen. In "QUERWÄRTS" setzt sich Urs Jaeggi mit dem Verhältnis von Kultur und Gesellschaft auseinander. In Form einer Collage thematisiert er das schwierige Geschäft der Deutung von Kultur. Im Angesicht der Risse und Schründe der Welt erscheinen der ordnende Maßstab der Ästhetik und die Systematik wissenschaftlichen Denkens perforiert. Die Experten kommen zu spät. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst verschwimmen: Die Arbeit der "Machenden (ob Wissenschaftler oder Künstler)" (S. 22) wird gleichermaßen zu einem riskanten Unternehmen, nämlich dem immer schon unzureichenden Experiment der Weltdeutung. Der zweite Beitrag mit dem Titel "Kultur - Soziologie: Mode und Methode?" stammt aus der Feder des Jubilars selbst und wurde 1989 in dem von Helmuth Berking und Richard Faber herausgegebenen Band Kultursoziologie - Symptom des Zeitgeistes? veröffentlicht. Kultur, so Berkings Beobachtung, erhält in den achtziger Jahren im Rahmen einer krisenhaften Gegenwartswahrnehmung den Status eines diskursiven und forschungsstrategischen Leitbegriffs. Die in diesem Jahrzehnt zu verzeichnende Hochkonjunktur des Kulturbegriffs verweist für Berking auf die Krise der kulturellen Selbstgewissheit der westlichen Welt, die auch eine Krise der soziologischen Wissensproduktion bedeutete: Was vormals als "Modernisierung", "Spätkapitalismus" oder "Industriegesellschaft" die auf gesellschaftliche Strukturmerkmale fokussierten soziologischen Debatten bestimmt hatte, wird nun durch "Kultur", "Ästhetik" und "Stil" überschrieben, so dass Berking formuliert: "Wo früher ›Gesellschaft‹ war, ist nun […] ›Kultur‹ geworden" (S. 26). In den ersten beiden Kapiteln "Rückblicke" und "Ausblicke" sind diejenigen Beiträge zusammengefasst, die zum Cultural Turn insgesamt Stellung nehmen. Jochen Schwenk eröffnet den als "Rückblicke" überschriebenen Abschnitt. Mit seinem als "Konjunkturen und Wandlungen des Kulturbegriffs in der deutschen Soziologie" betitelten Aufsatz verfolgt er die Bedeutungszu- und -abnahmen des Kulturbegriffs in der deutschen Soziologie. Die Konjunkturen des Kulturbegriffs bindet er an die jeweils zentralen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen zurück. Beginnend mit einer Analyse der Bedeutung von "Kultur" im Gründungszusammenhang der deutschen Soziologie rekonstruiert Schwenk deren Entwicklung über die Zeit des Nationalsozialismus, die Nachkriegszeit und die achtziger Jahren bis in die heutige Zeit hinein. Er arbeitet heraus, dass der Kulturbegriff stets im Kontrast zu wechselnden Gegenbegriffen - "Zivilisation", "Gesellschaft", "Ökonomie" - gebraucht wurde. Die "Überwindung dieses Dualismus ist der deutschen Soziologie", so Schwenk, "seit ihren Gründungstagen als ständige Herausforderung mitgegeben" (S. 46). In seinen "Erinnerungen an meinen Cultural Turn" identifiziert Wolfgang Eßbach drei Motive, die zur Bedeutungszunahme von Kultur geführt haben. Für ihn gewann "Kultur" zunächst an Gewicht durch eine Strategie, die Eßbach als "Rechtfertigung des Geistes im Angesicht verbaler Heimsuchungen" (S. 68) beschreibt. Es handelt sich dabei um eine spezifische Form der Abwehr bei gleichzeitiger Vereinnahmung, die den Intellektuellen die Deutungsmacht sichert. Für Eßbach führte die Analyse dieser Strategie in eine "Soziologie der Intelligenz" (ebd.). Die allgemeine Ratlosigkeit der Intellektuellen gegenüber den Rätseln der "hochtechnisierten und ästhetisierten Lebenswelten" (S. 71) verleitete ihn zweitens zu einer Beschäftigung mit der "Welt der Artefakte" (ebd.). Das dritte Motiv ist mit den Namen Auschwitz, Archipel Gulag und Hiroshima verbunden. Der Wunsch, Erklärungen für diese fatalen Umschlagspunkte moderner Fortschrittshoffnungen zu finden, hat die Diskussionen um "Kultur" in der deutschen Soziologie stets mit vorangetrieben. Die ethischen Grundlagen menschlichen Handelns zu ergründen, ist für Eßbach bis heute eine der wichtigsten Aufgaben kultursoziologischen Denkens. Auch Anthony King wählt in seinem Beitrag "Tales of the City or Städte ohne Grenzen" einen biographischen Zugang zum Thema. Er rekonstruiert die wechselseitige Verschränkung von Gesellschaft, Kulturwissenschaften und Soziologie anhand der unterschiedlichen städtischen und disziplinären Kontexte, in denen er als Soziologe gewirkt hat: in den Geistes- und Sozialwissenschaften in Delhi; in Soziologie, Gebäudelehre und Architektur in London; in den Fächern Kunstgeschichte und Soziologie in New York. Mit dem von James Clifford geprägen Begriff der "travelling theory" (S. 89) zeigt King am Beispiel dieser verschiedenen beruflichen Stationen die eminente Bedeutung unterschiedlicher Handlungs- und Denkräume einerseits und lokaler Kontexte andererseits für die Theoriebildung auf. Er wird so zu einem Augenzeugen der Entstehung eines postkolonialen Erfahrungsraums. Aus dieser über nationale Rahmungen hinausreichenden wissenschaftlichen Perspektive wirft er ein Licht der "ersten Stunde" auf die Entstehung und Entwicklung des Cultural Turns. Hermann Schwengel problematisiert unter der Überschrift "Jenseits des Cultural Turns: Die Renaissance der Gesellschaft" die Grenzen des Cultural Turns und eröffnet damit den Abschnitt der "Ausblicke". Zwar erkennt Schwengel das Potenzial des Cultural Turns an, ein neues soziologisches Denken angestoßen zu haben; er weist aber gleichzeitig darauf hin, dass die Globalisierung uns vor neue Herausforderungen stellt, die erst noch gemeistert werden wollen. Dazu bedarf es laut Schwengel einer neuerlichen Wende, die zu einem bescheideneren Kulturbegriff gelangen und den Gesellschaftsbegriff stärken müsse. Dabei schwebt ihm ein Verständnis von Gesellschaft als intermediäre Gewalt vor, die in der globalen Interaktion mit anderen Gesellschaften einen klar definierten Platz einnimmt, an den sich auch wieder politische Mehrheiten knüpfen lassen: "Dafür wird wieder ein Cultural Turn gebraucht, aber einer, der durch das Säurebad globaler Erfahrung gegangen ist und gelernt hat anzuerkennen, dass die Ordnungs- und Orientierungsleistung von Gesellschaft auch für Kultur unabdingbar ist" (S. 101). Im "spatial turn" findet Hermann Schwengel den skizzierten Weg am vielversprechendsten eingeschlagen. Auch der Beitrag "Die Kulturwissenschaften in der Krise" von Lutz Musner thematisiert die Grenzen des Cultural Turns. "No more turns!" fordert Musner (S. 106) und setzt an die Stelle immer weiterer Drehungen und Wendungen im Zeichen der Kultur das Innehalten und die Bilanzierung des bisher Erreichten. Als unbestreitbaren Gewinn der kulturellen Umprägung der soziologischen und kulturwissenschaftlichen Wissensproduktion der letzten Jahrzehnte bezeichnet Musner den gewaltigen Erkenntnisfortschritt sowie die große Nähe der Forschungen zur Lebenswelt. Problematisch ist für ihn jedoch die zunehmende Selbstreferenzialität des kulturwissenschaftlichen Forschungsbetriebs, was zu einer Abhängigkeit von intellektuellen Moden und einer Gefährdung der erreichten Nähe zur Lebenswelt führt. Gleichzeitig beschleunigt sich die Theoriebildung. Diese Entwicklung kann von der empirischen und historischen Forschung nicht mehr eingeholt werden. Ein "hypertropher Konstruktivismus" (S. 109) ist die Folge. Um diesen Entwicklungen zu begegnen, schlägt Musner vor, den Dynamiken des Sozialen und Ökonomischen wieder einen Platz in der kulturwissenschaftlichen Forschung einzuräumen. Die Regulationstheorie ist für ihn ein Wegweiser auf dem Weg hin zu einer kritischen Kulturwissenschaft, die Kultur "als Teil von Regulationsweisen der kapitalistischen Wirtschaftsformen zu beschreiben sucht" (S. 114). "Abfall & Eleganz: Materialität vs. Kultur" lautet der Titel des Beitrags von Lars Frers. Darin beschreibt er die Veralltäglichung der Ästhetik, die kennzeichnend für individualisierte Gesellschaften ist. Ästhetik hat so ihre Dignität als Vokabel des bildungsbürgerlichen Wortschatzes verloren. Für Frers sind Fragen des Ausdrucks und der Form nun vielmehr Fragen der sozialen Distinktion. Der Körper wird so zur Ausdrucksfläche der Alltagsästhetik und erinnert uns daran, dass wir alle immer schon - jenseits aller semiotischen Spiele - als Körper in der Welt sind und als Körper in Beziehung zu Anderen und den Dingen stehen. Lars Frers bringt diese Erfahrung mit dem Begriff des "Wahrnehmungshandelns" (S. 127) auf den Punkt. Damit will er auf die Bedeutung des Materiellen für das menschliche Wahrnehmen und Handeln aufmerksam machen. Das folgende Kapitel trägt den Titel "Stadt" und führt hinein in die verschiedenen Themenbereiche, die im Rahmen des Cultural Turns ihre Fragestellungen kulturalisiert oder durch die kritische Befragung des Cultural Turns an Kontur gewonnen haben.
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2010 |
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Co-Autor | Helmuth Berking, Carlo Caduff, Wolfgang Eßbach, Richard Faber, Sybille Frank, Lars Ferres, Ronald Hitzler, Urs Jaeggi, Anthony D. King, Mario Krämer, Rolf Lindner, Martina Löw, Ulf Matthiesen, Lutz Musner, Sighard Neckel, Arne Niederbacher, Shalina Randeria, Hermann Schwengel, Jochen Schwenk, Silke Steets, Erhard Stölting, Trutz Von Trotha, Gunter Weidenhaus |
Zusatzinfo | 19 Abbildungen |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 215 mm |
Gewicht | 521 g |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeines / Lexika |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie | |
Schlagworte | Cultural Turn • Hardcover, Softcover / Soziologie/Soziologische Theorien • Kultureller Wandel • Kultureller Wandel / Kulturwandel • Kultursoziologie • Wissensproduktion |
ISBN-10 | 3-593-39277-1 / 3593392771 |
ISBN-13 | 978-3-593-39277-6 / 9783593392776 |
Zustand | Neuware |
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