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Die griechisch-römische Religion - Paul Veyne

Die griechisch-römische Religion

Kult, Frömmigkeit und Moral

(Autor)

Buch | Hardcover
198 Seiten
2008
Reclam, Philipp (Verlag)
978-3-15-010621-1 (ISBN)
CHF 32,10 inkl. MwSt
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Was hat es mit den antiken Göttern auf sich? Man betete zu ihnen, brachte ihnen Opfer dar, verehrte sie, hoffte auf ihren Beistand und sagte ihnen gleichwohl alles Mögliche Schlechte nach: Betrug, Ehebruch, Eifersucht, Willkür. Verband man Hoffnungen mit ihnen? Liebte man sie? Der große französische Althistoriker Paul Veyne beschreibt die heidnische Religion der Antike ganz anders als in üblichen Handbuchdarstellungen, frisch und faszinierend: er fragt nach der ganzen Vielfalt des Sich-Verhaltens gegenüber den Göttern in der Gesellschaft des alten Griechenland und Rom, denn Religion ist für ihn das, was Menschen glauben.

Paul Veyne, geb. 1930, ist Professor für Alte Geschichte am Collège de France und einer der bedeutendsten Gelehrten seines Fachs weltweit. In Deutschland wurde er einem breiteren Publikum vor allem durch den von ihm herausgebenen ersten Band der 'Geschichte des privaten Lebens' und sein großes Buch über das antike Stiftungswesen 'Brot und Spiele' bekannt.

Inhalt

Geleitwort von Christian Meier
Einleitung
Die antike Vorstellung von den Göttern
Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen
Die Qualität des Heiligen
Die Liebe zu den Göttern
Die Mythen
Die Schwächen der Götter
Die Götter und die Hoffnung
Ritualismus und Glaube
Die Götter und der Eid
Korrektes Auftreten in den heiligen Stätten
Frömmigkeit und Gerechtigkeit
Die Götter, der Gott, Zeus und die Gerechtigkeit
Spötter und Konformisten
Götter ohne Grenzen
Die Christen - ein Rätsel
Euripides, 'Antigone': Die Wege der Götter sind unergründlich
Gleichgültigkeit, Machiavellismus, blinder Glaube
Exkurs: Die Religion - ein Konglomerat unterschiedlicher Elemente
Sokrates und die Sophisten: Aufklärung oder ein neues Bild von den Göttern?
Die Frömmigkeit - eine Tugend des Individuums
Vom Nutzen der Riten
Ungläubige, Abergläubische, Konformisten, Zweifler, Beunruhigte
Frömmigkeit und Keuschheit: die Priester und ihre Porträts
Die Frömmigkeit des Volkes
Der späte Paganismus
Exkurs: Die Religiosität (das religiöse Empfinden) - eine "virtuelle Partei" der Mehrheit
Gab es eine Religiosität der Stoa?
Jenseitsvorstellungen und 'moods'
Glaubte man wirklich, daß man die Verstorbenen in ihren Gräbern mit Nahrung versorgen konnte?
Die Angst vor der Unterwelt und der gute (oder fromme) Tod der Heiden
Schluß
Anmerkungen

Einleitung "Alle Religion", schreibt Kant "[...] besteht [darin], daß wir Gott für alle unsere Pflichten als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber ansehen". Das ist für ihn "die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft". Gibt es also eine enge Verbindung zwischen Religion und Moral? Ja, aber diese Verbindung gilt nur für eine Heilsreligion wie das Christentum, die einzige Form der Religion, an die Kant dachte. Seit zwei Jahrhunderten sind wir mit Georg Simmel der Auffassung, daß die Beziehung zwischen Religion und Moral nicht geklärt werden kann, wenn man die Frage prinzipiell statt historisch behandelt. Es gibt keine Essenz der Religionen außerhalb ihrer Geschichte. Zwar ist die Welt von anbetungswürdigen und mächtigen personalen Wesen bevölkert, von denen man Gutes und Böses erwarten kann - was für einen Status als Gott hinreicht -, doch sie sind nicht notwendigerweise ohne Fehl und Tadel. "Die Moral und die Religionen", schreibt Bergson, haben "sich unabhängig voneinander entwickelt und [...] die Menschen [haben] ihre Götter immer aus der Überlieferung empfangen [...], ohne von ihnen zu verlangen, daß sie ein Sittenzeugnis vorlegten." Im Falle des Heidentums ist, laut Nilsson, für uns "das Fehlen einer echten Beziehung zwischen den griechischen Göttern und der Gerechtigkeit ein großes Problem". Zwar ist Zeus seit Homer und Hesiod der Schirmherr der Gerechtigkeit, aber "die Gerechtigkeit gehört, anders als bei Jahwe, nicht zu seinem ureigensten Wesen." Die heidnische Religion kümmerte sich nur sporadisch und auch nur indirekt um moralische Fragen. Religion und Moral waren teilweise miteinander verbunden, insofern als man von den Göttern erwartete, daß sie die Guten begünstigten und die Bösen bestraften und dies auch tatsächlich hin und wieder taten. Außerdem waren sich Götter und Menschen in der Beurteilung der Guten und der Bösen durchaus einig, da sie dieselben Moralvorstellungen teilten und in ein und derselben Welt zu Hause waren. Die Götter hatten die Kontrolle über jedes Ereignis, dessen Ausgang nicht ausschließlich vom Tun des Menschen abhängig war. Später wird man mit Hilfe der Philosophie, der Kultur, der 'paideía', die Gottheit zum Fundament des Guten machen, und dieser Glaube an eine Transzendenz wird 'grosso modo' bis ins 18. oder 19. Jahrhundert fortbestehen. Dies ist also unsere Ausgangsbasis für einen Überblick über den griechisch-römischen Paganismus, der sich von der ethnozentrischen Vorstellung, die man sich nach dem Vorbild des Christentums zuweilen von den Religionen macht, deutlich unterscheidet. Dabei werden wir uns mit den zwischen Griechenland und Rom bestehenden Gemeinsamkeiten befassen und die Originalität Roms, das schon sehr früh hellenisiert wurde, nicht besonders hervorheben. Manche dieser Übereinstimmungen haben einen Zeitraum von mehr als 1000 Jahren überdauert: Sie bilden das volkstümliche Sediment des Heidentums; andere haben durch die 'paideía' in den gebildeten Schichten eine Metamorphose erfahren. Die antike Vorstellung von den Göttern Um uns ein klareres Bild machen zu können, müssen wir zunächst der Frage nachgehen, was einen heidnischen Gott auszeichnete. Dieser hatte mit dem gigantischen, die Welt überragenden Wesen, dem Gott des Christentums, nur den Namen gemeinsam. Die antiken Götter leben in derselben Welt wie wir, sie sind wie wir Geschöpfe der Natur, körperliche Lebewesen und bilden eine der drei die Natur bevölkernden geschlechtlichen Spezies (jede Gottheit ist entweder männlich oder weiblich, 'sive deus, sive dea'): Nach antiker Auffassung gibt es die Tiere - sie sind weder unsterblich noch vernunftbegabt -, die Menschen - sie sind vernunftbegabt und sterblich - und die sowohl vernunftbegabten wie auch unsterblichen Götter. Innerhalb der Welt, der alle diese Geschöpfe gleichberechtigt angehören, führen die Götter und die Menschen, obwohl sie verschieden sind, ein ganz ähnliches Dasein. In vielen Religionen sind die Götter nicht besser, sondern nur mächtiger als die Menschen. Als die Götter dann im Zuge der Reformbestrebungen einiger Philosophen zu metaphysischen Wesen und damit zu Modellen der Tugend wurden, kam dies einer Revolution in der Religion der griechischen Eliten gleich. Die Götter bilden ebenso wie die Menschen eine lebendige Spezies, eine Rasse, ein 'genus'. Sie sind eine Art außerirdischer Lebewesen, mächtige Fremdlinge mit einem eigenen und auf sich selbst konzentrierten Leben, unabhängig von den Menschen, die ihrerseits ein eigenständiges Dasein führen. Dennoch nehmen sie an der Menschheit mehr oder weniger Anteil, können auf gewisse Aspekte ihres Schicksals Einfluß nehmen, haben jedoch zu ihr (oder einem erwählten Volk) nicht diese essentielle und leidenschaftliche Beziehung, die den jüdischen oder christlichen Gott auszeichnet. Sie interessieren sich für die Menschen nur in dem Maße und aus den gleichen sehr unterschiedlichen Gründen und Anlässen, aus denen die Menschen sich für ihresgleichen interessieren. In erster Linie sind sie an sich selbst interessiert und ihre Hauptsorge kreist nicht um das Wohl der Menschheit. Käme es zu einer kosmischen Katastrophe, wären sie nur darauf bedacht, die Flucht zu ergreifen und sich in Sicherheit zu bringen. Beim Vesuvausbruch im Jahre 79 glaubten die Bewohner Pompejis, daß das Ende der Welt gekommen sei und die Götter die Erde bereits verlassen hätten. Um so weniger selbstverständlich erscheint es da, daß die Götter auf den Gedanken kommen sollten, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen oder die Tugend zu lehren. Diese anthropomorphen Götter sind keine das Absolute oder das Unendliche verkörpernde Wesen, sondern, wie gesagt, eine Rasse, eine lebendige Spezies. Man glaubt, daß sie wie wir der konkreten Welt angehören, einer Welt, in der es ein 'Mehr' und ein 'Weniger' gibt, und an dieser Überzeugung wird man bis ins Jahrhundert des Sokrates und der Sophisten festhalten. Die Götter sind, wie man angefangen bei den Tragikern bis hin zu Libanios hier und da lesen kann, "die Wesen, die den Menschen überlegen sind", 'hoi ton anthrópon kreíttous'. Der Schritt von den Menschen zu den Göttern ist ein quantitativer, führt aber nicht zum Unendlichen. Deshalb konnten die hellenistischen Könige und römischen Kaiser auch fiktiv vergöttlicht werden. Das war eine hyperbolische, aber keine absurde Ausdrucksweise: Wenn man von den Menschen zu den Göttern aufstieg, überschritt man keine kategorielle Grenze. Eine gewisse förmliche Vertrautheit mit den Göttern war durchaus vorstellbar. In den Theoxenien der griechischen Poleis und in den Lectisternien der römischen Städte wurden diese edlen Fremden diplomatisch empfangen und zum Gastmahl geladen. Doch vermutlich konnten auch einfache Leute die Götter bewirten. Die Götter sind, wie gesagt, mächtig und üben ihre Macht auf der Erde der Menschen aus, aber sehen wir uns vor: In dem Entwicklungsstadium des religiösen Denkens, mit dem wir uns gerade befassen, sind sie nicht allmächtig und lenken auch nicht den Kosmos; sie haben diesen weder geschaffen noch ihm seine Ordnung gegeben. Sie sind im Prinzip die Herren der Welt, aber in der Praxis betreffen ihre Verfügungen nur die Spanne, die zwischen den menschlichen Akten oder zufälligen Ereignissen und ihrem guten oder schlechten Ausgang liegt: Eine Schlacht wird gewonnen oder verloren, ein Kranker wird genesen oder sterben, die Ernten sind gut oder schlecht; wenn ein Krieger oder Jäger einen Pfeil abschießt, spricht er vorsichtshalber ein Gebet, weil er niemals sicher sein kann, sein Ziel auch zu treffen. Die göttlichen Interventionen beziehen sich auf diesen kleinen Bereich des Unvorhersehbaren, der dem entspricht, was wir gemeinhin als "Glück" bezeichnen. Mit etwas Glück werden wir, wenn die Götter es wollen, 'syn theoís, cum dis volentibus', bei unseren Unternehmungen Erfolg haben. Die "primitiven" Menschen sind genauso realistisch wie wir. Wenn sie sehen, dass sich die Gräser im Wind wiegen, eine Welle Kieselsteine heranrollt oder der menschliche Fuß Staub aufwirbelt, denken sie nur an eine mechanische Kausalität. Die Götter kommen erst dann ins Spiel, wenn etwas auf einen Zufall zurückzuführen ist, der sich auf das menschliche Leben auswirkt, oder wenn sich etwas nicht ausschließlich mit der Natur oder der Technik erklären läßt, sondern wenn eine gewisse Unsicherheit verbleibt: Wird die richtige Seite die bevorstehende Schlacht gewinnen? Wird jener Verbrecher eines Tages für seine Missetaten büßen? Die Rolle, die die Göttlichkeit bei Ereignissen mit ungewissem Ausgang spielt, erklärt die Existenz personifizierter und divinisierter Abstraktionen als Gottheiten. Der Zufall, das Glück ('Agathé Týche'), der gute Erfolg ('Bonus Eventus') sind Götter. Nach der endgültigen Beilegung eines Konfliktes zwischen den Patriziern und Plebejern wurde für die Eintracht in Rom ein Tempel errichtet, und nach dem Krieg gegen Sparta erhielt 371 in Athen der Frieden einen Altar. Das Fieber und die Seuche hatten fast überall in Italien Heiligtümer und Exvotos. Da es intellektuell schwierig ist, das Unkörperliche vom Körperlichen zu unterscheiden, verschmilzt ein Ereignis namens Seuche mit einem Wesen, der Seuche, das die Epidemie verursacht hat und folglich eine Gottheit ist. Im übrigen fragt man sich nicht, wie es die Götter oder die vergöttlichten Abstraktionen konkret anstellen, um eine Seuche zu verbreiten, oder ob sie den Soldaten den Arm führen, um ihnen in einer Schlacht zum Sieg zu verhelfen; man beschränkt sich darauf, die Auswirkungen dessen festzustellen, was die christlichen Theologen als "besondere Vorsehung" bezeichnen werden, ohne die sekundären Ursachen, die von ihr beschrittenen Wege, zu hinterfragen. Der Raum des Ungewissen läßt dennoch erkennen, ob diese Vorsehung existiert, ob die Götter, die wie wir ein moralisches Empfinden haben, sich genügend für die Menschheit interessieren, um einer immanenten Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, anstatt sich nur für sich selbst und die ihnen geschuldete kultische Verehrung zu interessieren. Hier ergibt sich ein möglicher Anknüpfungspunkt zwischen Religion und Moral. Da die Götter anthropomorph sind und den Menschen ähneln, haben sie wie diese ein moralisches Empfinden, auch wenn ihr Betragen nicht immer einwandfrei ist; die Moral prägt mehr oder weniger das Miteinander der homerischen Götter, die diese Moral, ebenso wie die Menschen, respektieren, selbst wenn sie, wie die Menschen auch, bisweilen gegen sie verstoßen. Götter und Menschen teilen als Bewohner derselben Welt dieselbe Moral; sie ist selbstverständlich und existiert so wie die Erde oder das Licht 'per se'; die Menschen und die Götter nehmen sie sozusagen mit der Atemluft in sich auf. Was ist die Gerechtigkeit? Sie ist die Schwester der Jahreszeiten; die Moral ist eigenständig, sie ist ebenso natürlich wie die Abfolge der Jahreszeiten. In dem historischen bzw. vielmehr logischen Stadium, in dem wir uns gerade befinden, war die Gottheit noch nicht die Begründerin der Gerechtigkeit, ja, sie legte sie den Sterblichen nicht einmal als ständige Verpflichtung auf. Hinsichtlich der Moral befanden sich Götter und Menschen auf derselben Stufe. Aischylos konnte eine Szene erfinden, in der einige Götter, die sich nicht einigen konnten, welches Schicksal sie dem Muttermörder Orest zuweisen sollten, ihre Sache vor ein menschliches Gericht, den Areopag in Athen, brachten und dort verhandelten.

Erscheint lt. Verlag 12.2.2008
Mitarbeit Sonstige Mitarbeit: Anna Raupach
Übersetzer Ursula Blank-Sangmeister
Vorwort Christian Meier
Sprache deutsch
Original-Titel Culte, piete et morale dans le paganisme greco-romain
Maße 122 x 195 mm
Gewicht 48 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Vor- und Frühgeschichte / Antike
Schlagworte Antike; Religion • Hardcover, Softcover / Sachbücher/Geschichte/Vor- und Frühgeschichte, Antike • HC/Sachbücher/Geschichte/Vor- und Frühgeschichte, Antike
ISBN-10 3-15-010621-4 / 3150106214
ISBN-13 978-3-15-010621-1 / 9783150106211
Zustand Neuware
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