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Die Ur-Szene (eBook)

Das prägende Kindheitserlebnis und seine Folgen
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
428 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560573-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Ur-Szene -  Ernest Borneman
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?Die Ur-Szene? befaßt sich mit einer Frage, die weder in der Psychoanalyse noch in der Soziologie bis zum ersten Erscheinen des Buches 1977 je gestellt worden war: »Gibt es außer den akzeptierten Lehrmeinungen, daß positive Kindheitserfahrungen zur erfolgreichen Integration in die Gesellschaftsordnung und negative zum Scheitern dieser Integration und damit zur Neurose führen, auch eine dritte Möglichkeit? Nämlich die, daß verweigerte Integration zu einer anderen und möglicherweise verläßlicheren Ich-Stabilität führen kann?« Es geht also um die psychischen Ursachen der Gesellschaftsveränderung. Zu diesem Zweck analysiert der Autor Ernest Borneman die Kindheitserfahrungen derjenigen Individuen, die sich trotz lebenslangen Widerstands gegen die Mächtigen, trotz Armut, Exil und Gefängnis, ein gewisses Maß an psychischer Stabilität erhalten haben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Ernest Borneman, 1915 in Berlin geboren, 1995 in Oberösterreich gestorben, hat ein ereignisreiches, aufregendes Leben geführt. Er war Anthropologe, Psychoanalytiker, Filmemacher, Krimiautor (veröffentlichte u. a. unter dem Namen Cameron McCabe), Jazzkritiker und Sexualforscher. Er hat in England und Amerika Archäologie, Frühgeschichte, Sozial- und Kulturanthropologie und Ethnoanalyse studiert. Er kannte noch Wilhelm Reich, mit dem er in Berlin zusammengearbeitet hat. Nach dem Krieg lehrte Borneman an Universitäten in Deutschland und Österreich Sexualwissenschaft. Mehr als 30 Jahre lang erforschte er die Kindersexualität. Seine Bücher haben ihn bekannt gemacht, vor allem ?Das Patriarchat?, sein Opus magnum, erstmals 1975 bei S. Fischer erschienen. 1990 erhielt Borneman von der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung die Magnus-Hirschfeld-Medaille für Sexualwissenschaft.

Ernest Borneman, 1915 in Berlin geboren, 1995 in Oberösterreich gestorben, hat ein ereignisreiches, aufregendes Leben geführt. Er war Anthropologe, Psychoanalytiker, Filmemacher, Krimiautor (veröffentlichte u. a. unter dem Namen Cameron McCabe), Jazzkritiker und Sexualforscher. Er hat in England und Amerika Archäologie, Frühgeschichte, Sozial- und Kulturanthropologie und Ethnoanalyse studiert. Er kannte noch Wilhelm Reich, mit dem er in Berlin zusammengearbeitet hat. Nach dem Krieg lehrte Borneman an Universitäten in Deutschland und Österreich Sexualwissenschaft. Mehr als 30 Jahre lang erforschte er die Kindersexualität. Seine Bücher haben ihn bekannt gemacht, vor allem ›Das Patriarchat‹, sein Opus magnum, erstmals 1975 bei S. Fischer erschienen. 1990 erhielt Borneman von der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung die Magnus-Hirschfeld-Medaille für Sexualwissenschaft.

1 Die Mutter


Meine früheste Kindheitserinnerung knüpft sich an einen Ort namens Pulvermühle, einen Ausflugsort, vielleicht eine Gastwirtschaft, in Pommern. Ich war zu Besuch bei meiner Tante Käthe in Altdamm, einer Kleinstadt am Stettiner Haff. Es war Sonntag, wir waren in einer gemieteten Pferdekutsche ins Grüne gefahren. Ich hatte gerade laufen gelernt und stolperte den Hühnern, Tauben und Gänsen nach, gefolgt vom Gelächter der Erwachsenen, die unter Obstbäumen auf grünlackierten Stühlen an einem grünlackierten Tisch saßen und bei Kaffee und Kuchen so tief ins Tratschen gerieten, daß sie mich nach einer Weile vergaßen. Der Krieg war zwei Jahre alt, es muß Juli oder August 1916 gewesen sein, aber hier auf dem Lande gab es noch Zucker und Eier. Der Kaffee jedoch, sagt meine Tante, war Gerste, »Blümchenkaffee«.

Ich hatte einen Teich entdeckt, auf dem Enten schwammen, und ging ihnen nach. Das Wasser war warm und angenehm, ich wäre glücklich ertrunken, wenn ein anderes Kind nicht schreiend zu den Erwachsenen gelaufen wäre, um mich zu verpetzen. So wurde ich herausgefischt und von einem bärtigen Mann, der nach Zwiebeln und Tabak roch, »wiederbelebt«. Meine Tante berichtet, ich hätte kein Wort gesagt, hätte nicht geweint und hätte ausgesehen, als ob man mich aus einem schönen Traum geweckt hätte.

Géza Róheim, mein Lehranalytiker, deutete den Vorfall im Sinne Férenczis (Versuch einer Genitaltheorie, 1924; nachgedruckt in Schriften zur Psychoanalyse, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1972, Bd. II, S. 317400) als »thalassale Regression«, als Versuch der Rückkehr zur Mutter, zum Fruchtwasser, zum pränatalen Frieden, zum Wasserleben unserer phylogenetischen Vorfahren. Ich bin willens, das zu akzeptieren, aber es setzt eine noch frühere Urszene voraus, die ich weder aus dem Gedächtnis noch aus den Erinnerungen meiner Eltern und Verwandten rekonstruieren kann.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Teich von Pulvermühle – das Jahr war 1941, und der zweite der großen Kriege war nun bereits im zweiten Jahr – hatte ich eine Freundin, deren Mann mit einer anderen durchgebrannt war. Ich lernte sie kurz nach der Geburt des Kindes kennen, das er ihr hinterlassen hatte, und erinnere mich, daß ich sie eines Sonntagmorgens im Bett fand, das Kind im Arm, beim Stillen. Ich wollte zu ihr, aber sie sagte, sie müsse das Kind erst ins Nebenzimmer bringen, und während sie im Bett saß und die Bettdecke hochhob, um aufzustehen, entglitt ihr das Kind und lag plötzlich auf dem Bauch zwischen ihren Beinen.

Beide, Mutter und Kind, waren nackt, es war Hochsommer, mitte August und warm wie im Brutofen. Einen Augenblick lang sahen beide, Kind und Mutter, verdutzt aus, und dann begann das Kind – eine Szene, die ich nie vergessen werde – mit schier unglaublicher Energie und Willenskraft den Versuch, in die Mutter hineinzukriechen. Die kleinen Händchen, das kleine Köpfchen, der ganze kleine Körper schien mit der unaufhaltsamen Zielstrebigkeit einer Naturkraft darauf erpicht, dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen war.

Die Mutter war bestürzt und verlegen, hob das Kind empor und verschwand mit ihm im Nebenzimmer. Ich blieb stehen, erstarrt wie das Weib des Lot, denn ich hatte etwas gesehen, das Lot nicht sehen sollte. Ich war in Kanada, meine Eltern waren in Deutschland geblieben, der Krieg hatte uns getrennt, ich konnte meine Mutter nicht fragen, ob ihr, ob mir je Ähnliches geschehen war. Sie starb, ehe ich sie fragen konnte, und als ich meinen Vater fragte, ob er sich je an eine solche Szene erinnern könne, sagte er, erstens sei er zu jener Zeit Soldat gewesen und zweitens sei meine Mutter, Donnerwetter nochmal, eine anständige Frau gewesen und hätte niemals nackt mit mir im Bett gelegen. Ich fragte ihn, woher er das wissen wolle, da er doch im Krieg gewesen sei, und er antwortete, sowas wisse man eben, basta.

 

Als ich Róheim kurz vor seinem Tode zum letztenmale sah und ihm die Geschichte erzählte, lachte er und versuchte dann Freuds Thanatostheorie zur Erklärung heranzuholen: Rückkehr zum Mutterleib als Wunsch der Rückkehr zur vorgeburtlichen Existenz, also zum Tode. Aber da mich die These eines Todestriebes nie überzeugt hat, war das weder als Steinchen im Mosaik der Vergangenheitsrekonstruktion noch als Mittel zur Selbsterkenntnis von Nutzen. Trotzdem glaube ich, daß hier der Schlüssel zu den ichbildenden Elementen meines späteren Lebens, zu den ichspezifischen Gedanken des Erwachsenen und zu den charakterbedingten Entscheidungen des reifen Lebens liegt. Eine so panische Wucht des déja vu kann eigentlich nur von dem verlorenen und wiedergefundenen Schlüsselerlebnis ausgeübt werden. Manche werden mit solchen Erfahrungen fertig, die meisten in der bürgerlichen Gesellschaft nicht. Lots Feinde wurden mit Blindheit geschlagen, als sie die Wahrheit sahen, aber Lot überlebte und zog nach Zoar.

 

Vergleiche ich die Kindheits- und Jugenderinnerungen meiner Freunde und Altersgenossen mit meinen eigenen, so fallen mir als erstes ihre Beschwerden über das Unverständnis, den Eigensinn und die Selbstsucht ihrer Eltern auf. Nichts Derartiges bedrückt mich in meinem Verhältnis zu meinen Eltern. Ich werde von ihnen zwar als »schwieriges« Kind beschrieben, und ich muß ihnen durch mein eigenes Unverständnis, meinen Eigensinn und meine Selbstsucht das Leben tatsächlich schwergemacht haben, aber trotz zahlreicher Kräche, die bei mir ebenso nachhaltige Spuren hinterlassen haben wie bei ihnen, vermag ich ihnen kein Körnchen eines Vorwurfs anzulasten. Wenige Kinder können auf soviel Geduld, soviel Einfühlungsvermögen und soviel Liebe gestoßen sein wie ich bei beiden Elternteilen.

Und doch ist mein Verhältnis zur Mutter ein grundsätzlich anderes als zum Vater. Es könnte, denke ich heute, etwas mit sehr früher, niemals bewußt gewordener, intensiv verdrängter und prompt überkompensierter Homosexualität zu tun haben. Das würde nicht nur meine lebenslange Scheu vor intimen Gesprächen mit Männern, sondern auch eine gewisse Distanz erklären, die ich bis zum heutigen Tage meinem Vater gegenüber empfinde. Wenn ich als Kind sexuelle Probleme hatte, ging ich mit meinen Fragen stets zur Mutter, nie zum Vater. Das hat sich mein ganzes Leben lang in all meinen Beziehungen zu Frauen und Männern niedergeschlagen. Die Freunde meiner Jugend, die mir geblieben sind, haben mir mit ungewöhnlicher Treue und Loyalität in allen Krisen und allen Nöten beigestanden. Umgekehrt kann auch ich mir nicht vorstellen, jemals zu zögern oder gar nein zu sagen, wenn einer meiner Freunde eine Bitte an mich richten oder Hilfe von mir erwarten würde. Wie ich meinen Vater, der früh im Leben seinen Unterhalt verloren hat, mein ganzes erwachsenes Leben hindurch ernährt habe, einerlei wie schlecht es mir selbst von Zeit zu Zeit ging, so scheint es mir selbstverständlich und unabweisbar, daß man auch den Freunden bedingungslos zur Verfügung steht, wenn man um Hilfe gebeten wird. Aber ich habe nie im Leben ein wirklich intimes Gespräch mit einem männlichen Wesen führen können. Alles, was gänzlich privater Natur ist, was Sexualität, Affekt, innerstes psychisches Erleben anlangt, habe ich nur mit Frauen besprechen und teilen können. Das hat meine Lehranalyse bei Géza Róheim äußerst schwierig gemacht. Hätte ich noch einmal das Bedürfnis einer Analyse, so weiß ich heute, daß ich sie nur bei einer Frau machen könnte.

 

Das prägende Erlebnis meiner Kindheit war die Liebe, das Einfühlungsvermögen, die Geduld, die Verläßlichkeit, die Diskretion und Krisenfestigkeit meiner Mutter. Sie hat nie viel gesprochen, und das hat mir einen gewissen Zweifel an der Macht des Wortes gegeben. Jedes Wort, das sie gesagt hat, traf den Kern der Sache, und das hat mich zur Präzision erzogen. Wenn ich mich in Not befand, krank war, Sorgen hatte, war sie stets da. Einerlei wie spät der Abend, wie früh der Morgen, wie dunkel die Nacht – sie war sofort wach und an meinem Bett, wenn ich Kummer hatte. Sie fragte nicht, was los war, denn ich hätte in vielen Fällen sowieso nicht zu antworten vermocht. Sie war einfach da, und man wußte, daß sie verstand. Nur in ihrer Nähe zu sein, gab Kraft, Zuversicht, Ruhe. Je ernster die Situation, je schwerer die Krise, desto ruhiger wurde sie und desto heilsamer wurde die Kraft ihrer Ruhe.

Was ich in anderen Frauen gesucht und gefunden habe, war jenseits der Befriedigung sexueller Wünsche deshalb auch stets die Verkörperung dieser Tugenden, die mir bis zum heutigen Tage spezifisch weiblicher Natur zu sein scheinen. Im Gegensatz zur patriarchalischen Legende, daß gerade Verläßlichkeit, Diskretion und Krisenfestigkeit männliche Qualitäten seien, habe ich sie bei Männern nur dort entdecken können, wo sie von der Mutter übernommen worden waren. Besaß der Vater sie, so versuchte er meist, sie dem Sohne als Pflicht einzuprägen – mit dem Resultat, daß der Sohn sie ablehnte, um sich durch Distanzierung vom Vater seine Selbständigkeit und seinen Selbstrespekt zu erwerben. Besaß die Mutter solche Tugenden, so versuchte sie dagegen kaum je, sie dem Kinde zu oktroyieren, sondern wirkte allein durch ihr schweigendes Vorbild und vermied dadurch den üblichen Widerstandsmechanismus. So wirkte meine Mutter jedenfalls auf mich: Was bei jedem Versuch meines Vaters, mich in dieser oder jener Richtung zu »erziehen«, sofort zu psychischen Gegenreaktionen und damit zu einer völlig anderen Charakterentwicklung geführt hätte, übte durch das schweigende Beispiel meiner Mutter jenen didaktischen Einfluß aus, den ich noch heute...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Alice Gerstel • Altdamm • Erfahrung • Fritz Karsen • Géza Róheim • Homosexualität • Ich-Stabilität • Integration • Käthe Duncker • Kindheit • Kindheitserinnerung • Kindheitserlebnis • KPD • Sachbuch • Sexualität • Sigmund Freud • SPD • Wilhelm Reich
ISBN-10 3-10-560573-8 / 3105605738
ISBN-13 978-3-10-560573-8 / 9783105605738
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