Reinkarnation (eBook)
112 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560690-2 (ISBN)
Walter Abendroth (1896-1973), Komponist, Kulturkritiker und freier Schriftsteller, Studium der Musik in Berlin und München, nach 1945 Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg, später Kulturkorrespondent dieser Zeitung in München.
Walter Abendroth (1896–1973), Komponist, Kulturkritiker und freier Schriftsteller, Studium der Musik in Berlin und München, nach 1945 Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg, später Kulturkorrespondent dieser Zeitung in München.
Reinkarnation und Karma, vom Standpunkte der modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen
Als ein gefährlicher Ketzer galt der tonangebenden Weisheit des siebzehnten Jahrhunderts der italienische Naturforscher Francesco Redi, weil er behauptete, daß auch die niedersten Tiere durch Fortpflanzung entstehen. Nur mit knapper Not entging er dem Märtyrerschicksal Giordano Brunos oder Galileis. Denn der rechtgläubige Gelehrte der damaligen Zeit meinte, daß Würmer, Insekten, ja selbst Fische aus leblosem Schlamm entstehen können. Nichts anderes hat Redi behauptet, als was heute allgemein anerkannt ist, daß alles Lebendige von einem Lebendigen abstammt. Er hat die Sünde begangen, eine Wahrheit zu kennen, zwei Jahrhunderte bevor die Wissenschaft »unumstößliche Beweise« für sie fand. Seit Pasteur seine Untersuchungen angestellt hat, kann kein Zweifel mehr darüber walten, daß man es lediglich mit einer Täuschung zu tun hatte in solchen Fällen, in denen man früher geglaubt hat, aus leblosen Substanzen entständen durch »Urzeugung« lebendige Wesenheiten. Die in derlei leblose Substanzen eindringenden Lebenskeime entzogen sich der Beobachtung. Durch sichere Mittel hat Pasteur das Eindringen solcher Keime in Substanzen, in denen für gewöhnlich kleine Lebewesen entstehen, verhindert – und es bildete sich nicht eine Spur des Lebendigen. Das Lebendige entsteht also nur aus dem Lebenskeime. Redi hatte vollkommen recht.
In einer ähnlichen Lage wie der italienische Denker ist heute der Anthroposoph. Er muß auf Grund seines Wissens das von dem Seelischen sagen, was Redi von dem Lebendigen gesagt hat. Er muß behaupten: Seelisches kann nur aus Seelischem entstehen. Und wenn die Naturwissenschaft in derselben Richtung sich weiterbewegt, die sie seit dem siebzehnten Jahrhundert genommen hat, dann wird auch die Zeit kommen, in der sie selbst – aus sich heraus – diese Anschauung vertreten wird. Denn – das muß immer von neuem betont werden – der anthroposophischen Anschauung von heute liegt genau die gleiche Denkgesinnung zugrunde wie der naturwissenschaftlichen Behauptung, daß Insekten, Würmer und Fische nicht aus Schlamm, sondern aus Lebenskeimen entstehen. Und sie behauptet den Satz: »Jede Seele entsteht aus Seelischem« in demselben Sinne und in derselben Bedeutung wie der Naturforscher den seinigen: »Alles Lebendige entsteht aus Lebendigem[1][1].«
Die Sitten sind heute andere als im siebzehnten Jahrhundert. Die den Sitten zugrunde liegenden Gesinnungen haben sich nicht sonderlich geändert. Im siebzehnten Jahrhundert verfolgte man ketzerische Anschauungen allerdings mit Mitteln, die heute nicht mehr human erscheinen. Man wird die Anthroposophen heute nicht gerade mit dem Feuertode bedrohen: man begnügt sich damit, sie dadurch unschädlich zu machen, daß man sie für Schwärmer und unklare Köpfe erklärt. Die landläufige Wissenschaft stempelt sie zu Toren. An die Stelle der früheren Hinrichtung durch die Inquisition ist die neue Hinrichtungsart, die journalistische, getreten. Nun, die Anthroposophen stehen aufrecht: sie trösten sich mit dem Bewußtsein, daß die Zeit kommen werde, in der man von irgendeinem Virchow ungefähr hören wird: »Es gab eine Zeit – wir sind glücklich, daß die überwunden ist –, in der man glaubte, daß die Seele von selbst entstehe, wenn gewisse komplizierte chemische und physikalische Vorgänge innerhalb einer Hirnschale sich abspielen. Heute aber muß für jeden ernsten Forscher solch kindliche Vorstellung dem Satze weichen: Jedes Seelische entsteht aus Seelischem.« Und der Chorus »aufgeklärter« Journalisten verschiedener Parteirichtungen wird – falls dann nicht solcher Journalismus selbst unter die Kindereien gerechnet wird – er wird dann schreiben: »Der geniale Forscher X hat mannhaft die Fahne aufgeklärter Seelenwissenschaft entrollt und den Aberglauben einer mechanischen Naturanschauung zu Paaren getrieben, der noch auf der Naturforscherversammlung des Jahres 1903 durch den Breslauer Chemiker Ladenburg wahre Triumphe feiern durfte.«
Nun soll man sich aber ja nicht dem Wahn hingeben, die Geisteswissenschaft wolle aus der Naturwissenschaft heraus ihre Wahrheiten beweisen. Was betont werden muß, ist vielmehr, daß die Geisteswissenschaft die gleiche Gesinnung hat wie die wahre Naturwissenschaft. Der Anthroposoph vollbringt nur für die Gebiete des seelischen Lebens dasselbe, was der Naturforscher für das zu erreichen strebt, was er mit Augen sehen und mit Ohren hören kann. Zwischen echter Naturforschung und Geisteswissenschaft kann kein Widerspruch bestehen. Der Anthroposoph legt dar, daß die Gesetze, die er für das Seelenleben aufstellt, in entsprechender Weise auch für die äußeren Naturerscheinungen gelten. Er tut es deshalb, weil er weiß, daß das menschliche Erkenntnisgefühl sich nur dann befriedigt erklären kann, wenn es einsieht, daß Einklang und nicht Widerspruch ist zwischen den verschiedenen Erscheinungsgebieten des Daseins. Heute sind ja die meisten Menschen, die sich überhaupt um Erkenntnis und Wahrheit bemühen, mit gewissen naturwissenschaftlichen Einsichten bekannt. Solche Wahrheiten fliegen dem Menschen, sozusagen, auf der Straße zu. Die Unterhaltungsbeilagen der Zeitungen enthüllen dem Gebildeten und auch dem Ungebildeten die Gesetze, wie sich die vollkommenen Tiere aus den unvollkommenen entwickeln, welch tiefgehende Verwandtschaft zwischen dem Menschen und dem höchststehenden Affen bestehe, und flinke Wochenblattschreiber werden nicht müde, ihren Lesern einzuschärfen, wie sie über den »Geist« zu denken haben im Zeitalter des »großen Darwin«. Sie fügen höchst selten hinzu, daß sich in Darwins Hauptwerk auch der Satz findet: »Ich halte dafür, daß alle organischen Wesen, die je auf dieser Erde gelebt haben, von einer Urform abstammen, welcher das Leben vom Schöpfer eingehaucht wurde.« – In einem solchen Zeitalter ist es höchst notwendig, immer wieder und wieder zu zeigen, daß es sich die Anthroposophie mit dem »Einhauchen des Lebens« und auch der Seele nicht so leicht macht wie Darwin und manche Darwinianer, daß aber ihre Wahrheiten mit den Ergebnissen wahrer Naturforschung nicht in Widerspruch stehen. Nicht auf der Krücke der Naturwissenschaft der Gegenwart will die Anthroposophie zu den Geheimnissen des Geisteslebens vordringen, sondern nur sagen will sie: »Erkennet die Gesetze des geistigen Lebens, und ihr werdet diese hohen Gesetze auch in entsprechender Form bewahrheitet finden, wenn ihr auf das Gebiet heruntersteigt, wo ihr mit Augen sehen und mit Ohren hören könnt. Die Naturwissenschaft der Gegenwart widerspricht nicht der Geisteswissenschaft, sondern sie ist selbst elementare Geisteswissenschaft. Haeckel hat es im Gebiete des tierischen Lebens nur deshalb zu so schönen Ergebnissen gebracht, weil er die Gesetze, welche die Seelenforscher seit langem auf die Seele anwenden, nun auch auf die Entwickelung des tierischen Lebens anwandte. Wenn er selbst nicht diese Überzeugung hat, so tut das nichts; er kennt eben die Seelengesetze nicht und weiß auch nichts von den Forschungen, die man auf dem Felde der Seele anstellen kann. Die Bedeutung seiner Ergebnisse auf seinem Gebiete wird dadurch nicht geringer. Große Männer haben die Fehler ihrer Tugenden. Unsere Aufgabe ist, zu zeigen, daß Haeckel da, wo er zu Hause ist, nichts anderes ist als Anthroposoph.« – Und noch ein anderes Hilfsmittel bietet sich dem Geisteswissenschaftler durch die Anknüpfung an die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Gegenwart. Die Dinge der äußeren Natur sind gewissermaßen mit den Händen zu greifen. Deshalb ist es leicht, ihre Gesetze klarzulegen. Sich zu vergegenwärtigen, daß Pflanzen sich verändern, wenn sie aus einer Gegend in eine andere versetzt werden, macht keine Schwierigkeiten. Daß gewisse Tierarten die Sehkraft ihrer Augen verlieren, wenn sie eine Zeitlang in finsteren Höhlen leben, ruft unschwer anschauliche Vorstellungen hervor. Wenn man nun zeigt, welche Gesetze in solchen Vorgängen wirken, so kann man von da aus leicht zu den minder anschaulichen, weniger faßbaren Gesetzen hinüberleiten, die uns auf dem Gebiete des seelischen Lebens entgegentreten. – Veranschaulichen und nichts anderes will der Anthroposoph, wenn er die Naturwissenschaft zu Hilfe ruft. Er hat zu zeigen, daß sich auf ihrem Gebiete die anthroposophischen Wahrheiten in entsprechender Form wiederfinden, daß die Naturwissenschaft nichts anderes sein kann als elementare Geisteswissenschaft; und er hat sich der naturwissenschaftlichen Vorstellungen zu bedienen, um zu seinen höher gearteten hinüberzuleiten.
Nun könnte ja hier auch eingewendet werden, daß jegliche Hinneigung zu den gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Vorstellungen die Geisteswissenschaft schon deshalb in eine schiefe Lage bringen könne, weil diese Vorstellungen selbst auf einem ganz unsicheren Boden ruhen. Es ist richtig: da gibt es Naturforscher, die gewisse Grundlinien des Darwinismus für unumstößliche Wahrheiten halten, und andere, die bereits von einer »Krisis des Darwinismus« sprechen. Die einen finden in der »Allmacht der Naturzüchtung«, im »Kampf ums Dasein« umfassende Erklärungsgründe für die Entwickelung der Lebewesen; die andern verweisen diesen »Kampf ums Dasein« zu den Kinderkrankheiten der neueren Naturlehre und reden von der »Ohnmacht der Naturzüchtung«. – Wenn es auf diese besonderen strittigen Punkte ankäme, dann könnte man als Anthroposoph wahrlich nichts Besseres tun, als sich um sie vorläufig nicht bekümmern, und für den Einklang mit der Naturwissenschaft einen Zeitpunkt abwarten, der...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2016 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
Technik | |
Schlagworte | Albert Ladenburg • Anthroposophie • David Friedrich Strauß • Dornach • Ernst Haeckel • Geisteswissenschaft • Karma • Menschengeist • Reinkarnation • Robert Owen • Rudolf Steiner • Sachbuch • Verkörperung • Wiederverkörperung • Wissenschaftlichkeit |
ISBN-10 | 3-10-560690-4 / 3105606904 |
ISBN-13 | 978-3-10-560690-2 / 9783105606902 |
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