Wasserzeiten (eBook)
160 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-151-9 (ISBN)
Kristine Bilkau, 1974 geboren, studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Ihr erster Roman Die Glücklichen (Luchterhand 2015) fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Es folgten die Romane Eine Liebe, in Gedanken und Nebenan, für den Bilkau 2021 mit dem Hamburger Literaturpreis in der Kategorie Bester Roman ausgezeichnet wurde und der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 stand. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg und schwimmt am liebsten im Freibad und im Meer rund um Bornholm.
Kristine Bilkau, 1974 geboren, studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Ihr erster Roman Die Glücklichen (Luchterhand 2015) fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Es folgten die Romane Eine Liebe, in Gedanken und Nebenan, für den Bilkau 2021 mit dem Hamburger Literaturpreis in der Kategorie Bester Roman ausgezeichnet wurde und der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 stand. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg und schwimmt am liebsten im Freibad und im Meer rund um Bornholm.
Anfänge, Chlorwasser und Erinnerungen
Der erste Tag im Freibad nach der Winterpause. Ende Mai, später Vormittag, der Himmel ist bedeckt, das Wasser hat endlich die 18 Grad, die es braucht, damit der Betrieb öffnen kann. Das 50 Meter lange Becken ist fast leer, ein Mann mit Brille und zaghaftem Lächeln, eine Frau mit hochgestecktem grauen Haar, darin eine bunte Kunstblume, ziehen langsam ihre Bahnen, die Bademeisterin steht am Beckenrand. Der Mann wechselt zwischendurch ein paar Worte mit ihr. Wie glücklich er sei, endlich wieder hier sein zu können, das Wasser sei kalt, genau richtig kalt, so wäre es doch am schönsten. Kaum, dass ich im Becken bin, nickt er auch mir zu und sagt: »Einfach schön, oder?«
Feierlich, an diesem grauen Tag im Mai, an dem noch etwas Regen in der Luft hängt und der Wind sich nicht wirklich frühlingshaft anfühlen will, aber das Becken in verlockendem, sommerlichem Türkis leuchtet, an diesem Tag geht es zwischen uns, die wir diesen Moment teilen, feierlich zu.
Während der ersten Minuten schwimme ich langsam, fast andächtig. Ich will alles in mich aufnehmen, die hellgrünen Baumkronen, das Licht dieses verhangenen Tages, den Geruch von nassen Blättern und feuchtem Gras, die Stille in diesem fast leeren Bad. Ich schwimme ohne viel Kraftanstrengung, sanft teile ich das Wasser und bewege mich gemächlich fort, nichts kostet Mühe, alles ist leicht. Erst nach der fünften oder sechsten Bahn setze ich die Schwimmbrille auf und lege an Tempo zu. Brustschwimmen, ich tauche unter und strecke mich, tauche auf und hole Luft, tauche wieder unter. Das Wasser ist heute weich, es bietet mir keinen Widerstand wie sonst manchmal, wenn das Vorankommen mühsam scheint, auch das Atmen eine Schwere hat, als wäre ich nicht im Wasser, sondern müsste wie eine Bergsteigerin eine Anhöhe bewältigen. Nicht jeder Schwimmtag ist gleich gut. Doch heute mag mich das Element und nimmt mich freundlich auf. Eine Bahn nach der nächsten lege ich zurück und gerate in diesen schwerelosen Zustand. Jede Bewegung geschieht von allein, ich vergesse meinen Körper, bestehe nur noch aus Energie und dieser Leichtigkeit. Fast ist es wie Träumen, wenn sich auch die Gedankenräume von allein öffnen, sich neue, überraschende Verbindungen bilden, ein Gewebe aus Erinnerungen und Ideen, wenn alles eine Sanftheit hat und zugleich kristallklar scheint.
Beim Schwimmen muss ich manchmal an die Freibadstunden im Juni 2020 denken. Dieser einprägsame Sommer nach den langen, seltsamen Wochen und Monaten des Zurückgezogenseins. Als es den meisten von uns zu Hause entweder zu eng oder zu einsam geworden war. Der Juni brachte endlich Erleichterung, die Infektionszahlen waren niedrig, und die Freibäder öffneten ihre Türen. Mit einigen Auflagen, damit das Bad nicht überfüllt sein würde. Man musste seinen Eintritt online im Voraus buchen und sich dabei für die Morgenstunden, für den Mittag, Nachmittag oder Abend entscheiden. Die Anzahl der Tickets war für jedes Zeitfenster begrenzt, verfügbar waren sie jeweils für den aktuellen Tag, für den nächsten und übernächsten. Anfangs stieß ich jedes Mal, wenn ich die Webseite aufrief, auf ausgebuchte Tage. Ganz gleich, wann ich mich bemühte, ich war zu spät. Als ich endlich durchschaut hatte, dass man den Shop am besten kurz nach Mitternacht besuchte, wenn das System gerade den übernächsten Tag freigeschaltet hatte, kam ich an die erste Eintrittskarte für das Bad in meiner Nähe. Von da an machte ich den mitternächtlichen Kauf zum Ritual.
Zu Hause fand der Alltag an einem großen Tisch statt, den ich mir mit meinem Sohn teilte. Während er lernte, Physik, Latein oder Mathe anhand von ausgedruckten Übungsblättern, Videokonferenzen und YouTube-Tutorials zu bewältigen, versuchte ich, mich auf das Schreiben zu konzentrieren, und im Rückblick sehe ich mich vor allem zwei Dinge tun: die Spülmaschine ein- und wieder ausräumen und so oft wie möglich ins Freibad flüchten.
Das Schwimmbecken wurde zu meinem Rückzugsort, an dem ich mich nicht nur bewegen, sondern auch in Ruhe nachdenken konnte. Ein Zimmer für mich allein, um es mit Virginia Woolf zu sagen, das hatte ich – wie viele andere auch – während dieser Zeit und, wie sich herausstellen würde, während des kommenden Winters nicht mehr, aber für eine Weile gab es für mich diesen Raum unter freiem Himmel, den ich mir zwar mit anderen teilte, in dem ich aber trotzdem für mich war.
Hin und wieder kam es vor, dass ich mich zu müde fühlte, um schwimmen zu gehen, oder ich der Meinung war, dass ich es mir zeitlich nicht erlauben konnte, diese ein oder zwei Stunden im Freibad zu verbringen. Und dann überwand ich mich, manchmal nur halbherzig, packte das Handtuch ein und ging los, denn sobald ich einige Bahnen geschwommen war, spürte ich, wie dieses Durcheinander aus Gedanken, Ideen und Sorgen sich nach und nach beruhigte und ordnete und wie ich mich meinem Alltag wieder gewachsen fühlte, Zuversicht hatte. Nachdem ich 1500 Meter geschwommen war und an der Leiter aus dem Becken stieg, etwas kühlen Wind auf der nassen Haut, fühlte ich mich wie Wonder Woman. Schwimmen, so viel weiß ich inzwischen, löst keine Probleme, aber es kann für Klarheit und Mut sorgen, um sich ihnen zu stellen.
Am liebsten ging ich bei Nieselregen ins Freibad, denn dann waren weniger Leute als sonst dort. Der weiche, feine Regen sorgte für gedämpfte Stille. Es war ein perfekter Tag zum Schwimmen. Vereinzelt glitt jemand durch das Wasser, verborgen hinter einer getönten Kunststoffbrille, eine Frau trug Neoprenanzug. Es waren vor allem sportliche Leute unterwegs, die konzentriert das Becken durchkraulten. Und während ich ebenfalls meine Bahnen zog, im gewohnten Rhythmus, abtauchen und strecken, auftauchen und Luft holen, wieder abtauchen, sah ich auf einmal meinen Vater. Er schwamm schräg vor mir, langsam kraulend. Ich erkannte seine Arme, sein Gesicht von der Seite, unter Wasser seine Beine und seine blassen Fußsohlen. Ein Mann von Ende vierzig, Anfang fünfzig, das Alter, in dem er während meiner Kindheit und frühen Teenagerzeit gewesen war. Die Jahre vor der Trennung meiner Eltern.
Mein Vater war im Sommer 2012 fast achtzigjährig verstorben. Nun schwamm er vor mir her. Genau jetzt, in dieser Zeit, in der in so vielen Familien, Städten, Regionen und Ländern um Covid-Opfer getrauert wurde, um Menschen, von denen oft kein Abschied möglich gewesen war. Eine Zeit, in der sich uns die Bilder von menschenleeren Straßen in Paris, Barcelona oder New York eingeprägt hatten und wir so viele Geschichten gehört und gelesen hatten, von Menschen, die in ihren Wohnungen vereinsamten, eine Zeit, in der auch ich mich ratlos oder erschöpft fühlte und mich der Gedanke an den kommenden Herbst und Winter beklommen machte.
In all dem spürte ich auf einmal das stille Wohlwollen meines Vaters. Als würde er sich freuen, mich hier zu wissen, mich, die Tochter im Alter von Mitte vierzig, Mutter eines jungen Teenagers, den er nur als Kleinkind gekannt hatte, Autorin, die er nur als schüchterne Stipendiatin von Literaturwerkstätten erlebt hatte.
Ich stellte mir vor, wie wir uns am Beckenrand trafen und er sagte: Du schwimmst also immer noch gern. Wie schön! Und überhaupt, mach weiter so! Nur das, ganz einfach. Und dann begannen wir die nächste Bahn, er ein Stück schräg vor mir, sodass ich ihn weiterhin sehen konnte.
Die nächsten Male im Freibad dachte ich mir meinen Vater ganz gezielt herbei, und tatsächlich, es funktionierte. Nach und nach leuchteten außerdem Momente aus meiner Kindheit auf, Bilder und Erlebnisse, an die ich lange nicht gedacht hatte. Mein Vater am Mittelmeer, wie er im hüfthohen Wasser steht, wie er sich nach vorn beugt und kopfüber eintaucht, seinen breiten Rücken im Meer versenkt, ohne lautes Platschen, ohne große Welle, wie er einige Meter taucht und dann loskrault. Er war ein ziemlich guter Schwimmer.
Und dann, ein verregneter Sommer in Dänemark, in Nordjütland. Ich bin sechs Jahre alt, und mein Vater bringt mir das Schwimmen bei, im Hallenbad einer Feriensiedlung, aus der Perspektive des Mädchens in einem endlos großen Becken. Die Siedlung gibt es noch, ich habe mir Fotos angesehen, das Becken ist keine 20 Meter lang, doch erstaunlicherweise schieben sich meine Erinnerungsbilder immer wieder vor diese Fotografien. Das Mädchen zappelt und hält entschlossen das spitze Kinn über Wasser, es hört die beruhigende Stimme seines Vaters – Langsam, nicht so hastig mit den Armen rudern, langsam. Es kann dir nichts passieren – und spürt seine stützende Hand unter dem Bauch. Es strampelt durch das petrolfarbene Wasser, getragen von dieser Hand, hinter den großen Fenstern Dünen und Regenwolken. Und während es weiter hektisch die Arme und Beine bewegt wie ein kleiner, dünner Frosch, blickt das Mädchen einmal kurz zur Seite und stellt fest, dass da niemand mehr steht und dass da auch keine Hand mehr unter dem Bauch ist. Dieser Moment des Erschreckens, dann der Verblüffung, dann des Glücks: Ich bin geschwommen. Nichts anderes als die Bewegung meiner Arme und Beine hat es bewirkt. Genau, wie es mein Vater mir versprochen hatte. Ihm zu vertrauen war richtig gewesen. Er hatte recht, ich bin nicht untergegangen. Das ist es, das Schwimmen. Oder so, zumindest, beginnt es.
Abtauchen, strecken, auftauchen, Luft holen, den Blick auf die türkisen Kacheln gerichtet, ließ ich die Erinnerungen kommen und ziehen, und es fühlte sich ähnlich an, wie durch alte Familienfotos zu gehen. Bilder der...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2023 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sonstiges ► Geschenkbücher | |
Schlagworte | Baden • Hamburg • Meer • Schwimmen • See • Sommer • Sport • Tauchen • Wasser • Wellen |
ISBN-10 | 3-03790-151-9 / 3037901519 |
ISBN-13 | 978-3-03790-151-9 / 9783037901519 |
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Größe: 984 KB
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