Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Arbeit macht tot (eBook)

Eine Jugend in Auschwitz

(Autor)

Benjamin Ortmeyer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561615-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Arbeit macht tot -  Tibor Wohl
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
(CHF 14,65)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Dies ist die Geschichte Tibor Wohls, der 1942 als Achtzehnjähriger von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert wurde und dort überlebte. Wohl listet beinahe sachlich auf, was ihm in Auschwitz widerfuhr: die Beleidigungen, die Zwangsarbeit, die Qualen. Er erzählt, wie die Menschen starben, wie sie totgetreten, erschossen, erhängt, geprügelt und durch Giftgas ermordet wurden. Und er beschreibt die ständige Gefahr abzustumpfen - und wie schwer es war, immer wieder dagegen anzukämpfen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Tibor Wohl, geboren 1923, wurde 1942 von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert. Nach seiner Befreiung ging Tibor Wohl nach Prag zurück, wo er feststellen musste, dass seine gesamte Familie ermordet worden war. 1990 veröffentlichte er unter dem Titel ?Arbeit macht tot? einen Bericht über seine Zeit im KZ. Er lebte zuletzt in Frankfurt am Main, wo er 2014 gestorben ist.

Tibor Wohl, geboren 1923, wurde 1942 von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert. Nach seiner Befreiung ging Tibor Wohl nach Prag zurück, wo er feststellen musste, dass seine gesamte Familie ermordet worden war. 1990 veröffentlichte er unter dem Titel ›Arbeit macht tot‹ einen Bericht über seine Zeit im KZ. Er lebte zuletzt in Frankfurt am Main, wo er 2014 gestorben ist. Benjamin Ortmeyer, apl. Prof. Dr. habil., ist inzwischen außerplanmäßiger Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Leiter der Forschungsstelle NS-Pädagogik. 1996 erhielt er für seine Arbeit den Heinz-Galinski-Preis der Jüdischen Gemeinde Berlin.

2 Ankunft in Auschwitz


Es war der 28. Oktober 1942, als wir nach dreitägiger Fahrt ankamen. Wir freuten uns auf die frische Luft, hörten, wie Befehle geschrien wurden. Plötzlich öffnete ein SS-Mann die Tür des Viehwaggons und befahl: »Alle aussteigen!« Häftlinge in gestreiften Anzügen sprangen in die Waggons und halfen den älteren Personen. Aus unserem Waggon wurden drei Leichen herausgeschafft. Es war ein unbeschreibliches Chaos.

Die Häftlinge des Kommandos »Kanada«[2] warfen die Koffer aus den Waggons auf die Rampe. Wir wollten unser Gepäck suchen, aber SS-Männer stießen uns mit Gewehrkolben in Kolonnen und schrien: »Los, los, rasch, rasch!« Die Kinder weinten vor Schreck. Man konnte keinen klaren Gedanken fassen. SS-Männer mit Maschinengewehren umstellten uns. Neben der Rampe warteten ein Lastwagen und ein Krankenwagen, der mit dem Roten Kreuz gekennzeichnet war.

In Kolonnen mußten wir an zwei SS-Offizieren vorbeigehen, die, ohne ein Wort zu sagen, einen nach dem anderen mit einem Handschuh nach rechts oder links wiesen. So teilten sie uns in zwei Gruppen. Die erste Gruppe bestand aus kräftigen jungen Männern bis etwa 35 Jahre; die zweite, größere, aus Kindern, Frauen und den übrigen Männern.

Säuglinge, kleine Kinder mit ihren Müttern und altersschwache Leute wurden in die Lastwagen gepreßt und abtransportiert. Wir jüngeren Männer mußten marschieren.

In dem allgemeinen Durcheinander und Geschrei hatte ich meine fünfundvierzigjährige Mutter, meinen neunundvierzigjährigen Vater und den zwölfjährigen Bruder ohne Abschied aus den Augen verloren.

Nach kurzem Marsch sahen wir Wachtürme und Stacheldrahtzäune mit Schildern: »Vorsicht Hochspannung« und Totenköpfe. Ein breites Tor mit der Aufschrift »Arbeit macht frei« durchschritten wir ohne Mißtrauen. Wir waren schon in Theresienstadt an schwere Arbeit gewöhnt, und von Auschwitz hatten wir nie etwas gehört. Nur um unsere Angehörigen machten wir uns Sorgen.

Die SS brachte uns auf den Appellplatz und zählte uns. Wir waren 247 junge Männer. Jetzt konnten wir unsere Umgebung genauer anschauen: grau in grau, trostlos, Ziegelstein-Baracken und Stacheldraht, so weit das Auge reichte, nur hier und da von einem Wachturm unterbrochen, von dem Maschinengewehre drohten. Unweit von uns arbeiteten an die hundert gestreifte »Geister«, lauter bleiche junge Männer, die die ganze Zeit im Laufschritt hin- und herliefen und niemals lachten oder lächelten. Sie wurden von Häftlingen beaufsichtigt, auf deren Armbinden groß »Kapo«[3] stand. Denen bereitete es sichtlich Genuß, ihre Untergebenen zu prügeln.

Mir fiel auf, daß die Insassen dieses Lagers etwas Gehetztes, ängstlich Angespanntes an sich hatten. In ihren grauen Gesichtern spiegelte sich die Öde und Grausamkeit der Umgebung. Bei diesem Anblick krampfte sich mein Herz zusammen. Ich fragte mich, ob ich auch bald so aussehen würde. Ich ahnte, daß sich hier eine furchtbare Tragödie abspielte. Meine Gedanken waren bei meinen Eltern und bei meinem Bruder, die sich, wie ich hoffte, in der Nähe befanden.

Dann stand ein SS-Mann vor uns und befahl, zu marschieren. Wir wurden in einen großen Waschraum gebracht, mußten uns ausziehen und alle unsere Sachen – Kleidung, Ausweispapiere, Uhren, Schmuck – auf einen Haufen legen. Anschließend mußten wir uns auf Hocker setzen. Kahlgeschorene Häftlinge verpaßten uns die »Auschwitzer Frisur«: Erst wurden die Haare mit einer Schere abgeschnitten, eine Haarschneidemaschine sorgte danach für den vorschriftsmäßig kahlen Kopf. Ein anderer Häftling rasierte uns die Haare unter den Armen und die Schamhaare ab und beschmierte die Stellen mit Petroleum.

Danach öffnete man die Türen zum Bad, und wir wurden kalt abgeduscht. Schließlich erhielten wir unsere neue Kleidung: ein Hemd, das mir kaum über den Nabel reichte; eine dünne Unterhose, die bis unter die Knie reichte, aber den Leib nur teilweise bedeckte. Die Jacke ließ sich über der Brust nicht zuknöpfen, unten schloß sie nur mit Mühe, die Ärmel waren viel zu kurz und spannten an den Ellenbogen. Die Hose endete eine Handbreit über den Knöcheln. Man gab mir zwei verschiedene Holzschuhe: einer paßte, der andere war viel zu eng. Aber ich mußte hinein, denn ein SS-Mann stand bereits mit einem Stock bereit. Zum Schluß erhielt ich noch die kreisrunde, gestreifte schirmlose Mütze. Ich konnte sie nur wie eine Krone tragen, so hoch oben saß sie.

Ich blickte staunend an mir herunter. Dann sah ich die anderen an. Vor einigen Stunden hatten wir noch wie normale Bürger ausgesehen, jetzt glichen wir unglücklichen Clowns. Was machte man hier aus den Menschen? Waren wir durch den geschorenen Kopf und das gestreifte Gewand nicht mehr wir selbst? Äußerlich konnte man uns kaum wiedererkennen. Und innerlich? Ich fühlte mich nicht mehr als Zivilist. Ich war ein anderer geworden. Aber wer? Das Leben im Arbeitslager in Theresienstadt schien schon seit langem vorbei, ein neues Dasein hatte für mich begonnen.

Einer der Häftlinge, ein Landsmann, sagte uns direkt und ohne Beschönigungen: »Ihr seid hier in einem Todeslager, in Auschwitz. Außer euch lebt von dem Transport keiner mehr. Die anderen sind durch den Kamin gegangen. Der graue Rauch am Himmel, die Flammen und der üble Geruch – das kommt von den brennenden Körpern. Von jetzt ab geht es für euch nur um die Frage: Wie lange werdet ihr noch leben? Meistens überstehen die Neuankömmlinge hier nicht mehr als zwei bis drei Wochen, und nur wenigen gelingt es, drei Monate zu überleben. Ihr werdet unter Bedingungen arbeiten müssen, die schlimmer sind als die von Galeerensklaven. Jeder von euch muß versuchen durchzukommen, so gut er kann, so lange wie möglich am Leben zu bleiben.«

Wir hielten ihn für geistesgestört und schenkten seinen Worten keine Beachtung. Zum Nachdenken blieb uns auch keine Zeit, weil andere Häftlinge kamen, die uns unter der Aufsicht von SS-Männern genau durchsuchten. Was wir noch behalten hatten – Uhren, Halsketten, Ringe, Photographien, Taschentücher –, das wurde uns mit Ohrfeigen und Prügeln abgenommen.

Neben mir stand Dr. Beck aus Prag. Er bat höflich, daß man ihm wenigstens sein Doktordiplom der Karls-Universität lasse. Ein SS-Mann lachte höhnisch: »Brauchst du sowieso nicht mehr, ist viel zu gut für einen schmutzigen Juden!« Er zerriß das Diplom vor unseren Augen, warf es weg und gab seinem Besitzer noch ein paar Fußtritte.

Dann kamen wieder andere Häftlinge, die uns ohne unsere Ausweispapiere registrierten: Die Papiere lagen auf einem Haufen auf dem Boden. Schließlich mußten wir uns in einer Schlange nach Namen alphabetisch aufstellen und bekamen alle auf den linken Unterarm eine Nummer eintätowiert. Ich bekam die Nummer 71255. Wir hatten aufgehört, als Menschen zu existieren. An unsere Stelle war eine Nummer getreten. Jeder SS-Mann, jeder Blockälteste[4], jeder Kapo konnte fortan willkürlich über unser Leben verfügen.

Als wir das Bad verließen, erschrak ich. Das gleiche Erschrecken sah ich in den Gesichtern meiner Kameraden. Menschen, wie wir sie noch nie gesehen hatten, wanderten auf der Lagerstraße. Nie im Leben werde ich diesen Zug vergessen. In Fünferreihen gingen, nein, schlurften sie. Mühsam zogen sie ihre Beine nach, wankten, einer hielt sich am anderen fest. Ihre Köpfe waren hautüberspannte Totenschädel, aus denen unheimlich große Augen starrten, ausdruckslos und gläsern. Sie sahen abwesend ins Leere: es war nicht einmal mehr ein Starren. Sie atmeten schwer. Einer stürzte, die hinter ihm kamen, wichen sehr langsam aus: es waren Bewegungen fremder Wesen. Der Gestürzte erhob sich langsam, als stiege er aus dem Grabe. Waren das noch Menschen? Lebten sie wirklich?

Danach übten wir stundenlang »Aufstellen zu fünft«, »Marsch« und »Mützen ab«. Viele Kameraden wurden dabei zu Tode geprügelt. Das Laufen in den Holzpantinen war sehr schwierig. Wer stolperte und fiel, wurde von den SS-Männern getreten, bis er aufstand.

Beim Appell wurden wir wieder von der SS gezählt und mehrmals mit unseren eintätowierten Nummern aufgerufen. Einer fehlte. Die SS-Männer wurden nervös und schlugen uns mit Gewehrkolben; die Blockältesten und Kapos schlugen mit Stöcken. Die Schläge klatschten auf unsere Köpfe und Rücken und hinterließen blutige Striemen. Nach mehreren Stunden wurde der fehlende Häftling tot im Waschraum gefunden. Wir waren völlig erschöpft; viele waren bei der »Aufnahme« ins Lager verwundet worden.

Nun mußten wir uns auf dem Appellplatz aufstellen und warten. Wir standen lange. Ich sah am Himmel den grauen Rauch und spürte den üblen Geruch. Ich dachte darüber nach, ob mein Landsmann im Waschraum mir doch die Wahrheit gesagt hatte.

Auf einmal begann sich der Appellplatz zu füllen. Die Arbeitskommandos marschierten ins Lager ein. Das war grausam anzusehen. Es wurden viele Tote mitgeschleppt und neben dem Kommando auf die Erde gelegt.

Nach dem Lager-Zählappell wurden wir in Block 6 A untergebracht. Dort gab es dreistöckige Schlafstellen. Jedem wurde in einer Koje sein »Bett« zugeteilt. Dann war Essensausgabe. Jeder erhielt ein Stück Brot, Margarine und eine Menageschale. In diese goß man uns ein faulig riechendes, dunkles Gebräu: es sollte Tee sein. Ich roch daran, kostete es und bekam Brechreiz.

Nach dem Essen hielt uns der Blockälteste einen Vortrag über Sauberkeit und...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Auschwitz • Autobiographie • Die Zeit des Nationalsozialismus • Drittes Reich • Erinnerung • Konzentrationslager • Nationalsozialismus
ISBN-10 3-10-561615-2 / 3105616152
ISBN-13 978-3-10-561615-4 / 9783105616154
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Praktische Ansätze zur Gestaltung eigener KI-Lösungen

von Jakob J. Degen

eBook Download (2024)
tredition (Verlag)
CHF 24,40