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Die Gutenberg-Elegien (eBook)

Lesen im elektronischen Zeitalter
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561705-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Gutenberg-Elegien -  Sven Birkerts
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Leidenschaftliche und melancholische essayistische Variationen über das Lesen, allen Bücherfreunden zum Trost, die sich den Verheißungen der schönen neuen Bildschirmwelt nicht restlos überlassen wollen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Sven Birkerts, Jahrgang 1951, Universitätsdozent und Literaturkritiker, hat preisgekrönte Bücher zu Themen zwischen Literatur und elektronischen Medien verfaßt.

Sven Birkerts, Jahrgang 1951, Universitätsdozent und Literaturkritiker, hat preisgekrönte Bücher zu Themen zwischen Literatur und elektronischen Medien verfaßt.

I Das lesende Ich


1 Maa … Vuu … Huu … Puu …


Virginia Woolf war es, die mich wieder zum Nachdenken über das Denken brachte, mich veranlaßte, die Vorzüge der abstrakten Analyse und die Reize eines umschweifigeren, subjektiveren Zugangs zu den Dingen gegeneinander abzuwägen. Der Vergleich diente der Befriedigung einer rein theoretischen Neugier. Die Möglichkeit des abstrakten Analysierens ist mir seit geraumer Zeit verschlossen – ich habe festgestellt, daß ich nicht mehr in der Lage bin, auf einen einzelnen Hasen Jagd zu machen. Fragen und Probleme scheinen nur mehr gebündelt auf mich zukommen zu wollen. Sie zeigen sich unlösbar mit den Umständen verflochten, und es gelingt mir nicht, sie für das Denken zu isolieren. Ebensowenig vermag ich meine eigene Perspektive auszuklammern. Alles ist relativ, relational, einsteinianisch. Denken ist für mich heute nicht mehr etwas, was ich tue, sondern etwas, woran ich partizipiere. Es ist eine komplexe Erzählhandlung, deren Entfaltungsschritte mich ebensosehr interessieren wie ihr Ergebnis. Ich bin offenbar ein Essayist und kein Philosoph.

Ich hatte diese diversen Abgrenzungen nun schon eine ganze Weile im Kopf, aber lediglich als ein Geflimmer von vagen Ahnungen. Der Magnet, der mit seinen Kraftlinien die Partikel zu einer Figur ordnete, war Woolfs klassischer Essay A Room of One’s Own (dt. Ein Zimmer für sich allein). Nicht sein Was, sondern sein Wie. Beim Lesen dieser Prosa fand ich mich mit einem Paradox konfrontiert, unter dessen Eindruck ich mich, jede Faser meines Leibes gespannt, in meinem Sessel aufrichtete. An Ideen bietet Woolf eigentlich wenig und – zumindest von unserem historischen Standpunkt aus gesehen – ziemlich Selbstverständliches. Aber dennoch beeindruckt bei ihr zutiefst der Denkprozeß als solcher, imponiert die Eindringlichkeit des lebendigen Denkens auf der Buchseite. Wie haben wir uns das zu erklären? Wie kann ein Stück Schriftstellerei, das nur schlichte Ideen enthält, den Leser mit seinem Denken packen und erregen? Die Antwort ist nach meinem Dafürhalten, daß Ideen nicht das A und O des Denkens sind; das Denken besteht ebensowohl in der Bewegung über den Bach wie in den Trittsteinen, die sie ermöglichen. Denken ist eine verschlungene Choreographie von Bewegung, Übergang und Ruhe, ein Aufscheinen der Muskulatur des Geistes. Und ebendies finde ich in überreichem Maße und inspirierender Form in der Prosa Virginia Woolfs. Sie liefert den Kontext mit, zeigt sowohl das Problem als auch ihre eigene Beziehung zu ihm. Während sie dann von ihrem zunehmenden Engagement erzählt, enthüllt sie Erregenderes und Kostbareres, als bloße Begriffe je vermitteln könnten. Sie zeigt, wie ein beiläufiges Erlebnis auf die aufnahmebereite Sensibilität treffen und die Triebfeder der Kreativität auslösen kann.

Es ist hier nicht möglich, den Text so ausführlich zu zitieren, wie es nötig wäre, um den Leser von dem Gesagten anschaulich zu überzeugen, aber ich kann zumindest ansatzweise das Arom von Virginia Woolfs Sinnieren, ihre spezielle Art und Weise, Bericht und Spekulation ineinander zu verweben, evozieren. Sie hat, wie sie uns eingangs mitteilt, zugesagt, ihre Ansichten zu dem Thema Frauen und erzählende Literatur darzulegen. Auf den ersten Seiten ihres Essays rekapituliert sie die Verlegenheit, in die sie sich damit gebracht hat. Sie ist jetzt eine Schriftstellerin auf der Suche nach einer Idee. Und ihre Vorgehensweise unterscheidet sich nicht sonderlich von dem klassischen Schachzug der Studienanfängerin, die ihre Seminararbeit mit einer Reflexion über die Schwierigkeit, eine Seminararbeit zu schreiben, einleitet. Indes, Virgina Woolf ist Virginia Woolf und ihre stilistische Verve unübertroffen:

Da war ich nun vor ein oder zwei Wochen (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer Sie wollen – das ist unwichtig), saß bei herrlichem Oktoberwetter am Ufer eines Flusses, in Gedanken verloren. Dieses Joch, von dem ich sprach, Frauen und erzählende Literatur, die Notwendigkeit, über ein Thema zu einem Schluß zu kommen, das alle Arten von Vorurteilen und Leidenschaften hervorruft, drückte mich nieder. Rechts und links von mir glühten irgendwelche Büsche, karmesinrot und golden, ja schienen, von der Hitze entfacht, in Flammen zu stehen. Am anderen Ufer trauerten Weiden in unaufhörlicher Klage, das Haar um die Schultern wallend. Von Himmel und Brücke und flammendem Baum spiegelte der Fluß wider, was ihm gerade paßte, und wenn der Student sein Boot durch die Spiegelbilder hindurchgerudert hatte, schlossen sie sich wieder, vollständig, als hätte es ihn nie gegeben. Man hätte dort rund um die Uhr sitzen können, in Gedanken verloren. Mein Denken – um es bei einem stolzeren Namen zu nennen, als es verdient – hatte die Angel in das strömende Wasser ausgeworfen. Minute um Minute tanzte der Schwimmer zwischen den Spiegelbildern und den Wasserpflanzen, hierhin und dorthin, ließ sich vom Wasser heben und senken, bis sich – mit dem bekannten leichten Ruck – am Ende der Schnur ein Gedanke ballte: und dann das behutsame Aufwinden der Schnur und das vorsichtige Ablegen des Fangs am Ufer? Ach, als er da auf dem Gras lag, wie unbedeutend nahm sich mein Gedanke aus – ein Fang, wie ihn jeder gute Angler ins Wasser zurückwirft, damit er noch zunehmen kann, um eines Tages zum Gekocht- und Gegessenwerden zu taugen.

Kurze Zeit später wird Woolf sich erheben und ein Rasenstück überqueren wollen, mit dem Erfolg, daß sie einem diensteifrigen Universitätspedell in die Arme läuft, der sie nicht nur auf für ihresgleichen zum Begehen freigegebenes Terrain zurückscheucht, sondern auch in ihrem Innern einen Wachtraum um männliche Macht und männliche Privilegien in Gang setzt. So kommt sie im Triumph an ihr Ziel: durch Vertrauen auf den glücklichen Zufall, der zur rechten Zeit die erleuchtende Beobachtung, den beflügelnden Einfall beschert, ein Vertrauen, das sich bei Lichte besehen als der bedingungslose Glaube an die verwandelnde Kraft des schöpferischen Intellekts entpuppt. Was immer A Room of One’s Own über Frauen und Männer, das Handwerk des Schriftstellers und die Gesellschaft zu sagen weiß, der Essay gibt darüber hinaus auch perfekten Anschauungsunterricht in etwas, was man »Ästhetik nach Art der Elster« nennen könnte. Woolf ist hier die flickschusternde Bosselerin, die als Material verwendet, was ihr gerade unter die Finger kommt, sie ist die flâneuse, die das Unscheinbare und Nebensächliche errettet, indem sie es in seinen wahren Bedeutungskontext stellt. Sie exemplifiziert in der eigenen Person einen neuen Kurs für das Bewußtsein und die Sensibilität, gibt Wege zu bedenken, die zu beschreiten wir nun, da die Philosophen, die altbekannten Liebhaber der Wahrheit, sich auf dem immer schmaler werdenden Pfad der Abstraktion in die unwirtlichen Höhen jenseits der Baumgrenze entfernt haben, bei einiger Überlegung vielleicht auch für uns selbst nicht ausschließen.

Spätestens jetzt dürfte der gewitzte Leser mein Spiel durchschaut und gemerkt haben, daß es mir nicht allein darum zu tun ist, ein Loblied zu singen auf Woolfs geschicktes Verfahren der indirekten Annäherung an ein Thema, sondern daß ich es auf meine eigene, ungelenke Weise nachzuahmen suche. Woolf wurde ihr »Joch« (»Frauen und erzählende Literatur«) von fremder Hand auferlegt; in das meine – nennen wir es »Lesen, Sinn und Bedeutung« – habe ich mich aus freien Stücken selbst hineingezwängt. Ich weiß, daß ich vor einer unlösbaren Aufgabe stehe. Wer darf hoffen, über eine unermeßlich umfangreiche Materie wie diese etwas Endgültiges sagen zu können? Ich habe mich jedoch für einen Gegenstand unermeßlichen Umfangs eben deswegen entschieden, weil er mir die Möglichkeit gibt, diese mir noch unvertraute essayistische Methode zu sondieren. Eine Methode, die nicht in dem Streben nach Endgültigkeit, sondern in unsystematischen Kreuz- und Querzügen der forschenden Neugier gründet; die sich den Grundsatz zu eigen gemacht hat, daß das Denken nicht einfach nur auf Nutzeffekte aus ist, sondern auch so etwas wie eine narrative Reise sein kann, die genügend Freiheit für Picknicks unterwegs läßt.

In Virginia Woolf beschwöre ich den Spiritus rector. Ihr Beispiel setzt die Tonart für eine Untersuchung, die darauf abzielt, den Stellenwert des Lesens und der Sensibilität innerhalb der aufziehenden elektronischen Kultur zu bestimmen. In dem Koordinatensystem, auf das ich die Verhältnisse beziehe, bezeichnet Woolf beinahe einen Grenzwert. Tatsächlich steht ihr Werk für manches von ebendem, was in der gegenwärtigen Epoche vom Untergang bedroht ist: die differenzierte Subjektivität, das träumerische Denken, die sprachliche Nuanciertheit, die geistige Leidenschaft …

Ehe ich fortfahre, muß ich ein Geständnis ablegen, das einen paradoxen Sachverhalt betrifft: Den Anstoß, A Room of One’s Own zu lesen, gab mir eine Bearbeitung des Buches für das Fernsehen, die ich mir ansah. In der Rolle von Virginia Woolf, die – so der fiktionale Rahmen – als Rednerin vor Studentinnen des Girton College auftritt, bestritt Eileen Atkins die Sendung mit einem aus ausgewählten Textpartien zusammengesetzten Monolog, der eine geschlagene Stunde dauerte. Atkins agierte den Part mit minimalem Aufwand an Requisiten, aber einem dafür um so außergewöhnlicheren gestischen Repertoire. Und ich, in meine Sofaecke geklemmt, war hypnotisiert. Von der Kunst der Schauspielerin, keine Frage, aber noch mehr von der puren Kraft und Schönheit...

Erscheint lt. Verlag 28.4.2017
Nachwort Sigurd Martin
Übersetzer Kurt Neff
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Buch • Computer • EDV • Lesen • Literatur • Sachbuch
ISBN-10 3-10-561705-1 / 3105617051
ISBN-13 978-3-10-561705-2 / 9783105617052
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