Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Politik der praktischen Vernunft (eBook)

Aufsätze und Referate

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
230 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560653-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Politik der praktischen Vernunft -  Horst Ehmke
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
(CHF 14,65)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Vereint sind hier wissenschaftliche Aufsätze und politische Referate von Horst Ehmke. Daß Wissenschaft und Politik entgegen einem guten alten deutschen Vorurteil zusammengehören, ist eine von Ehmkes Thesen. Die verschiedenen Beiträge behandeln historische Fragen, institutionelle Probleme und politische Aufgaben. Alle beschäftigen sich mit fragwürdigen Aspekten deutscher Politik. Allen ist die Überzeugung gemeinsam, daß die Vernunft des Menschen sich zuallererst in der praktischen Gestaltung seiner eigenen Lebensverhältnisse zu bewähren hat, daß die moderne Industriegesellschaft und die moderne Demokratie Kunstwerke sind, die nur durch eine Politik der praktischen Vernunft erhalten und fortentwickelt werden können. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Horst Ehmke, SPD-Politiker, Staatsrechtler und Autor, wurde 1927 in Danzig geboren. Er studierte von 1946 bis 1951 Rechts- und Wirtschaftswissenschaft in Göttingen, Geschichte und politische Wissenschaft in Princeton. Ab 1961 Professor für öffentliches Recht an der Universität Freiburg i. Br. Anfang 1967 ging Ehmke, damals Dekan der Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, als Staatssekretär Gustav Heinemanns ins Bundesministerium der Justiz und wurde Ende 1969 Heinemanns Nachfolger. Von 1969 bis 1972 Kanzleramtschef unter Willy Brandt, von 1972 bis 1974 Minister für Forschung und Technologie und das Post- und Fernmeldewesen. Bis 1994 gehörte Ehmke dem Deutschen Bundestag an.

Horst Ehmke, SPD-Politiker, Staatsrechtler und Autor, wurde 1927 in Danzig geboren. Er studierte von 1946 bis 1951 Rechts- und Wirtschaftswissenschaft in Göttingen, Geschichte und politische Wissenschaft in Princeton. Ab 1961 Professor für öffentliches Recht an der Universität Freiburg i. Br. Anfang 1967 ging Ehmke, damals Dekan der Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, als Staatssekretär Gustav Heinemanns ins Bundesministerium der Justiz und wurde Ende 1969 Heinemanns Nachfolger. Von 1969 bis 1972 Kanzleramtschef unter Willy Brandt, von 1972 bis 1974 Minister für Forschung und Technologie und das Post- und Fernmeldewesen. Bis 1994 gehörte Ehmke dem Deutschen Bundestag an.

»Staat« und »Gesellschaft« als verfassungstheoretisches Problem


I


Otto Brunner hat vor zwanzig Jahren in seiner Arbeit über die territoriale Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter »Land« und »Herrschaft« als Grundkategorien der von ihm untersuchten Verfassungsstrukturen beschrieben. Von diesem Boden aus hat Brunner eine Art Generalangriff gegen die Methode und die Terminologie geführt, mit der die Rechtshistoriker – oder diese jedenfalls in erster Linie – die mittelalterliche Verfassungsgeschichte behandelt haben. Die Kritik geht dahin, daß »Staat« und »Gesellschaft« sowie »öffentliches« und »privates« Recht gewissermaßen als logische, allgemeingültige Kategorien vorausgesetzt würden. »Staat« und »Gesellschaft« seien aber nur Produkte eines etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Trennungsprozesses, in dem der Staat schließlich als »juristische Person« der Gesellschaft als »Trägerin der geistigen und materiellen Werte« gegenübergestellt worden sei. Zur Erfassung mittelalterlicher Ordnungsstrukturen seien diese Begriffe inadäquat. Der große wissenschaftliche Streit um den deutschen »Staat« des Mittelalters, der sich etwa durch die Namen Sohm, Below und Gierke umreißen läßt, sei daher unbeschadet seiner sachlichen Einzelergebnisse um Scheinprobleme geführt worden.

In bezug auf diese Kritik Brunners, auf die hier als solche nicht einzugehen ist, ist zweierlei interessant. Einmal, daß sie von der Rechtsgeschichte recht reserviert aufgenommen worden ist, und zweitens, daß sie – wenn ich recht sehe – auf die moderne Problemstellung der Staatslehre und des Staatsrechts bisher überhaupt keinen Einfluß ausgeübt hat. Die Frage ist, ob nicht beide Phänomene durch den Zustand bedingt sind, in dem sich unser öffentliches Recht befindet. Unser öffentliches Recht ist seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts – also seit seiner sogenannten »Blütezeit« – trotz aller, teilweise leidenschaftlichen Gegenwehr vom Positivismus bestimmt worden. Dieser hat es radikal von jeglicher historischer Fragestellung abgeschnitten – u.a. mit dem Ergebnis, daß die Rechtsgeschichte zu einer eindeutigen Domäne der Zivilrechtler geworden ist. Das öffentliche Recht hat ferner, und zwar unter dem Einfluß der Zivilrechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts, jene positivistische Begriffs-Apparatur erarbeitet, deren Anwendung auf die mittelalterliche Verfassungsgeschichte Brunner kritisiert. Dem Publizisten, der sich mit dem Positivismus auseinandersetzt, drängt sich daher von selbst der Gedanke auf, den Brunnerschen Angriff in die andere Richtung zu wenden, von dem geschichtlichen Verständnis her die dem Positivismus zugrunde liegende Trennung von »Staat« und »Gesellschaft« in Frage zu stellen. Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, diese Fragestellung zu umreißen.

Unser Versuch nimmt von der Erkenntnis seinen Ausgang, daß mit dem Denken in den Kategorien »Staat« und »Gesellschaft« die modernen Probleme der »Staats- und Verfassungstheorie« (wie es bei uns in nachabsolutistischer Formulierung heißt) gedanklich nicht bewältigt werden können. Ich werde das am Schluß dieses Beitrages anhand einiger moderner Probleme der Staats- und Verfassungstheorie und des Staats- und Verfassungsrechts im einzelnen darzulegen suchen. Schon hier soll aber die Grundschwierigkeit aufgezeigt werden, die die begriffliche Trennung von »Staat« und »Gesellschaft« mit sich bringt. Sie besteht darin, daß mit beiden Begriffen menschliche Verbände bezeichnet werden und daß es sich in der Gegenüberstellung von »Staat« und »Gesellschaft« praktisch gesehen um denselben Verband handelt. Welchen Sinn kann es haben, wenn wir etwa im Wirtschafts- oder im Verfassungsrecht davon sprechen, daß der »Staat« in »die Wirtschaft« – als das Kernstück der modernen »Gesellschaft« – »interveniere«? Intervenieren wir, die wir alle Staatsangehörige sind und alle irgendwie in der Wirtschaft stehen, dabei nicht in uns selbst? Diese Schwierigkeit ist definitionsmäßig leicht dadurch zu lösen, daß man einen »engeren Staatsbegriff« bildet, der nur den »staatlichen Apparat« innerhalb der als Verband gedachten Gesellschaft umfaßt. Damit schwebt aber die »Staats«-Angehörigkeit ebenso in der Luft wie etwa die »Staats«-Verfassung, die beide nicht auf einen Apparat, sondern auf einen Verband bezogen sind (und zwar auf einen politischen Verband, während die Gesellschaft gerade als unpolitisch, als »privat« gedacht wird). Den Dualismus von »Staat« und »Gesellschaft« im Hinblick auf die gegenüber dem 19. Jahrhundert veränderten sozialen Strukturen für historisch »erledigt« zu erklären, wird man sich angesichts des Umstandes, daß eine derartige Argumentation bei uns vor nicht allzu langer Zeit dem totalen Staat Vorschub geleistet hat, hüten müssen. Verwickelt uns die Gegenüberstellung von »Staat« und »Gesellschaft« einerseits in unlösbare Widersprüche, so ist es andererseits für die politische Freiheit offensichtlich eine lebensgefährliche Sache, den Dualismus von »Staat« und »Gesellschaft« einfach zur »liberalen Ideologie« zu erklären.

In diesem Dilemma mag es uns helfen, einen Blick über unsere Grenzen zu werfen. Otto Brunner hat sich für seine These, daß mittelalterliche Ordnungsstrukturen mit den Begriffen »Staat« und »Gesellschaft« nicht erfaßt werden können, u.a. darauf berufen, daß England, das sich kontinuierlich – ohne den Bruch des Absolutismus – aus den mittelalterlichen Ordnungen entwickelt hat, noch heute kein »Staat« im Sinne unserer positivistischen Terminologie sei. Das englische Gemeinwesen sei communitas, nicht juristische Person. Die Grundbegriffe des englischen und des amerikanischen Verfassungsdenkens sind nicht »Staat« und »Gesellschaft«, sondern »civil society« und »government«. Der Begriff »government« vereinigt dabei institutionelle und personale Momente, Grundbegriff seines Verhältnisses zur »civil society« ist der »trust«. Man mag diesem anderen Verfassungsdenken unter dem Motto »andere Länder, andere Theorien« jeden Vergleichswert für unsere Problematik absprechen. Zweierlei sollte uns aber davon abhalten: erstens der Umstand, daß das Denken in den Kategorien »civil society« und »government« den Widersprüchen entgeht, in die uns unser Denken in den Kategorien »Staat« und »Gesellschaft« führt; zweitens der Umstand, daß weder unser »Staat« noch unsere »Gesellschaft«, sondern die »civil society« in der großen, durch die Verbindung von Antike und Christentum begründeten gemeineuropäischen Tradition politischen Denkens steht. Diese sprach von der »respublica sive societas civilis sive populus«. Die societas war für sie politisches Gemeinwesen.

II


Auf den komplizierten und nur sehr stellenweise wirklich aufgeklärten Prozeß, in dem sich unser politisches Denken von der gemeineuropäischen Tradition getrennt oder vielleicht richtiger: ihr gegenüber eine Eigenstellung bezogen hat, kann hier nicht eingegangen werden. Selbst in Beschränkung auf die hier interessierende staatstheoretische Entwicklung kann ich – mit speziellem Hinblick auf die Voraussetzungen der Trennung von »Staat« und »Gesellschaft« – nur Stichworte geben. Sie sind als Fragestellungen – ich betone: als Fragestellungen –, nicht als Antworten gemeint.

Gegenüber England und Frankreich, die sich seit dem 12. Jahrhundert zu machtvollen zentralen politischen Einheiten entwickelten, die später die ganze »Nation« umschlossen, ist die besondere Form unserer politischen Entwicklung der Partikularismus der aus dem langsamen Zerfall des Reiches herauswachsenden absolutistischen Territorialstaaten gewesen. Die Frage ist, was dieser, die politischen Rechte der Stände beseitigende »Staat« eigentlich war. Wir sind heute so sehr gewohnt, zwar nicht den »juristischen«, aber doch den »soziologischen« Staatsbegriff im Sinne von »politisches Gemeinwesen« zu gebrauchen, daß die Gefahr besteht, auch den Territorial-»Staat« in eben diesem Sinne zu verstehen. Dagegen spricht aber schon – sowenig wir von ihr kennen – die Wortgeschichte von »Staat«, wie sie zuletzt etwa A.O. Meyer dargestellt hat.

Das lateinische status gewann zum erstenmal im italienischen lo stato seine moderne Bedeutung. Der Begriff, der, wie Rudolf Smend dargelegt hat, ursprünglich nicht einen bloßen Macht-, sondern einen Rechtsbestand und -zustand bezeichnete, kam mit der Staatsräson-Literatur nach Deutschland, setzte sich in seinem »machiavellistischen« Sinne damals aber nicht durch. Gleichzeitig entwickelte sich jedoch – wie im übrigen Europa, aber mit einiger Verspätung – auch bei uns der Begriff des »Staates« im Sinne von Lage, Rang, Würde, Stand, Bestand. Im letztgenannten Sinne gewann der Begriff vor allem für die Finanzverwaltung des Fürsten, den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit den Ständen, Bedeutung. Der »ökonomische Staat« des Landgrafen Wilhelms IV. von Niederhessen, eine Art statistischer Bestandsaufnahme, wäre hier zu nennen, oder die Instruktion des Großen Kurfürsten von 1651, einen »praecisen Staht aller unsrer Lande« aufzustellen. Der Große Kurfürst sprach aber auch von Pommern als der Vormauer »unseres Estats in Preußen«, im gleichen Sinne von »unserem status« und »unserem Staat«. Als Graf Waldeck 1655 vorschlug, Pommern gegen Polen zu tauschen, schrieb er, die Krone Polen solle...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Bundesrat • Bundesregierung • Bundestag • Bundesverfassungsgericht • CDU • DDR • Deutschland • godesberg • Grundgesetz • Nationalsozialismus • Presse • presseunternehmen • Pressewesen • SPD • Staatslehre • Vernunft • Vernunftrecht
ISBN-10 3-10-560653-X / 310560653X
ISBN-13 978-3-10-560653-7 / 9783105606537
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 694 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Praktische Ansätze zur Gestaltung eigener KI-Lösungen

von Jakob J. Degen

eBook Download (2024)
tredition (Verlag)
CHF 24,40