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Descartes Traum (eBook)

Über die Mathematisierung von Zeit und Raum. Von denkenden Computern, Politik und Liebe
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
422 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560974-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Descartes Traum -  Philip J. Davis,  Reuben Hersh
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Es war René Descartes, der die Welt im 17. Jahrhundert auf den Kurs steuerte, dessen Stationen bald seine kühnsten Träume übersteigen sollten: die Rationalisierung der Welt, ihre Erkundung und Beherrschung durch die Methoden der Messung, des Zählens, Quantifizierens und Analysierens. Philip J. Davis und Reuben Hersh fahren diese Route erneut ab und stellen in ihrem »Kursbuch«, das erstmals 1986 erschien, eine Reihe wichtiger Fragen: Wie beeinflußt die Computerisierung der Welt die materiellen und intellektuellen Bausteine unserer Zivilisation? Wie verändert der Computer unsere Vorstellungen von der Realität, vom Wissen und von der Zeit? Hat er unser alltägliches Leben tatsächlich erleichtert? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Philip J. Davis ist emeritierter Professor für angewandte Mathematik an der Brown University.

Philip J. Davis ist emeritierter Professor für angewandte Mathematik an der Brown University. Reuben Hersh ist emeritierter Professor für Mathematik an der University of New Mexico.

Vorwort


Die überwiegend positive Aufnahme von »Erfahrung Mathematik« (dt. 1985), hat uns ermutigt, in der Beschreibung jener wundervollen und oft verblüffenden Tätigkeit, genannt »Mathematik machen«, fortzufahren. In »Erfahrung Mathematik« versuchten wir, einen umfassenden Eindruck von dieser Tätigkeit zu vermitteln. Dabei nahmen wir den Standpunkt des Berufsmathematikers[*] ein, der die Mathematik »von innen heraus« betrachtet. Wir haben dort unter anderem beschrieben: Die Bestandteile, aus denen die Mathematik konstruiert ist, wie sie erfunden und wie sie verwendet wird, wie man sich als arbeitender Mathematiker fühlt und welche menschlichen Werte der Mathematik zugeschrieben werden können. Kurz, wir versuchten die Frage zu beantworten: Was ist mathematische Erfahrung? – Bei der Beantwortung dieser Fragen wurden wir zu einer Philosophie der Mathematik geführt, von der wir meinten, sie sei mit dieser Erfahrung verknüpft. Die Formulierung dieser Philosophie spornte unsere schriftstellerischen Anstrengungen an.

Das Ziel des vorliegenden Buches ist ein anderes. Wir nähern uns der Mathematik von außen. Wir beschäftigen uns mit den enormen Auswirkungen dieser Disziplin auf unsere Umwelt, und zwar auf unsere natürliche Umwelt wie auch unsere soziale. In diesem Zusammenhang wird gelegentlich von angewandter Mathematik gesprochen. Diese Anwendungen der Mathematik sind heutzutage so weit verbreitet, daß wir von der Mathematisierungder Welt sprechen. Wir wollen ihre zivilisatorischen Bedingungen untersuchen und herausfinden, unter welchen Voraussetzungen diese Anwendungen wirksam und sinnvoll sind und wann nicht, wann sie nützlich sind, gefährlich oder unbedeutend. Wir verfolgen, wie sie unser Leben einschränken und unsere Realitätswahrnehmung verändern.

Ein mathematischer Satz in der Bildenden Kunst. I.H. Schoenberg stellt die harmonische Analyse eines irregulären Siebenecks (Satz von Jesse Douglas) als räumliche Konstruktion dar. Läßt sich fortgeschrittene Mathematik als ein Element in die Ikonographie einbringen?

Im Verlauf des letzten Jahrhunderts haben Mathematik, Technologie und Wirtschaft ihre Kräfte in beeindruckender Weise verbunden, um den Computer zu entwickeln. Der Computer seinerseits hat, diese seine »Abstammung« anerkennend, seine »Ahnen« mit zahlreichen Wohltaten beschenkt.

Die letzten Anwendungsstufen der Mathematik werden heute mit Hilfe dieser wunderbaren mathematisch-logischen Maschine zustande gebracht. Erstaunlich sind die weite Verwendbarkeit und die verbreitete Aufnahme dieser Technologie: Die Möglichkeiten des Computers werden als allumfassend betrachtet, und viele Bereiche unseres alltäglichen Lebens werden absichtlich computergerecht verändert.

In diesem Buch werden wir neben der Mathematik auch den Computer befragen: Was ist die »Erfahrung Computer«? Wie beeinflußt die Computerisierung der Welt die materiellen und intellektuellen Qualitäten unserer Zivilisation?

Was die Technologie anbelangt, so erkennt jeder, der die ersten fünfzig Jahre des Computerzeitalters betrachtet, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Computern und Technik. Ohne substantielle Hilfe des Computers kann man nicht zum Mond fliegen. Die Öffentlichkeit lernt, daß ein Herzschrittmacher einen Computer enthält, und sie beginnt langsam zu begreifen, daß das Schlagwort der »Computerisierung des Menschen« wörtlich und nicht bloß metaphorisch genommen werden muß. Umgekehrt ist klar, daß die Bits und Pieces, die Chips und Tapes eines Computers Produkte einer fortgeschrittenen Technologie sind und daß jeder technologische Fortschritt die Möglichkeit bietet, Entwurf und Funktion des Computers zu verbessern.

In der Wirtschaft, in der Sozialstatistik und in der Datenverarbeitung ganz allgemein erkennt die Öffentlichkeit das geschilderte Wechselspiel. Deutlich sieht sie die Revolution, die in der Buchführung stattgefunden hat. Die computergestützte Reservierung, obgleich nicht unverzichtbar für die Geschäfte einer Fluglinie oder eines Theaters, hat ein Maß an Bequemlichkeit und Flexibilität erzeugt, das wir in Zukunft nicht mehr missen möchten. Die Computerisierung der Bibliotheken, die jetzt im Vormarsch ist, faßt die Möglichkeiten aller Bibliotheken zusammen und macht jedes Buch auf Fingerdruck zugänglich für den, der eine entsprechende Anfrage in die Tastatur eines Terminals eintippen kann.

In der Mathematik, dem dritten Element der genannten Verbindung, tritt uns die Wechselwirkung mit dem Computer nicht genauso auffällig entgegen, obwohl es dieses Phänomen auch hier gibt. Ist nicht nach althergebrachter Ansicht der Computer nichts anderes als eine schnell rechnende Maschine? Während Wirtschaft und Technologie sich mit handfesten Angelegenheiten befassen, ist die Mathematik eine Sache der Imagination, eine Disziplin, in der mit abstrakten Symbolen hantiert wird. Abstraktionen sind nicht unmittelbar zu begreifen. Obwohl der Ursprung des Computers in den frühen Träumen der Mathematiker lag und seine Weiterentwicklung von Ideen abhing, die mathematische Talente hervorgebracht haben, wird infolge der genannten Abstraktheit die Rolle, welche die Mathematik gespielt hat, immer noch schlechter verstanden als die von Wirtschaft und Technologie.

Wollen wir die Beziehungen zwischen Mathematik und Computer darlegen, so stellen sich viele Fragen: Wie beeinflußte der Computer die Anwendbarkeit abstrakter mathematischer Formulierungen in der Praxis? Welche Rolle spielte er bei der Entdeckung von neuen mathematischen Sätzen? Welchen Einfluß hatte er auf unsere Theorien über mathematische Erkenntnis und mathematische Existenz, über mathematische Vorstellungsvermögen und mathematische Einsicht und über die Ausbildung in Mathematik? Wie hat er unsere Ansichten über das Mögliche und das Unmögliche und dessen Transzendierung verändert?

Umgekehrt ist zu fragen: In welcher Weise hat die Mathematik zur Erfindung neuer Computersysteme beigetragen? Gibt es Elemente von Universalität, die es erlauben, die Informatik als Wissenschaft und nicht als Handwerk zu bezeichnen? Sind diese Elemente mathematischer Natur? Wie sehen die Beziehungen zwischen der Denkweise der Mathematik, den Fähigkeiten des Computers und der menschlichen Intelligenz allgemein aus? In welcher Weise unterscheiden sich die Träume und Ziele der Mathematiker von denen der Informatiker?

Sollten wir diese Fragen beantworten können, so wären wir auf unserem Weg zu einer Philosophie der Berechnung ein gutes Stück vorangekommen. Diese ist ein Gebiet, das heute bestenfalls in Ansätzen existiert – sieht man einmal von Anleihen bei der Wissenschaftstheorie und der Philosophie der Mathematik ab. Es verdient jedoch Selbständigkeit.

Wie sollte eine Philosophie der Berechnung aussehen? Nun – so könnte eine erste Antwort lauten – so wie die klassische Philosophie mit dem Wahren, dem Guten und dem Schönen befaßt war, so müßte sich die Philosophie der Berechnung in analoger Weise mit der richtigen, der guten und der schönen Berechnung beschäftigen. Was macht eine Berechnung richtig? Warum sollte ich glauben, was mir ein Computer erzählt? Wann kann eine Berechnung nützlich genannt werden? Was macht sie gut oder schlecht, schön oder häßlich? Wie verändert der Computer unsere Vorstellungen von Realität, Wissen und Zeit?

Viele Gründe lassen sich angeben, warum man diese Fragen stellen sollte. Man betrachte erstens die ungeheure gegenwärtige Macht der Computerisierung: Wir versinken in den Wogen neuer Ideen, Ausrüstungen und Möglichkeiten, weit jenseits der Träume aller Science Fiction. Auf dem Gebiet der Computer ist, obwohl uns die Vernunft vor unbegrenztem Optimismus warnt, keine Schranke nach oben in Sicht; nur unser beschränkter Horizont bildet eine Grenze. Überall gibt es Arbeitsplätze, die Effizienz scheint gesichert, und der Geist ist überwältigend. Es spricht einiges dafür, daß der begabteste und beste Teil unserer Jugend traditionelle Beschäftigungsgebiete des Intellekts wie Mathematik und Physik zugunsten der Informatik aufgeben wird. Einige von diesen jungen Leuten finden die Mathematik zu streng und die Gegenstände der aktuellen Forschung unerträglich langweilig. Im Gegensatz hierzu erscheint die draufgängerische Mentalität des Informatikers als heißersehnte Befreiung. In Anbetracht berauschter Aktivität und des damit verbundenen Trancezustandes lohnt es sich, Bilanz zu ziehen und zu fragen: Worauf läuft das alles hinaus?

Die Wichtigkeit dieser Frage folgt auch aus sozialen Erwägungen. Einige Kritiker sind der Ansicht, der Computer und seine Peripheriegeräte seien integrierte Bestandteile jener Megamaschine zeitgenössischer Megatechnologie, die das Denken entwürdigt und den Intellekt erniedrigt. Simone Weil, eine tiefreligiöse Frau und Schwester eines berühmten Mathematikers, schrieb einige Jahre vor Aufkommen der Digitalrechner in ihr Tagebuch: »Geld, Mechanisierung, Algebra. Die drei Alpträume unserer Zivilisation.« Geld, Mechanisierung und Algebra haben wir als die Ahnen des Computers identifiziert. Je nach Standpunkt wird man die Meinung von Simone Weil teilen oder nicht: Ihr Glaube ist aber weit verbreitet, und man braucht nicht ambitioniert religiös zu sein, um ihre Auffassung zu teilen. Diejenigen unter uns, die Mathematik lieben und sie als eine der großen Schöpfungen der Menschheit verehren, werden kritisch einwenden: Warum soll gerade die Mathematik in Verbindung mit ihren beiden Partnern für die »Alpträume der Zivilisation« verantwortlich sein?

Als Gegenpol kritischer Radikalität tritt die Idee auf, ausschließlich der Computer biete die Möglichkeit sozialer...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2016
Übersetzer Klaus Volkert
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Analysieren • Computer • Computerisierung • Computersprache • Digitale Revolution • Geometrie • Mathematik • Mathematisierung • Messen • Metadenken • Numerik • Quantifizieren • Rationalisierung • Relativismus • Rhetorik • Zählen • Zivilisation
ISBN-10 3-10-560974-1 / 3105609741
ISBN-13 978-3-10-560974-3 / 9783105609743
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