Soziobiologie (eBook)
129 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560134-1 (ISBN)
Thomas P. Weber: Biologe und Zoologe
Thomas P. Weber: Biologe und Zoologe
Grundriss
Geschichte, Konzepte und Methoden der Soziobiologie
Wer als Ökologe oder Verhaltensforscher keine Abenteuer in entlegenen Winkeln der Erde sucht, kann üblicherweise damit rechnen, ein recht sicheres Leben führen zu können. In den siebziger Jahren galt dies jedoch nicht für einige Vertreter einer jungen und ehrgeizigen Disziplin, der Soziobiologie. Neben heftigsten Attacken in der Presse kamen auch vereinzelte physische Angriffe vor. In diesem Jahrzehnt erlebten amerikanische Universitäten die letzten Höhepunkte eines radikalen politischen Aktivismus, der mit dem Widerstand gegen den Vietnam-Krieg begann. Seither hat sich die Lage um die Soziobiologie weitgehend entspannt, aber diese Disziplin und verwandte Denkschulen sind ab und zu immer noch für Kontroversen gut. Wie konnte eine wissenschaftliche Disziplin in einen derartigen Strudel von Kontroversen geraten?
Der Begriff »Soziobiologie« wurde erstmals Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts von den beiden Biologen John P. Scott und Charles F. Hockett unabhängig voneinander benutzt. Hockett beschrieb die Soziobiologie schon damals recht ehrgeizig als eine Disziplin, die Biologie, Psychologie und Soziologie miteinander vereinen sollte. Von 1950 bis in die siebziger Jahre tauchte der Begriff ab und zu in Fachzeitschriften und im Titel von Fachkongressen auf, hinterließ aber zunächst keinen großen Eindruck innerhalb und außerhalb der Wissenschaftswelt. Dies sollte sich 1975 jedoch grundlegend und dauerhaft ändern: Im Frühsommer dieses Jahres veröffentlichte nämlich der an der renommierten Harvard University tätige Ameisenspezialist Edward O. Wilson (geb. 1929) ein nahezu drei Kilogramm schweres Werk mit dem Titel Sociobiology: The New Synthesis.Wilson bot darin einen groß angelegten Überblick über die Evolution des Sozialverhaltens im Tierreich. Besondere Aufmerksamkeit – und scharfe Kritik – richtete sich vor allem auf das kurze, aber kühne letzte Kapitel des Werkes. Dort nahm sich Wilson des menschlichen Sozialverhaltens an und deutete es vollständig aus einer biologischen Perspektive. Wilson spekulierte vor allem über Erscheinungen wie Inzuchtvermeidung, sexuelle Promiskuität, Geschlechterrollen, Kindestötung und Xenophobie. Er brach damit einen liberalen Nachkriegs-Konsensus, der in Reaktion auf die eugenischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts und die Exzesse des Nazismus menschliches Verhalten und Fähigkeiten vor allem als Folge sozialer Prozesse und Prägungen betrachtete. Jegliche Form des genetischen Determinismus und Biologismus galt als verpönt und politisch reaktionär.
In der Psychologie war ein Bruch mit diesem Konsensus allerdings schon einige Jahre vorher geschehen: 1969 hatte der Psychologe Arthur R. Jensen im angesehenen »Harvard Educational Review« einen umfangreichen Aufsatz mit dem Titel »How much can we boost IQ and scholastic achievement?« veröffentlicht. Jensen glaubte in dem Aufsatz nachzuweisen, Intelligenzunterschiede zwischen ethnischen Bevölkerungsgruppen seien zu einem großen Ausmaß auf genetische Unterschiede zurückzuführen. Alle Versuche, beispielsweise die schlechten schulischen Leistungen von sozial benachteiligten Schwarzen in den Vereinigten Staaten durch Förderprogramme zu verbessern, seien daher zum Scheitern verurteilt. Jensens Arbeit, obwohl sie auch auf nachweislich gefälschten Daten des britischen Psychologen Sir Cyril Burt beruhte, legitimierte in der Folge eine Renaissance genetischer Studien zu komplexen menschlichen Verhaltensformen. Wilsons Spekulationen über menschliche Verhaltenselemente als evolutiv geformte Merkmale wurden sofort mit Jensens wissenschaftlich und politisch umstrittener Arbeit in Verbindung gebracht. Denn eine notwendige Voraussetzung biologischer Evolution, und somit auch der Evolution von Sozialverhalten, ist die Erblichkeit von Merkmalen. Wilsons provokanter Vorstoß erlangte eine besondere Bedeutung aber nicht nur durch seine Verbindung mit einer oft als eugenisch verurteilten Verhaltensgenetik, sondern auch vor dem Hintergrund einer Entwicklung, in deren Verlauf die Evolutions- und Verhaltensbiologie einen enormen konzeptuellen Wandel erfuhr. Dieser Wandel wurde verursacht vom offenbar unaufhaltsamen Aufstieg des »egoistischen Gens« in der Biologie. Verhaltensgenetik und Soziobiologie gingen in den Augen von Kritikern eine unheilige Allianz ein: Nicht nur waren angeblich zahlreiche sozial bedeutsame Verhaltensweisen genetisch determiniert, die verantwortlichen Gene waren auch noch durch und durch »egoistisch«! Dieses neue Bild von der »Natur« des Menschen drohte in den Augen von Humanwissenschaftlern viele politische und soziale Theorien zu untergraben. Und in ihrem Eifer machten Edward O. Wilson und viele seiner Anhänger bei der Deutung menschlichen Verhaltens nicht immer eine klare Unterscheidung zwischen Erklärung und Rechtfertigung. Sozial zweifelhafte und unerwünschte Verhaltensweisen erschienen in soziobiologischen Theorien häufig als »natürlich«, »angeboren« und implizit als nicht abänderbar. Abseits von den öffentlichen Schlachtfeldern, auf denen der Kampf um die Deutungshoheit im Hinblick auf den Menschen ausgetragen wurde, entwickelte sich die neue Verhaltensbiologie jedoch lebhaft weiter und zahlreiche empirische und theoretische Forschungsprogramme wurden auf den Weg gebracht.
Die Theorie des egoistischen Gens ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Soziobiologie und ihrer Entwicklung. Richard Dawkins’ (geb. 1941) Bestseller The Selfish Gene erschien zwar erst 1976, also ein Jahr nach Wilsons Werk, aber die Ursprünge des von Dawkins außerordentlich wirksam popularisierten gen-egoistischen Denkens lagen schon einige Jahre zurück. Die außerhalb der Biologenzunft nur wenigen bekannten, jedoch außerordentlich einflussreichen Evolutionsbiologen John Maynard Smith (geb. 1920) und George C. Williams (geb. 1926) hatten in den sechziger Jahren erkannt, dass Gene eine besondere Rolle in der Evolution spielen sollten. Die Kernaussage lässt sich so resümieren: In Individuen zusammengefasste Gene sind die wichtigsten Einheiten und Nutznießer der Evolution. Nur sie – und nicht instabile Gruppen von Organismen – können aufgrund ihrer Fähigkeit zur Selbstvermehrung dauerhafte Abstammungslinien bilden und Nutznießer von sich im Verlauf vieler Generationen unter ihrer Kontrolle langsam und schrittweise ausbildenden Anpassungen sein. Individuelle Organismen sind dagegen nur ein zeitweiliger Ausdruck einer Koalition von Genen, die einen Organismus als »Vehikel« zur Durchsetzung ihrer Interessen gegen die Umwelt und andere in Individuen zusammengefasste Genkoalitionen gestalten. Anpassungen bestanden nur vordergründig zum Wohl des Organismus, tatsächlich setzen sie die »Fortpflanzungsinteressen« der Gene durch
In der Biologie war es bis zu dieser Zeit gang und gäbe gewesen, von Merkmalen zu sprechen, als seien sie zum Wohl der Art gestaltet. Vögel legten angeblich pro Gelege nie so viele Eier wie sie eigentlich konnten, um dadurch die Nahrungsgrundlage der Population zu schonen. Ritualisierte Kämpfe, bei denen keiner der Widersacher ernste Verletzungen erlitt, galten ebenso als Hinweis, dass das Wohl der Art im Mittelpunkt der Evolution von Verhalten stand. John Maynard Smith zeigte, dass solche Argumente inkonsistent sind: So ist beispielsweise eine Vogelpopulation, deren Mitglieder sich zum Wohl der Gruppe bei der Fortpflanzung zurückhalten, nicht immun gegen die Ausbreitung von egoistischen Abtrünnigen, die sich nicht an diese Selbstbeschränkung halten und nur den eigenen Fortpflanzungsinteressen folgen. Ein egoistisches Gen, das dieses abtrünnige Verhalten bestimmt, kann sich problemlos ausbreiten und die Altruisten verdrängen. Anpassungen, die zum Wohle der Gruppe bestehen, sollten sehr selten sein, denn anders als Gene können sich Gruppen nicht zuverlässig von einer Generation zur nächsten kopieren. Aber selbst Organismen waren nicht immer die richtige Ebene der Betrachtung. Unter vielen Umständen ist das Schicksal des Gesamtorganismus mit dem Schicksal aller Gene identisch: Stirbt der Organismus, bevor er sich fortpflanzen kann, dann sind alle Gene in einer evolutiven Sackgasse gelandet. Es kann aber durchaus zu Konflikten auf der genetischen Ebene kommen. So gelingt es beispielsweise den so genannten »meiotic drive«-Genen, sich bei der Bildung der Keimzellen einen unfairen Vorteil zu verschaffen und in mehr Fortpflanzungszellen vorzukommen, als ihnen aufgrund der Gesetze der Wahrscheinlichkeit zusteht: Jedes in Körperzellen in zweifacher Ausfertigung vorliegende Gen sollte eine fünfzigprozentige Chance haben, in einer Keimzelle zu landen; manchen Genen gelingt es jedoch, die Keimzellenbildung derart zu manipulieren, dass sie in allen Keimzellen vorkommen. Andere Gene im Genom haben die Aufgabe, diese unkooperativen Erbanlagen in Schach zu halten.
Die gen-egoistische Sichtweise machte einen Blick in die belebte Natur für eine neue Generation von Wissenschaftlern wieder interessant und zu einer Herausforderung: Was vorher als selbstverständlich betrachtet worden war, wurde zu einem Problem. Warum etwa waren viele Kämpfe im Tierreich ritualisiert? Aus einer genegoistischen Perspektive stellte eine solche Rücksichtnahme ein Problem dar. Im Allgemeinen wurde jede Form der Kooperation und im Tierreich zu einer wissenschaftlichen Herausforderung. Darüber hinaus wurden als vorbildlich betrachtete kooperative Beziehungen, wie die zwischen Eltern und ihrem Nachwuchs, vom einflussreichen...
Erscheint lt. Verlag | 15.4.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
Technik | |
Schlagworte | Anpassung • Auslese • Charles Darwin • Edward O. Wilson • Evolutionsbiologie • Fischer Kompakt • Fitness • Fortpflanzung • Fortpflanzungsstrategie • Gefangenendilemma • Humansoziobiologie • Individuum • Insektengesellschaft • John Maynard Smith • LEK • Paarungssystem • Robert Trivers • Ronald A. Fisher • Sachbuch • Sexualität • Soziobiologie • Spermium • Spermiumkonkurrenz • Weibchen • William D. Hamilton |
ISBN-10 | 3-10-560134-1 / 3105601341 |
ISBN-13 | 978-3-10-560134-1 / 9783105601341 |
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