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Nach Sibirien verbannt (eBook)

Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941-1994
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
186 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561583-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nach Sibirien verbannt -  Julius Wolfenhaut
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Der Autor Julius Wolfenhaut wuchs in Czernowitz unter Juden, Ruthenen, Deutschen und Rumänen auf und erlebte früh den wachsenden Antisemitismus. Die sowjetische Besatzung (ab 1940) deportierte v. a. Juden nach Sibirien. Wolfenhaut, ein junger Ingenieur, wurde als »sozialgefährliches Element« zu Schwerarbeit in Stalinka eingeteilt, anschließend als Lehrer in einer Schule für minderjährige Häftlinge in Tomsk. Nach Aufhebung der Verbannung arbeitete er 25 Jahre lang als Lehrer. 1994 siedelte er nach Deutschland über. In seinen Erinnerungen schildert der Zeitzeuge die Demütigungen und Entbehrungen derjenigen, die vom Sowjetsystem um ihr Lebensglück gebracht worden waren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Julius Wolfenhaut, geboren 1913 in Czernowitz; Dipl.-Ing. Ein Jahr nach der Besetzung seiner Heimat durch sowjetische Truppen (1940) wurde er nach Sibirien deportiert. 1956 endlich hob man seine Verbannung auf. Da der Autor jedoch nicht zurückkehren durfte, arbeitete er dort als Lehrer weiter, bis er 1994 nach Deutschland übersiedelte. Wolfenhaut starb 2010.

Julius Wolfenhaut, geboren 1913 in Czernowitz; Dipl.-Ing. Ein Jahr nach der Besetzung seiner Heimat durch sowjetische Truppen (1940) wurde er nach Sibirien deportiert. 1956 endlich hob man seine Verbannung auf. Da der Autor jedoch nicht zurückkehren durfte, arbeitete er dort als Lehrer weiter, bis er 1994 nach Deutschland übersiedelte. Wolfenhaut starb 2010.

Prolog


Die Erinnerung ist das einzige Paradies,

woraus wir nicht vertrieben werden können.

Jean Paul

Ich bin 78. Müde und verstimmt … Im Nordwesten versinkt die fremde Sonne und färbt den dunkelnden Himmel brandrot. Es werde Wind geben, meinen dazu die Einheimischen … 33 Grad im Schatten! Hätte ich je geahnt, dass es in Sibirien, das sich – damals! – für mich nur mit Schnee und Eis assoziierte, so unerträglich heiß sein könne? Sogar die Innenwände unseres kleinen Blockhauses fühlen sich warm an. Wieder steht mir eine schlaflose Nacht bevor … Der rötliche Widerschein erfüllt die Stube mit fantastischem Glanz und vergoldet das dürftige Mobiliar. Seltsame Schatten zittern auf der aufglühenden kahlen Wand. Für eine Weile bin ich der Gegenwart entrückt. Verwischte Bilder froher und trüber Tage ziehen wahllos vorüber, stumme Gestalten nicken mir heiter, manchmal nachdenklich und vorwurfsvoll zu … Mein Vater … Den ruhigen, ernsten Blick seiner grauen Augen fürchtete ich mehr als Mutters Schelte. Ich empfand ein wenig Scheu vor diesem besonnenen, aufrechten Mann, der seine Liebe zu mir nur selten, sehr selten, durch einen flüchtigen Hauch in den Nacken – es sollte einen Kuss bedeuten – zu erkennen gab.

Es existierte einmal eine Stadt, die hieß Czernowitz … Anfang der zwanziger Jahre wohnten wir dort in der Metzgergasse, einer ungepflasterten, wenig befahrenen Seitenstraße. Vom Fenster im zweiten Stock konnte ich den großen verwilderten Obstgarten, der sich bis in die Franzosgasse zog, überblicken, und wenn wir – Vater, Mutter und ich – sommers auf dem Balkon unser Nachtmahl verzehrten, flatterten, vom Licht angelockt, Fledermäuse um uns herum – Mutter fürchtete sie –, und vom dunklen Garten her hörten wir die Laubfrösche quaken. Oh, wie die Mädels kreischten, wenn wir Jungens, einen Frosch in der Hand, ihnen nachliefen! Wir – das waren der Hausmeistersohn Johannziu Popowicz, ich und, in einigem Abstand aber, Salo Oberweger, der eine Treppe tiefer wohnte. Johannziu und ich hatten ein »Geheimnis« – eine im Garten ausgehobene, gut getarnte kleine Höhle, in der wir Kiesel, Schrauben, Blechbüchsen und dergleichen Kram aufbewahrten, und wie sehr sich Salo auch bemühte dahinter zu kommen, es blieb ihm versagt.

Pan Bohusiewicz, unser Hausherr, war früher Großgrundbesitzer gewesen und gehörte dem polnischen Adel, der Schlachta, an. Als die Jahre ihn zu drücken begannen, machte er seine Güter zu Geld und ließ davon zwei große Mietshäuser, nebenan für sich eine einstöckige Villa bauen. Wir Lausbuben fürchteten den behäbigen, schwerfälligen Mann mit strengen Zügen und rauer Stimme, der uns zuweilen dabei überraschte, wenn wir, rittlings auf dem Treppengeländer sitzend, wie ein geölter Blitz hinuntersausten. Aber schließlich war das ja nur ein vorübergehender Ärger. Schlimmer gestalteten sich unsere Beziehungen zu Frau Wojtanowicz, die im Erdgeschoss wohnte und daher an unserem Treiben im Hof ungewollt teilnahm. Leider ging ihr jedes Verständnis für Sport ab, und als einmal der Ball durchs offene Fenster in ihre Speisekammer flog, wollte sie durchaus nicht einsehen, dass unser Torhüter damit doch meisterhaft ein sicheres Goal zu einem Eckstoß abwehren konnte. Erschwerend kam noch hinzu, dass ihr Söhnchen Ljubziu (Koseform von »Ljubomir«) und der gleichaltrige Richard Zettel, der mit mir Tür an Tür im zweiten Stock wohnte, sich von Zeit zu Zeit erdreisteten, gegen uns ältere Jungen aufzubegehren, wofür beide schließlich eine gehörige Tracht Prügel einstecken mussten. Auf Ljubzius Gebrüll wurde damals von der Gegenseite schweres Geschütz aufgefahren: In der Türöffnung zeigte sich Herr Wojtanowicz, seines Zeichens Lehrer an einer ruthenischen Schule, und fuchtelte bedrohlich mit einem knotigen Stock. In dieser brenzligen Situation entschieden wir uns für die »Vorsicht als das bessere Teil der Tapferkeit« und nahmen Reißaus in den Obstgarten, von wo aus wir, im hohen Gras gut gedeckt, belustigt der ergebnislosen feindlichen Suchaktion zusahen.

Gleichfalls im Erdgeschoss wohnte der deutsche Gymnasialprofessor Hudeczek, dessen Tochter Hertha zur ersten Schönheitskönigin von Czernowitz gewählt wurde. Da waren wir aber mächtig stolz! Im Vergleich zu den Wojtanowicz’ befand sich der Professor insofern in strategisch günstigerer Lage, als vor seinen Fenstern der schmale Hof geschottert und demnach zum Fußballspielen nicht geeignet war.

Der ethnischen Zugehörigkeit nach entsprach die Zusammensetzung der Bewohner beider Mietshäuser der ungefähren Verteilung der Czernowitzer Bevölkerung um 1918 (nach abnehmender Zahl): Juden, Ruthenen, Deutsche, Polen; geringere Quoten entfielen auf Rumänen, Ungarn, Tschechen. Die auf kulturelles Eigenleben bedachten größeren ethnischen Gruppen hatten eigene Schulen, gaben Zeitungen heraus und verfügten über Volkshäuser. Das Jüdische Haus, ein stattliches Gebäude, dessen Fassade vier Halbsäulen zierten, stand am Theaterplatz; das Deutsche Haus, ein hellgrauer, an noble Patrizierhäuser angrenzender repräsentativer Bau, mit Erkern, spitzen Bögen und Türmchen versehen, die den gotischen Stil andeuteten, befand sich in der vornehmen Herrengasse; schräg gegenüber stand das breitere, aber niedrige Polnische Haus »Dom Polski«. Gleichfalls zentral gelegen war das Ruthenische Haus »Narodny Dym«, es stand in der Petrowiczgasse unweit der armenischen Kirche.

Der Hang zu kultureller Eigenständigkeit erfasste auch das Sportwesen – es gab in Czernowitz vier Fußballklubs: einen jüdischen, der hieß »Makkabi«, sein Dress war selbstverständlich blauweiß; einen deutschen, »Jahn« genannt nach dem Turnvater, der Dress – ganz richtig! – schwarzweiß; einen ruthenischen, der hieß »Dowbusch«[1], der Dress war natürlich blaugelb, und schließlich die »Polonia« in ihrem traditionellen rotweißen Dress. Später gesellte sich noch ein rumänischer Klub hinzu. Seinen Namen zu wählen machte keine Mühe: Er wurde »Dragoş Voda« genannt, nach dem Begründer des Moldauer Staates im 14. Jahrhundert. Schwieriger verhielt es sich mit dem Dress; da er einerseits in den Farben der rumänischen Trikolore (Blau-Gelb-Rot) gehalten werden musste, andererseits aber einige Farbenkombinationen schon vergeben waren, einigte man sich schließlich auf Blau-Rot.

Das Makkabi-Stadion lag weitab von der südlichen Endstation der Straßenbahn, und wenn ein Spiel ausgetragen werden sollte, sah man unsere Fans in Scharen dorthin wandern, unter ihnen eines der Czernowitzer Originale, den »Roten Bubi« (so benannt nach der Haarfarbe) – ein etwas vergütetes Pendant zum »Pepku, hop!« aus »Schwejks Abenteuern«: Für ein paar Lei[2] krähte er einige Male »Hoch Makkabi!« und trollte sich dann fort, um jemand andern anzuschnorren.

Die Rumänen machten sich wegen der Suche nach einem passenden, möglichst nahe und schön gelegenen Fußballfeld nicht viel Kopfschmerzen: Sie ließen einfach den südlichen Teil des herrlichen Volksgartens ausroden – und schon war unseren Blau-Roten geholfen! Es blieb sogar noch etwas übrig. Um dieses Etwas zu durchmessen, bedurfte es allerdings mehr als einer viertel Stunde, denn die Österreicher hatten seinerzeit den Volksgarten in weiser Voraussicht auf einer Fläche von etwa 3000 Ar angelegt. Um gegen die rumänische Verwaltung gerecht zu sein, will ich zugeben, dass sie den Rest des Gartens vorbildlich gepflegt hat. Hohes Lob verdient das Rosarium, das sie auf einem Rondell dort angelegt hatte. Schon von weitem konnte man den wundervollen Duft riechen, und kam man näher, so boten die Sträucher, deren schlanke Stämmchen kugelförmig zugestutzte rosenübersäte Kronen trugen, ein paradiesisches Bild.

Wir waren aus der Metzgergasse ausgezogen und wohnten nun in der ruhigen Theatergasse, die am Stadttheater, einem repräsentativen, vorzüglich eingerichteten Bau, vorüberführte. In einiger Entfernung vom Theater, in Richtung Westen, zeichnete sich bereits der Stadtrand ab. Das Gelände begann nun abzufallen, und wenn man tüchtig ausschritt, so gelangte man nach etwa einer Stunde Weg in ein Tal, wo Rosch lag, eine der Czernowitzer Vorstädte. Gehöfte mit schmucken, geweißten Einfamilienhäusern, geräumige Scheunen und Ställe, ausgedehnte Gemüsebeete und Obstgärten zeugten vom Wohlstand der Besitzer. Diese waren Schwaben[3], die sich im Ausgang des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert hier angesiedelt hatten und nun als treffliche Landwirte die Stadt mit Gemüse, Obst und Milch versorgten. Frühmorgens sah man die Schwäbinnen, die durch ihre Tracht – helle Bluse, langer dunkler Rock – von anderen Bauersfrauen abstachen, ihre Ware zu Markte bringen. Ich bewunderte immer die Kunstfertigkeit, mit der sie den schweren Korb, unter den sie ein kleines, rundes Kissen legten, auf dem Kopf trugen und sich mit federnden Schritten, den Korb von Zeit zu Zeit mit der Hand stützend, eilig fortbewegten. »Ich kaufe nur bei einer Schwäbin«, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn sie die anderthalb Oka[4] Milch zum Kochen aufsetzte. In gewissem Sinne hatte sich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Schwäbin« verwischt; man empfand es als Synonym für eine saubere, ehrliche Händlerin.

Abb. 1: Meine Mutter Pepi Wolfenhaut (1881–1942) mit mir im Czernowitzer Volksgarten (Mitte der 30er Jahre)

Die Hütten, die ihr...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2017
Reihe/Serie Die Zeit des Nationalsozialismus – »Schwarze Reihe«
Die Zeit des Nationalsozialismus – »Schwarze Reihe«
Die Zeit des Nationalsozialismus. "Schwarze Reihe".
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Antisemitismus • Autobiographie • Czernowitz • Die Zeit des Nationalsozialismus • Nationalsozialismus • Sibirien • Stalinismus • Verbannung
ISBN-10 3-10-561583-0 / 3105615830
ISBN-13 978-3-10-561583-6 / 9783105615836
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