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Im Land der Täter (eBook)

Gespräche mit überlebenden Juden
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
308 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561718-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Land der Täter -  Susann Heenen-Wolff
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Vor 1933 lebte ungefähr eine halbe Million Juden in Deutschland. Nachdem sich zwischen 1945 und 1990 zeitweise bis zu 200 000 Juden in Deutschland aufhielten, Überlebende der Vernichtungslager, die größtenteils in die USA oder nach Israel auswanderten, waren es Anfang der 90er noch etwa 45 000. Warum sind sie in Deutschland geblieben? Wie leben sie unter den Mördern ihrer Familien und deren Nachkommen? Überlebende Opfer des Nazi-Terrors berichten über ihre Alltagserfahrungen, Hoffnungen und Ängste. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Susann Heenen-Wolff wurde 1956 geboren. Sie studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie in Frankfurt am Main und promovierte über »Die Freudsche Psychoanalyse zwischen Assimilation und Antisemitismus«.

Susann Heenen-Wolff wurde 1956 geboren. Sie studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie in Frankfurt am Main und promovierte über »Die Freudsche Psychoanalyse zwischen Assimilation und Antisemitismus«.

Moses Gercek


geboren in Numce/ Polen

Jahrgang 1915

Wohnort: München

Nach dem Krieg haben viele junge Männer gleich nicht-jüdische Frauen geheiratet. Mich hat das sehr gewundert. Tausende hat es gewundert, aber so war das. Warum die das gemacht haben? Ich schätze, die deutschen Mädchen waren sehr anschmiegsam, die waren sehr leicht zu bekommen, für eine Tafel Schokolade oder eine Packung Zigaretten. Jüdische Mädchen gab es viel weniger als jüdische Männer, weil die Männer robuster gewesen waren, sie haben mehr ausgehalten und sind deshalb eher am Leben geblieben.

Die jüdischen Mädchen wollten heiraten, die hatten noch die Einstellung von den osteuropäischen jüdischen Frauen, die sich nicht gehen ließen, sie sind nicht so schnell mit jemandem ins Bett gegangen. Und die deutschen Frauen haben den jüdischen, in der Liebe unerfahrenen Männern gezeigt, was Liebe ist. Das hat denen wahrscheinlich auch imponiert. Die haben ihnen eine gewisse Wärme gegeben, die ihnen so lange gefehlt hat, und so ist es passiert, daß sie dann auch geheiratet haben. Na ja, manche haben sich schwer getan, sehr schwer getan, also, ich rede für die Juden in München, denn ich bin gleich nach der Befreiung hierhergekommen.

Die Juden in München sind eine kompakt jüdische Gesellschaft. Wir waren jüdischer Gesinnung, und die meisten haben das jüdische Leben beibehalten. Deshalb haben wir auch die sogenannten Mischehen nicht richtig in der Gemeinschaft aufgenommen, obwohl bestimmt fünfundneunzig Prozent der Frauen früher oder später den jüdischen Glauben angenommen haben. Für die Kinder ist es dann leichter. Für die Kinder, die aus solchen Mischehen stammen und die sich als Juden fühlen, ist es einfacher. Sie finden leichter in die jüdische Gesellschaft als die Mütter, wenn sie das wünschen, aber es gibt auch Kinder, die sich völlig vom Judentum entfernen.

Man wundert sich über uns, daß wir dageblieben sind, das wollen Sie doch wissen! Ich war einmal auf einer Veranstaltung in der Jüdischen Gemeinde, da war ein promovierter Mann, der war sechzig oder siebzig Jahre alt, und da war auch so ein sehr schöner netter junger Mann. Und wir osteuropäischen Juden waren ihm fremd. Er hat einen Vortrag gehalten und wollte unbedingt von uns wissen: ›Wie fühlen Sie sich in Deutschland, Sie, die aus Osteuropa gekommen sind?‹

Wir waren damals vielleicht zehn Jahre in Deutschland. Der eine hat so geantwortet, der andere so, und ich habe dann gesagt: »Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen: Der Große Fritz belagert Danzig, das war damals polnisch, und er wollte die Stadt besetzen. Aber die Stadt hat sich gehalten. Und der Große Fritz konnte die Stadt nicht bezwingen. Und dann hat er Spione in die Stadt geschickt, aber die hat man erwischt. Dann hat er selbst spioniert und unterirdische Kanäle entdeckt, durch die Nahrungsmittel geschmuggelt wurden. Und das war der Grund, wieso die Stadt sich halten konnte. Beim Rückzug hat man ihn entdeckt, aber ein jüdischer Schmied hat ihm das Leben gerettet. Er hat ihn bei Nacht durch eine Geheimtür aus der Stadt herausgeführt. Und da hat der Große Fritz dem Juden gesagt: ›Wenn ich die Stadt eingenommen habe, kannst Du von mir haben, was Du willst.‹

Später, als es soweit war, hat er ihn rufen lassen und hat gefragt: ›Na, was willst Du haben? Du hast mir das Leben gerettet!‹

Und da hat der Jude geantwortet: ›Majestät, ich will gar nichts von Ihnen, aber sagen Sie mir, wie haben Sie sich gefühlt, als Sie bei mir zu Hause waren, und ich Sie vor ihren Verfolgern in meinem Bett versteckt habe, meine Frau sich oben drauf gelegt und geschrieen hat, als die Jäger kamen, die Sie gejagt haben?

Die haben gefragt: Warum schreit diese Frau? Und dann haben wir gesagt: Sie hat die Cholera! Und da sind sie erschrocken und sind weg.‹ Und so hat er sich retten können.

Also sagt der Jude: ›Wie hat sich Majestät gefühlt, als Sie bei mir im Bett und die Verfolger im Zimmer waren?‹

Sagt er: ›Verdammter Jude! Du wagst, mir eine solche Frage zu stellen? Aufhängen!‹ Und man hat ein Gestell gebaut …« Wie sagt man …?

Galgen.

»… einen Galgen, hat ihm den Strick um den Hals gelegt, und der Scharfrichter will schon den Hocker umstoßen, damit der Jude runterfällt, und da sagt der Fritz: ›Halt! Du hast mich gefragt, wie ich mich gefühlt habe. Wie fühlst Du Dich jetzt? So habe ich mich gefühlt bei Dir im Bett. Wenn ich Dir das erzählt hätte, hättest Du nichts verstanden.‹«

Ich habe also diese Geschichte erzählt und habe dann gesagt: »Herr Doktor, Sie fragen uns, wie wir osteuropäischen Juden uns in Deutschland fühlen, Sie als deutscher Jude. Man hat den deutschen Juden ins Gesicht gespuckt, obwohl viele von ihnen gar nicht wußten, daß sie Juden sind, weil sie völlig assimiliert waren. Trotzdem mußten sie flüchten, um ihr nacktes Leben zu retten. Sie sind zurück gekommen! Sagen Sie: Wie fühlen Sie sich hier?«

Und da hat er gesagt: »Sie haben recht. Wir sind in der gleichen Lage.«

Warum wir hiergeblieben sind und wie? Darauf kann man sehr unterschiedlich antworten. Sehen Sie, meinen Freund Max hier in München kenne ich, weil er mit seinem Bruder in derselben Nacht in Auschwitz angekommen ist wie ich, im Januar 1943. Er kam aus der Tschechoslowakei, ich aus Polen. Er ist mit seinem Bruder der einzige Überlebende der Familie. Jeder ist nach der Befreiung seinen eigenen Weg gegangen. Aber eigentlich sind wir denselben Weg gegangen.

Jeder war hier und hat sich irgendwie eingeordnet. Alle Wege führen nach Rom. Es kommt alles auf das gleiche heraus. Ich habe kürzlich mit einem Mann verhandelt von einem großen Konzern, von BMW, ein höherer Angestellter. Wir haben uns zweieinhalb Stunden unterhalten, das Geschäftliche hatten wir in fünfzehn Minuten erledigt. Er hat mich ausgefragt, und ich habe ihm erzählt.

Und da hat er mich gefragt: »Herr Gercek, seien Sie mir nicht bös, ich meine das nicht bös, aber wie haben Sie hier bleiben können? Wie haben Sie, nach allem, was Sie durchgemacht haben, hier bleiben können?«

Und da habe ich gesagt: »Ich kann Ihnen verschiedene Antworten geben: Wenn alle Juden nach dem Krieg Deutschland verlassen hätten, wäre Deutschland judenrein. Und damit wäre der Traum von Hitler und den Nazis erfüllt: Deutschland judenrein! Diese Satisfaktion wollten wir den Deutschen nicht geben.«

»Aber«, sagte ich, »das ist Demagogie. Nur wegen dem sind wir nicht geblieben.«

Ich kann auch sagen: Wir sind geblieben als Zeitzeugen. Adenauer hat 1949 oder 1950 ein Abkommen gemacht wegen Entschädigung. Wenn hier keine Juden gewesen wären, hätte man die drei Milliarden gezahlt, die damals vereinbart waren. Und dann: Keine Juden mehr da, keine Gewissensbisse mehr da, man hat bezahlt für alles! Für die Leiden und für die Toten, man hat bezahlt, und es gibt nichts mehr, was erinnern soll. Wir sind dageblieben, um die Deutschen zu erinnern, daß mit Geld nicht alles zu bezahlen ist.

Ich habe schon manchem gesagt: »Wenn Sie mich sehen oder einen anderen Juden, sollen Sie wissen: Ihr seid Mörder, wenn nicht Sie, dann Ihr Vater, Ihr Bruder, ein Verwandter. Ein Mörder aus Ihrer Familie war dort.«

Denn Hitler hat nicht mit einer kleinen Bande die Juden ausgelöscht, sondern mindestens eine Viertelmillion der deutschen Bevölkerung hat selber Hand angelegt dabei. Aber wenn ich sage, wegen dem bin ich dageblieben, ist es auch Demagogie.

Vielleicht, verstehen Sie, gibt es eine gewisse Satisfaktion. Deutschland ist trotz allem nicht judenrein! Hitler hat nicht gesiegt. Wir können Stellung nehmen. Wir können reagieren, wenn die Deutschen zu sehr ihr wahres Gesicht zeigen. Wobei ich auch sagen will: nicht alle Deutschen.

Ich bin mit meinem Bruder übriggeblieben, wir waren sieben Geschwister. Alle sind umgekommen, mit ihren Frauen, mit ihren Kindern, Vater, Mutter. Wir sind zu zweit geblieben. Mein Bruder war damals bei der Befreiung zweiundzwanzig Jahre alt, ich war dreißig. Wir wollten aus Deutschland weg, aber das war nicht so einfach möglich.

Aliyah Beth (geheime Einwanderung nach dem damals britisch besetzten Palästina, S.H.-W.) wollten wir nicht machen, weil wir dafür zu schwach waren. Aber abgesehen davon: obwohl ich ein Zionist seit meinem zwölften Lebensjahr war, ich war im Hachaluz haza’ir (national-jüdische Organisation zur Vorbereitung und beruflichen Ausbildung junger Juden für ein Arbeiterleben in Palästina, S.H.-W.), mein Bruder war sogar als junger Bursche im Betar (radikale jüdische Kampforganisation, S.H.-W.), aber wir hatten Verwandte in Kanada, und wir sollten nach Kanada gehen.

Und zu Beginn des Sommers ’48 – endlich! – haben wir Affidavits bekommen. Wir sind sofort zum kanadischen Konsulat. Wir sind dort untersucht worden, man hat uns geröntgt. Und wie bei Tausenden anderen auch hat man bei meinem Bruder kleine Flecken auf der Lunge entdeckt, bei mir Gott sei Dank nicht. Mein Bruder war zwar gesund. Aber er wurde zurückgestellt. Später hat mir ein Arzt gesagt, ganz saubere Lungen hätten nur die Hirten in der Schweiz, die das ganze Jahr auf der Alm leben. Naja, auf jeden Fall hat man meinen Bruder zurückgestellt. Und ein Monat später ist der Befreiungskrieg ausgebrochen. Israel war in einer sehr schlechten Situation. Mein Bruder hat gesagt, er schäme sich, nach Kanada gehen zu wollen.

»Ich gehe nach Israel«, hat er gesagt. Und zu mir sagt er: »Moische, es war doch Dein Traum, Israel! Jetzt können wir kämpfen. Wir haben doch davon geträumt, in Auschwitz, daß wir unser Leben geben...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Deutschland • Erinnerung • Interview • Judentum • Nationalsozialismus • Sachbuch • Verfolgung • Wiedergutmachung
ISBN-10 3-10-561718-3 / 3105617183
ISBN-13 978-3-10-561718-2 / 9783105617182
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