Das Ballettbuch (eBook)
224 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560907-1 (ISBN)
Otto Friedrich Regner (1913-1963) war Schriftsteller, Redakteur und Ballettkritiker.
Otto Friedrich Regner (1913–1963) war Schriftsteller, Redakteur und Ballettkritiker.
Lifar, ein Vierteljahrhundert französisches Ballett
Serge Lifar wurde im Jahre 1905 in Kiew geboren. 1920 hatte Bronislawa Nijinska in seiner Vaterstadt eine Ballettschule eröffnet, und als der junge Lifar eines schönen Tages als Zuschauer eine ihrer Unterrichtsstunden besuchte, machte es auf ihn, der nie vorher ein Ballett auf der Bühne gesehen hatte, einen ungemein starken Eindruck; er erkannte, daß der Tanz seine Aufgabe, seine Berufung sei. Ich glaube, daß man es nicht außer acht lassen darf, wenn man Lifars Werk beurteilt, sich daran zu erinnern, daß die »Werkstatt des Balletts«, die Atmosphäre einer Ballettschule und das unablässige Mühen um die formale Prägung, für den Künstler Lifar die Entscheidung herbeiführte, Tänzer zu werden. Im Januar 1923 kam der Jüngling Serge nach Paris. Zwei Jahre lang war er ein nicht besonders auffallender, aber sehr fleißig im täglichen Training arbeitender Tänzer im corps de ballet. Aber er war unzufrieden mit sich selbst und ließ sich von Diaghilew beurlauben, um in Turin den derzeit berühmtesten Ballettlehrer aufzusuchen, der – obwohl nun längst tot – auch heute noch die Schulung des europäischen Balletts geprägt hat: Maestro Enrico Cecchetti. Bei diesem Lehrer fand der begabte junge Russe die Genugtuung, daß der Meister das Talent und die Intelligenz des Suchenden gleichermaßen erkannte und ansprach. So wurde aus dem Schüler der Tänzer Lifar, der nach seiner Rückkehr zu Diaghilew mit einer Reihe bedeutender Rollen betraut werden konnte. Als die Diaghilew-Truppe 1926 eine Ballett-Saison an der Mailänder Scala übernommen hatte, trat Serge Lifar als Solist in »Schwanensee« und »Auroras Hochzeit« auf.
Nach Diaghilews Tod findet sich Lifar für kurze Zeit in London, wo er mit Boris Kochno zusammenarbeitet; sein choreographisches Interesse war geweckt, nachdem er mit Larionow den »Schwank« von Strawinsky – unter dem Namen »Renard« bekannt –, dies pantomische Echo auf das Quartett der Sänger, eingerichtet hatte. Eine Verhinderung seines Freundes und Landsmannes Balanchin, der von dem Direktor der Pariser Oper eingeladen worden war, Beethovens »Geschöpfe des Prometheus« neu zu choreographieren, wurde entscheidend für Serge Lifars Lebensweg. Balanchin trat seinen Auftrag an Lifar ab – und als am 30. Dezember 1929 die Premiere des Balletts »Die Geschöpfe des Prometheus« in der Pariser Oper stattfand, war der Name Serge Lifar zum ersten Male auf dem Programmzettel als der des verantwortlichen Choreographen zu finden. Nun zog Serge Lifar, 25 Jahre alt, als premier danseur und maître de ballet ein ins Théâtre National de l’Opéra. Von da an ist, mit einem Russen an der Spitze, in Paris das gleiche geschehen, was ein Jahrhundert vorher in Petersburg das zaristische Ballett, von einem Franzosen angeführt, erlebte: Das Ballett erneuerte sich und wurde wiederum zu einem integrierenden Bestandteil der nationalen Kunst.
Mit dem Feuereifer der Jugend, der Leidenschaft des Künstlers und der Unbeugsamkeit eines von seinem Auftrag Besessenen hat Lifar ein Repertoire aufgebaut, das neben die Werke aus dem großen Schatzkasten der Tradition solche stellte, die in Zusammenarbeit mit Zeitgenossen entstanden und avantgardistische, experimentierende, ja oft extrem modernistische Ambitionen hatten. Im Jahre 1931 beispielsweise hat er nicht nur »Giselle« (nach Petipa) und »Le Spectre de la Rose« (nach Fokin) einstudiert und damit die zwei Großen beschworen, auf deren Schultern nicht nur er selbst, sondern das ganze Ballett stand – im selben Jahr kamen zwei possenhafte und burleske Werke auf die Bühne, darin er sich ganz als Künstler des 20. Jahrhunderts zeigte, als ein junger Mann, der seiner Zeit Ausdruck zu verleihen versuchte: »Prélude Dominical« (Musik von Guy Roparz) und »L’Orchestre en Liberté« (Komposition von Sauveplane), in denen sich symphonische Musik und Jazz gegenseitig ihre Daseinsberechtigung nachweisen. Das folgende Jahr, 1932, brachte Lifar großen Erfolg mit dem Ballett »Sur le Borysthene«, die Komposition stammte von Prokofiew, das Bühnenbild von Larionow – die Zusammenarbeit dreier Russen.
Ohne Zweifel hatte es Lifar nicht leicht, mit den großen Anforderungen, die an ihn gestellt worden sind, Schritt zu halten, denn seine ersten Meisterjahre waren eigentlich noch seine Lehrjahre. So konnte es nicht ausbleiben, daß er auch einiges bittere Lehrgeld zahlen mußte. Mit einer wohl nicht ganz geringen Zahl mißlungener oder doch nicht völlig gelungener Werke hat er den Preis beglichen, der es ihm ermöglichte, einige so große Meisterwerke zu gestalten, daß er unter den Choreographen des 20. Jahrhunderts in der allerersten Reihe steht. Schon 1934 und 1935 brachte er zwei reifere Werke in das Repertoire der Großen Oper: »La Vie de Polichinelle« auf eine Komposition von Nabakow mit Decors von Pruna, und im Jahre 1935 verbündete er sich mit Darius Milhaud und André Derain in »Salade«.
Das Jahr 1935 brachte den Lifarschen »Ikarus« zum Flug. Lifar hat ihn als einen Protest geplant; er war der Meinung, daß die Choreographie die ganze Zeit her von der Musik versklavt gewesen sei, daß die rein vom Tänzerischen her entwickelten Bewegungen und Schritte sich der rhythmischen Gesetzmäßigkeit der Musik hatten unterordnen müssen, statt auf der Eigengesetzlichkeit der Choreographie beharren zu können. Ihm war es zunächst darum gegangen, seine Absichten mit denen des Komponisten in Einklang zu bringen, und er wollte das tänzerische Element mit einem musikalischen Äquivalent verbinden, nicht aber den Tanz von der Musik her bewegen. So hat er es zuerst mit Markévitch versucht, ist anschließend zu Honegger gegangen, wandte sich dann an Ibert – aber keiner dieser doch so profilierten Komponisten vermochte sich Lifar anzuschließen, so daß der Choreograph es für besser befand, Ikarus ganz ohne Musik fliegen zu lassen. Er soll dem Dirigenten der Oper schließlich die Anweisung gegeben haben, seine tänzerischen Rhythmen mit Musik zu »umgeben«. Icare war ein Experiment, und es hat bei den Parisern, die es doch so sehr lieben, über künstlerische Dinge zu diskutieren, heftige Meinungsverschiedenheiten ausgelöst. Lifar hat es vermocht, die Geister zu scheiden. Icare markiert zwar eine Entwicklung in der Laufbahn Lifars, ist aber keinesfalls zu einer Wendemarke in der Geschichte des Balletts geworden, wie es der dreißigjährige Sucher und von reformerischem Eifer Besessene wohl beabsichtigt und geglaubt haben mochte.
Er hat dem Theaterleben in Paris viele neue Impulse gegeben. In einer »Gala d’Inauguration du Théâtre de la Maison Internationale des Etudiants« am 15. Dezember 1936 wurde schon wieder ein neues Werk Lifars aufgeführt: »David Triomphant«. Für dieses zweiaktige Ballett (drei Szenen) ist Lifar nicht nur a) der Librettist, b) der Choreograph und c) der Darsteller der Titelrolle, das Titelblatt trägt seinen Namen ein viertes Mal: Musik von Debussy und Mussorgsky mit Rhythmen von Serge Lifar, eingerichtet von Vittorio Riéti. Szenerie und Kostüme stammten von Fernand Léger. In diesem David-Ballett nach dem Buch der Könige hat Lifar noch einmal alles daran gesetzt, seinen Tanz »von Musik umgeben« zu lassen – der Erfolg hat ihm nicht recht gegeben, und es scheint, daß die Theaterpraxis stärker war als eine Vorstellung vom Ballett, das sich von der Musik lösen, sich verselbständigen wollte. »Harnasie« mit polnischen Volkstänzen, »Le Roi Nu« auf Andersens Märchen von des Königs neuen Kleidern, »Promenades dans Rome« füllen das Jahr 1936 aus; 1937 folgt »Alexander der Große« – Ballette, die alle sehr stark von der Gestalt der Titelrolle abhängig waren und deren Bewegungen und tänzerische Entwicklungen auf dramatische oder epische Wirkungen zielten. Der Poet Lifar wird mit einem Werke bezeugt, das wohl als sein schönstes, reinstes, glücklichstes Ballett gelten darf, mit »Le Chevalier et la Demoiselle«, ein zauberisches Spiel, das die Keuschheit der Natur, die Einfalt der Legende und den Glanz des Rittertums zu bewegenden Symbolen des Lebens erhöht (Bühnenbilder und Kostüme von Cassandre). Ein Jahr später, 1942, kreierte Lifar »Joan von Zarissa« von Werner Egk, und er tat es so, daß er eine Synthese zwischen dem klassischen Ballett und dem sogenannten deutschen Ausdruckstanz suchte, um diese leidenschaftliche und von dämonischem Geist umblitzte Ballade zu einem großen Erfolg zu führen.
Der Krieg und die deutsche Besatzung nahmen ein Ende, und wie die Deutschen aus Frankreich, so wurde Lifar von der Opéra vertrieben. So hat er für einige Zeit in Monte Carlo eine Art Exil-Regierung über das französische Ballett aufrechterhalten. Eine Choreographie zu Johann Sebastian Bachs Dramma per Musica, zu dem ihm wiederum Cassandre die stilisierte, erhabene Bildwelt schuf, ist dort entstanden. 1947 kehrte Lifar an die Oper zurück mit einem Werk, das eine neue Epoche einleitete, »Les Mirages« – die Rückkehr zum ballet pure. Mit der Musik von Henri Sauguet und...
Erscheint lt. Verlag | 15.12.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
Technik | |
Schlagworte | Anna Pawlowa • Attitude • Ballett • Ballettmusik • Ballettomanie • Bühnenbild • Charrat • Choreographie • Fernsehballett • Komposition • Leonid Massin • London • Michael Fokin • Paris • Sachbuch • Serge Diaghilew • Serge Lifar • Tanz • Tanzkunst • Tanzschrift • Waslaw Nijinsky • Wien |
ISBN-10 | 3-10-560907-5 / 3105609075 |
ISBN-13 | 978-3-10-560907-1 / 9783105609071 |
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