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Kritik, Norm und Utopie (eBook)

Die normativen Grundlagen der Krititschen Theorie
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
270 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561597-3 (ISBN)

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Kritik, Norm und Utopie -  Seyla Benhabib
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Seyla Benhabib liefert eine sorgfältige Darstellung der philosophischen Fundamente der Kritischen Theorie - eine intensive Befragung ihrer Ideenquellen bei Kant und Hegel und ihrer Entwicklungsgeschichte bis zu Jürgen Habermas. Verglichen mit anderen Werken zu diesem Thema ist die Arbeit der amerikanischen Philosophin sowohl systematischer komponiert als auch in ihren philosophiehistorischen Differenzierungen von erstaunlicher Schlüssigkeit und Präzision. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Seyla Benhabib, geboren 1950 in der Türkei, ist Professorin für Politikwissenschaft und Philosophie an der Yale University.

Seyla Benhabib, geboren 1950 in der Türkei, ist Professorin für Politikwissenschaft und Philosophie an der Yale University.

Einleitung


In den vergangenen Jahrzehnten hat Jürgen Habermas eine kommunikative Ethik formuliert, die in einer sozialwissenschaftlich informierten kritischen Gesellschaftstheorie die Funktion der praktischen Philosophie erfüllen soll. Das vorliegende Buch nahm seinen Ausgang von einem gewissen Mißtrauen und einer Reihe von Fragen hinsichtlich der Erfolgsmöglichkeiten dieses Projekts einer kommunikativen Ethik. Die Art von Überlegungen, zu denen ich hierbei gelangte, hatten ein historisches Vorbild: meine Vermutung bestand darin, daß man im Rekurs auf Hegels Kritik an Kant und an den modernen Naturrechtstheorien eine alternative normative Begründung der Kritischen Theorie müßte entwickeln können. Obschon dieser Gedanke sich als unhaltbar erwies, bleibt doch die Frage, was aus Hegels Kritik an der Kantischen Ethik zu lernen sei, weiterhin bedeutsam. In der Auseinandersetzung mit ihr entstand dieses Buch.

Seit der Veröffentlichung der englischen Fassung Anfang 1986 sind die Hegelsche Kritik der Kantischen Ethik und das Verhältnis zwischen »Moralität und Sittlichkeit« im Projekt einer kommunikativen Ethik auch in der deutschen Diskussion in den Vordergrund getreten.[1] Albrecht Wellmer hat den Gehalt der fraglichen Punkte sehr präzise formuliert, wenn er sagt, »daß der Ausweg aus den Sackgassen der Kantischen Moralphilosophie, auf welche Hegel als erster mit aller Schärfe hingewiesen hat, wenn nicht Hegels Kritik umgehen, so doch am Hegelschen System vorbeiführen wird«. (ED, 11) Der Beitrag, den ich zu dieser Diskussion hoffe beisteuern zu können, besteht in der Feststellung und Klärung derjenigen Hegelschen Themen, die sich aus einem solchen »Vorbeiführen« ergeben würden. Meine These lautet, daß wir Hegel nicht nur zum Zwecke der Reformulierung seiner Kant-Kritik im Kontext zeitgenössischer Ethik-Diskussionen lesen sollten, sondern auch, um den Status einer normativ orientierten Ethik und Politik in der Gesellschaftstheorie zu erhellen.

Es gehört gleichsam zum Wesen der als Kritik bekannten Form philosophischer Analyse, daß sie sich ungeachtet ihrer weitreichenden normativen Ansprüche selbst so versteht, die Naivität politischer und ethischer Werttheorien in normativer Hinsicht hinter sich gelassen zu haben. Die Zurückweisung solcher präskriptiven Wertsetzungen und der traditionellen praktischen Philosophie gehören zum Bestand des Hegelschen Erbes, auf den Max Horkheimer sein Programm einer kritischen Theorie der Gesellschaft gründete. Hegel verwirft nicht nur die Naturrechtsontologie der antiken Philosophie, sondern ebenfalls den Präskriptivismus der Kantischen Moralphilosophie. Um der Naivität einer offenbar wertenden Untersuchungsweise zu entgehen, entwickelt er eine Methode der immanenten Darstellung und Kritik. Bereits vor der Phänomenologie des Geistes aus dem Jahr 1807, welche der Methode der immanenten Kritik ihre überzeugendsten Folgerungen entnimmt, entwickelt Hegel in seinem 1802 bis 1803 verfaßten Aufsatz »Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts« eine immanente Kritik der modernen Naturrechtstheorien auf sowohl substantiellen wie methodologischen Grundlagen.

Ich beginne meine Diskussion dieser Fragen im ersten Kapitel mit einer detaillierten Analyse des »Naturrechts«-Aufsatzes. Mein Ziel in diesem sowie im folgenden Kapitel über »Autonomie und Sittlichkeit« wird es sein, jene Aspekte der Hegelschen Argumentation darzustellen, die im Hinblick auf die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie von besonderer Wichtigkeit sind. Ich werde dabei drei Themenkomplexe unterscheiden:

1. Hegels methodologische Kritik an den modernen Naturrechtstheorien, die sich auf kontrafaktische Gedankenexperimente stützen, lautet, daß sie in eine petitio principii geraten. Obschon dieser Vorwurf auf alle kontrafaktischen Theorien gerichtet werden kann, werde ich zeigen, daß Hegels eigene methodologische Kritik von seiner Version einer »absoluten Sittlichkeit« beeinträchtigt ist, welche das Konsensprinzip als die Legitimationsgrundlage des modernen Staates negiert.

2. Hegels frühe Kritik an den Naturrechtstheorien wird durch das Vorbild der antiken polis unterstützt. Zwischen 1805 und 1806 schlägt Hegel den Weg der Versöhnung mit der Moderne ein, der in der Phänomenologie des Geistes von 1807 kulminiert. Die Phänomenologie beruht auf einer Vorstellung vom Handeln, die ich als das »Werkmodell des Handelns« bezeichne: der Idee eines Kollektivsubjektes – der Geist –, das seine Macht in die Geschichte entäußert, sie außerhalb seiner selbst in einer zweiten Welt zur Verkörperung bringt, sich so von sich selbst entfremdet und diese Entfremdung durch die »Wiederaneignung« dessen, was es einst aus sich entlassen hat, schließlich überwindet. Ich werde diese Auffassung vom Subjekt der Geschichte die »Philosophie des singulären Kollektivsubjekts« nennen. Eine zentrale Hypothese meines Buches lautet, daß Max Horkheimers Emanzipationsbegriff selbst in dem Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« (1937) noch jene Idee des singulären Kollektivsubjekts und geschichtlicher Veränderung enthält, von der sich die Kritische Theorie nie gänzlich freimachen konnte.

3. Im Anschluß an die Darstellung dieser umfassenden Themen im frühen Werk Hegels wende ich mich im zweiten Kapitel einer stärker gebündelten Analyse der Hegelschen Kritik an der Kantischen Ethik zu und hebe dabei mehrere Aspekte gesondert heraus: erstens die methodologischen Einwände gegen den kategorischen Imperativ; zweitens seine institutionelle Kritik an der Kantischen Moraltheorie; drittens die Unzulänglichkeiten der Kantischen Handlungstheorie; und viertens das – aus der Sicht Hegels – repressive Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, zwischen Affekt und Moralität, das für die Kantische Theorie kennzeichnend ist. Ich gehe jedem dieser Einwände gegen die Kantische Ethik aus der Perspektive von Hegels eigener Philosophie des Handelns, insbesondere der des Werkmodells menschlichen Tuns, nach. Das Werkmodell des Handelns unterstützt eine expressivistische Auffassung von Freiheit, wobei Hegel weder dem intersubjektiven Charakter der menschlichen Lebenswelt noch der »interpretativen Unbestimmtheit des Handelns« Rechnung trägt. So führt seine Kritik an der Moralphilosophie Kants zur Vision einer »absoluten Sittlichkeit«, in der die Krisen wenn auch nicht gelöst, so doch verwaltet werden, und in der die öffentlichen Angelegenheiten nicht länger der aktiven Zustimmung der Bürger bedürfen. Meine Folgerung lautet daher, daß Hegels Kritik an den modernen Naturrechtstheorien und an der Kantischen Ethik ein geteilter und partiell fragwürdiger Segen ist, da ihre methodologische Stringenz nicht selten auf Kosten des Konsensprinzips der Legitimation und der Würde des modernen autonomen Subjekts geht.

Der zweite Teil dieses Buches verfährt nach einer Methode der selektiven Auslegung, um die genannten Hegelschen Themen in der kritischen Gesellschaftstheorie Horkheimers und Adornos zu bezeichnen. Zusätzlich zu dem Nachweis einer fortdauernden Wirkung des »Werkmodells des Handelns« und der »Philosophie des singulären Kollektivsubjekts« in der Version der Kritischen Theorie versuche ich – im Hinblick auf deren verschiedene Entwicklungsstufen – zu zeigen, daß sie zu Hegels Kritik an der Kantischen Ethik zurückkehren. Dieses ungeklärte Verhältnis zu Hegels Ablehnung der Moralphilosophie Kants wirft, vor allem was Adornos Autonomiebegriff angeht, Probleme auf. Adorno setzt Hegels Kritik an der repressiven Moralpsychologie Kants in Form einer psychoanalytischen Ich-Kritik fort. Freilich läßt sich unter dem Gewicht einer Dialektik der Negativität kaum mehr zwischen dem Ideal der Autonomie und dem repressiven Ich-Ideal unterscheiden. Mit der selbstwidersprüchlichen Auflösung der Autonomie werden auch die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie zunehmend erschüttert.

In systematischer Hinsicht stellen die letzten beiden Kapitel über das Projekt einer kommunikativen Ethik den Kern dieses Buches dar. Im sechsten Kapitel reformuliere ich Hegels Kritik an der Kantischen Ethik vom Standpunkt der gegenwärtigen Diskussionslage und wende sie auf die kommunikative Ethik an. Wenn man die Hegelschen Einwände sorgfältig erwägt, dann resultiert daraus – so meine Schlußfolgerung – keineswegs eine Rückkehr zu Hegel, sondern vielmehr ein Wechsel in der Betonung, den man unter dem Titel »Vom Konsens zum Diskurs« fassen könnte. Das bedeutet erstens, die Begründungsansprüche einer »Universalpragmatik«, der zufolge Moralprinzipien als Argumentationsregeln aufgefaßt werden, abzuschwächen. Während ich Habermas’ zentrale Einsicht, daß moralische Begründungen als eine Form moralischer Argumentation verstanden werden müssen, verteidige, bestreite ich die Zugehörigkeit des Universalierungsgrundsatzes (U) zu den Präsuppositionen der argumentativen Rede. Ich meine vielmehr, daß es keine Möglichkeit zur »Deduktion« des Universalisierungsprinzips gibt und wir uns mit einer »kontextualistischen Begründung« von (U) zufriedengeben müssen, indem wir seine Annahme durch die Integration von handlungstheoretischen, moralpsychologischen und moralphilosophischen Argumenten vernünftig und einleuchtend machen.

Zweitens zielte einer der zentralen Einwände, die Hegel gegen Kant geltend machte, auf den repressiven Charakter seines Verständnisses der Rolle, welche Motivation und Gefühle in der moralischen...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2017
Übersetzer Peter Kohlhaas
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Entwicklungsgeschichte • Georg Friedrich Wilhelm Hegel • Immanuel Kant • Jürgen Habermas • Kritische Theorie • Max Horkheimer • Philosophie • Sachbuch • Theodor W. Adorno
ISBN-10 3-10-561597-0 / 3105615970
ISBN-13 978-3-10-561597-3 / 9783105615973
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