Die Welt im Krisenmodus (eBook)
194 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-045289-3 (ISBN)
Dr. Matthias von Hellfeld ist Historiker, Journalist und hat zahlreiche Beiträge für Fernsehen und Radio verfasst. Seit 2016 ist er Redakteur des Geschichtsformats 'Eine Stunde History' bei Deutschlandfunk Nova. Die Geschichte Europas und ihre Vermittlung ist seine erklärte Lebensaufgabe.
Dr. Matthias von Hellfeld ist Historiker, Journalist und hat zahlreiche Beiträge für Fernsehen und Radio verfasst. Seit 2016 ist er Redakteur des Geschichtsformats "Eine Stunde History" bei Deutschlandfunk Nova. Die Geschichte Europas und ihre Vermittlung ist seine erklärte Lebensaufgabe.
McDonald’s in Moskau – reformunfähiges Russland
Thomas Franke
Es war im Sommersemester 1989. Ich studierte Volkswirtschaftslehre in Hamburg und die studentische Fachschaftsinitiative hatte einen Wochenendworkshop organisiert. Der Titel klang absurd: »McDonald’s in Moskau – Reformen im RGW«. McDonald’s war ein Symbol für US-amerikanischen Kulinarimperialismus. Und in Moskau, so glaubten es viele in meinem Umfeld, lag so etwas wie der Gegenentwurf zum Kapitalismus. Selbstverständlich ging ich nicht zu McDonald’s, keiner meiner Freunde tat das. In Moskau war auch keiner von uns gewesen. Der RGW, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, in dem sich die sozialistischen Staaten gegenseitig unterstützten, war zwar in den 80ern etwas offener geworden, doch US-imperialistischer Tendenzen unverdächtig. Im Osten galt ein Planvorgaben unterworfener Staatsdirigismus, der jede individuelle Entfaltung lähmte, im Rest der Welt dominierte der Markt, mehr oder weniger sozial abgefedert.
Das knappe Gut in der Planwirtschaft waren Devisen. Da der Rubel nicht in Dollar umgetauscht werden konnte, brauchten die Staaten Westgeld, um Waren aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsraum zu kaufen. Das bekamen sie, indem Sie ihre Waren in den Westen verkauften, oft wurden auch Tauschgeschäfte abgewickelt. So bekam beim sogenannten Erdgas-Röhren-Geschäft die Sowjetunion Röhren und Kredite von der Bundesrepublik Deutschland, im Gegenzug strömte Erdgas nach Westen. Die DDR brauchte Kaffee und schickte im Gegenzug Waffen nach Äthiopien. In der Sowjetunion gab es ab 1972 sogar Pepsi-Cola, im Gegenzug lieferte die UdSSR Stolichnaya Wodka in die USA. Die Wirtschaft in der UdSSR und den angeschlossenen Satellitenstaaten war in den 80er Jahren am Ende. Die Bevölkerung litt immer stärker unter Mangel, die Menschen standen schier endlos in Schlangen vor Geschäften. Die Rüstungsausgaben stiegen, der Ostblock konnte nur noch schwer mithalten. Die Sowjetunion hatte außerdem den Anschluss an die technologische Entwicklung verpasst, an Computer- oder Lasertechnologie zum Beispiel. Importe fraßen die Devisen auf, das Land war nicht bereit für den Welthandel, jedoch von ihm abhängig. Trotzdem wirkte alles stabil. Im Sommer 1989 hätte ich jeden, der das baldige Ende des Ostblocks vorausgesagt hätte, für verrückt erklärt. McDonald’s in Moskau war für uns unvorstellbar. Dabei buhlte im Hintergrund bereits Coca-Cola um Marktzugang und Pizza-Hut wollte das erste Fastfood-Restaurant in der Sowjetunion werden.
Die Führung des Staates war hoffnungslos überaltert und mit dem Machterhalt beschäftigt. Im November 1982 starb Leonid Brewschnew, 76 Jahre alt, in unterschiedlichen Funktionen seit 1960 an der Macht. Ihm folgte Juri Andropow, Chef des Geheimdienstes, 68 Jahre alt, schwer krank, auch er kein Reformer und gesundheitlich nicht in der Lage, die Regierungsgeschäfte zu führen. Er starb nur 15 Monate nach der Machtübername. Sein Nachfolger, Konstantin Tschernenko, 72 Jahre alt, ehemals Stabschef von Breschnew und natürlich auch kein Reformer, starb nach gut einem Jahr im Amt, am 13. Februar 1984. Gefühlt waren sie alle weit über 80 Jahre und sahen auch so aus. Ihre politischen Vorstellungen waren geprägt von der Konfrontation mit dem Klassenfeind und dem Aufbau des Sozialismus, was auch immer das sein sollte. Vom Leben der Menschen in ihren Ländern hatten die Führer im RGW wenig bis keine Ahnung.
Zarte Reformen
Doch dann kam mit Michail Gorbatschow ein gleichsam junger Mann in Moskau an die Macht. Mit nur 54 Jahren wurde er im März 1985 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Er hatte einen nahezu realistischen Blick auf die immer schlechter werdende wirtschaftlichen Lage in der UdSSR und den ihr angeschlossenen Staaten und erklärte sich zum Reformer. Die Sowjetunion musste die Rüstungsspirale dringend stoppen. Und so traf er sich bereits im November 1985 in Genf mit US-Präsident Ronald Reagan. Es ging um die Reduktion von Atomwaffen.
Die Führer der anderen Staaten des Warschauer Pakts und des RGW betrachteten den jungen Mann in Moskau skeptisch. Besonders, als Gorbatschow Bücher veröffentlichte. Da ging es um perestroika, »Umbau«. Unter diesem Schlagwort begann der neue Machthaber in Moskau, die Wirtschaft zu erneuern. Er öffnete das Land für ausländische Beteiligungen und ließ Ansätze von Marktwirtschaft zu. Doch das reichte nicht. Zu tief war der Ostblock heruntergewirtschaftet, um im Wettbewerb mit dem Westen zu bestehen und seinen Bürgern mehr als die Grundversorgung zu gewährleisten. Allen, die frei denken konnten, war klar, das System der Planwirtschaft war gescheitert. Immer noch lebten Menschen in Gemeinschaftswohnungen, selbst Alltägliches wie Obst war knapp, es gab nicht mal ausreichend Kacheln für Badezimmer. 1989 wurden Lebensmittelmarken für Grundnahrungsmittel wie Zucker, Speiseöl und sogar Waschpulver und Seife eingeführt. Waschmaschinen waren Luxusgüter. Die Menschen standen Schlange, um Winterstiefel zu ergattern. Auch auf Mikroebene florierte der Tauschhandel, am besten ging es Menschen mit Devisen und Beziehungen. Durch seine verfehlte Wirtschaftspolitik förderte der Staat eine urkapitalistische Parallelwirtschaft. Die Bevölkerung erduldete es ängstlich. Denn wozu die Machthaber in diesen Staaten fähig sind, wenn die Bevölkerung sich gegen das System auflehnt, hatten sie mehrfach bewiesen: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der ČSSR. Die Mächtigen, das war klar, waren skrupellos, die bewaffneten Kräfte ihre Machtbasis. Im April und Mai 1989 demonstrierten Studenten in Peking für die Öffnung, für Reformen und Demokratie, im Juni ließ die Staatsmacht Panzer auffahren und hunderte friedliche Bürger niedermetzeln. Egon Krenz, stellvertretender Vorsitzender des Staatsrats der DDR und damit der zweite Mann im Staat, rechtfertigte die Ermordung der Studenten in China. Man stehe »auf der Barrikade der sozialistischen Revolution« dem gleichen Gegner gegenüber. Eine üble Drohung in Richtung der Demonstranten in der DDR. Im Osten nichts Neues.
Gorbatschow versuchte, die Sowjetunion auch jenseits der Wirtschaft zu reformieren. Glasnost hieß das zweite Schlagwort, was man mit »Transparenz« übersetzen kann, salopp vielleicht mit »Klartext reden«. In der Folge von glasnost wurde die Zensur gelockert. Bürger wurden dazu angehalten, offen zu reden, ihre Meinung zu sagen, sich einzubringen. Sie benannten die katastrophalen Zustände unter anderem der Umwelt und die Verbrechen der Vergangenheit. Plötzlich war richtiger Journalismus möglich. Was dieser hervorbrachte, war erschreckend. Korruption, Umweltkatastrophen, Gewalt, Machtmissbrauch. Als aber im April 1986 der Reaktor in Tschernobyl kollabierte, schwieg die Macht. Die neue Transparenz kam schnell an ihre Grenzen.
Sichtbarstes Zeichen der Gorbatschow’schen Reformen war, dass politische Gefangene freigelassen wurden und Verbannte zurückkehren konnten. Eine der Symbolfiguren war der Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow mit seiner Frau Jelena Bonner, Kinderärztin und Menschenrechtlerin. Sacharow und seine Frau waren, nachdem Andrej gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan protestiert hatte, im Januar 1980 nach Gorki verbannt worden, das heute wieder Nischni Nowgorod heißt und etwa 400 Kilometer östlich von Moskau liegt. Er stand unter Aufsicht des KGB. 1986 durften beide die Verbannung verlassen. Gorbatschow rief sie persönlich an, um ihnen das mitzuteilen, und bat sie sogar, politisch aktiv zu werden. 1988 wurde Sacharow ins Führungsgremium der Akademie der Wissenschaften berufen. Ihm ging es nicht darum, die Wirtschaft zu reformieren und den immensen Hunger nach Westwaren zu befriedigen, es ging ihm um tiefgehende Reformen. 1989 gehörte er zu den Gründern von Memorial, einer Organisation, die begann, die verbrecherische Vergangenheit der Sowjetunion aufzuarbeiten, und Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart anprangerte. Im selben Jahr wurde Sacharow als Parteiloser in den Kongress der Volksdeputierten der UdSSR gewählt. Das Gremium war erst ein halbes Jahr zuvor auf Vorschlag von Gorbatschow als höchstes gesetzgebendes Organ der UdSSR in die Verfassung aufgenommen worden. In ihm tagten die 750 Abgeordneten des Obersten Sowjets, 750 Vertreter der zweiten Kammer, des...
Erscheint lt. Verlag | 18.12.2024 |
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Co-Autor | Arthur Landwehr, Benjamin Zeeb, Michael Hüther, Hans-Otto Pörtner, Thomas Franke, Paul Reifferscheid |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Demokratie • Gesellschaft • Krise • Krisensituation |
ISBN-10 | 3-17-045289-4 / 3170452894 |
ISBN-13 | 978-3-17-045289-3 / 9783170452893 |
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