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SehnSucht -  Astrid Kofler

SehnSucht (eBook)

Gespräche über Krisen, Konsum und Prävention
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
440 Seiten
Edition Raetia (Verlag)
978-88-7283-961-4 (ISBN)
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Alkohol, Medikamente, Drogen oder Glückspiel, aber auch Essstörungen, Kauf- oder Sportsucht - Abhängigkeit hat viele Gesichter, die Auswirkungen auf die Betroffenen sowie das Umfeld sind jedoch ähnlich: Was schleichend beginnt, wird zum bestimmenden Lebensinhalt. Die Sucht ist dabei meist ein Sehnen - nach Liebe und Geborgenheit, nach Freiheit und Ausbruch, nach Erfüllung. Astrid Koflers Gespräche mit Fachkräften und Menschen, die Abhängigkeitserfahrungen erlebt haben, machen Mut. Sie zeigen, welche Auswege es geben kann, dass Rückfälle normal sind und wie vielfältig das Therapie- und Präventionsangebot ist.

Journalistin, Filmemacherin und Autorin. Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in Wien, Journalistenausbildung in München, Berlin und London. Bei Edition Raetia u. a. 2019 'Alles gut. Gespräche mit 90-Jährigen' und 2021 'Alles wird gut. Gespräche mit 90-Jährigen' (Fotos von Thomas Wiedenhofer), 2023 'Sterben. Des Lebens heller Schatten'.

Astrid Kofler: Journalistin, Filmemacherin und Autorin. Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in Wien, Journalistenausbildung in München, Berlin und London. Bei Edition Raetia u. a. 2019 "Alles gut. Gespräche mit 90-Jährigen" und 2021 "Alles wird gut. Gespräche mit 90-Jährigen" (Fotos von Thomas Wiedenhofer), 2023 "Sterben. Des Lebens heller Schatten".

„Die Sehnsucht ist das Meer, die Erfüllung die Welle“.

Johann Wolfgang von Goethe

Sehnsucht. Berührung
Die Sucht verstehen


Sehnsucht ist ein Ziehen, ein Schmerz, eine Traurigkeit. Ist Wehmut, Melancholie. Sehnsucht ist leise, manchmal lauter, selten definiert.

Sehnsucht ist ein Sehnen. Nach Meer oder Regen, nach Sommer und der Erfüllung eines Traums, nach der Heimat und den Bergen, nach Nähe und den Liebsten. Nach tragfähiger Beziehung zu anderen und zu sich selbst, nach Ermutigung. Um sich etwas zuzumuten, zu leben und sich zu lieben. Nur ein Buchstabe mehr macht aus „leben“ „lieben“. Auch „Suche“ und „Sucht“ unterscheiden sich aufgrund eines Buchstabens, scheinen so ähnlich und sind so verschieden.

Sehnsucht ist das Hoffen auf Glück und Harmonie. Nach Ruhe und Frieden, nach einem Bei-sich-Ankommen und Lebendig-Sein. Nach einem Partner, nach Kindern und Familie.

Sehnsucht ist das Unerreichbare, das heimliche Feuer, das, was fehlt, was heimsucht. Nach einer Fee, die einen Wunsch erfüllt, oder sogar drei, nach Ende, Freiheit und Neubeginn. Nach der Vergangenheit, in der alles heil schien, nach der Zukunft, in der es besser wird. Nach Engeln, die uns begleiten, und einer Göttin oder einem Gott, die uns halten. Nach einer anderen Welt.

Sehnsucht hat viele Synonyme, hat viele Gesichter. Manchmal hat sie auch keine und keinen Namen. Manchmal ist sie einfach nur da, ist ein Gefühl, das fortträgt, ist eine Stimme, wenn wir einsam sind, ist wie der Klang eines Saxofons auf einer ungemähten Bergwiese, und das Echo kehrt wieder. Immer wieder. Wird lauter im Kopf. Tut gar weh.

Sehnsucht wird mit SehnSucht verwechselt.

SehnSucht ist manchmal einfach ein Unbehagen, eine Leere, ein Fragezeichen. SehnSucht verführt, lädt ein, nicht fühlen zu müssen, da es schmerzt. Sie verlockt, noch intensiver zu spüren, herauszufordern, sich zu gefährden. Sie ist nicht ein Suchen, ist ein Siechen. Sie ist ein Licht, das auf uns fällt und bricht, wir verspüren ihre Wärme, wissen von ihrem Dasein, wir leiden, da manche dieser Lichtstrahlen blenden, den Rückweg oder eine Biegung unkenntlich machen. Wir kennen diese SehnSucht alle, geben ihr nach, baden in Wehmut und Selbstmitleid, vertreiben sie, unterdrücken sie.

Sehnsüchte sind verschieden, wie Menschen es sind. SehnSüchte sind es auch. Manchmal bleiben sie ein Bedürfnis, manchmal führen sie zur Abhängigkeit. An Willensstärke oder Willensschwäche liegt das nicht, es ist das Hirn, das uns im zweiten Fall ein Schnippchen schlägt, es sind Gene, Anlagen, Umstände, Lebenserfahrung und ganz einfach Pech.

Leicht ist es mit der Sehnsucht und der SehnSucht nie. Sehnsucht als Bedürfnis ist komplex, und SehnSucht als Krankheit, als Antwort auf eine Lebensfrage, auf ein chronisches Leiden oder einen Infarkt des Moments ist noch viel komplexer.

Warum den seelischen Schmerz aufarbeiten, wenn Alkohol oder Medikamente so wirksam entspannen, betäuben und Wärme schenken, Hemmungen und Ängste vernebeln? Warum den Stress abbauen, wenn Kokain und Speed Lebendigkeit verleihen, Drogen Wohlgefühl schenken und Wachsein, aufputschen und wachträumen lassen? Warum sich mit neuen Facetten des Ich-Seins beschäftigen, wenn täuschende Masken so viel schneller leidvolle Erfahrungen kaschieren helfen, warum Probleme anpacken, wenn Computerspiel und Smartphone so herrlich ablenken und es dabei Abend wird? Konsum führt zur Illusion, dass ich Macht habe, dass ich unangenehme Gefühle beherrschen kann.

Manche haben einen Segen, im richtigen Moment auf Menschen zu treffen, die ihnen guttun, manche das Missgeschick, im falschen Moment mit Menschen zu sein, die im Außen nach Abkürzungen zur neuronalen Belohnung suchten, einfachere Wege fanden. Manche haben die Bürde, dass aus Neugier, Spaß oder Verzweiflung, aus Genuss und Bedürfnis eine Belastung wird. Es geschieht schleichend, es ist nicht so, dass sie es sich wünschen würden.

Abhängigkeit ist eine Krankheit, die jeder Mensch im falschen Moment lernen kann. Wird Sehnsucht zur Abhängigkeit, ist die Befriedigung eine kurze Welle, eine Welle, die sich türmt und verfließt. Manche gehen schlafen und der Morgen danach ist der Beginn eines bewährten Tages. Manche erwachen und sind ernüchtert. Sie machen sich Vorsätze und sagen „heute nicht“, werden dann aber unruhig, schwach, nervös und am Nachmittag heißt es „nur noch heute“ oder „nur noch ein letztes Mal“. Manche haben Gründe, manche haben es nicht lernen dürfen, sich anzunehmen, wie sie sind, haben keine Verbindung zu einem aufrichtigen Ja zu ihrem Leben, eine Blockade zum inneren Ich. Manche haben gelernt, schnelles Dopamin zu finden, eine Belohnung und ein Ersatzpräparat, weil sie wegkommen wollen von dem, was sich nicht gut anfühlt. Weil sie einsam sind. Weil sie die Sorge haben, etwas zu verpassen. Weil sie die Persönlichkeit dafür haben, Mitläufer sind, die tun, was die anderen machen, oder Grenzgänger, die das Risiko lieben, Rebellen, die das Verbotene bevorzugen. Weil sie nicht die Spaßbremse oder spießig sein wollten. Vielleicht wollten sie auch nur probieren oder genießen, weil der Tag so besonders war, der Abend so lau.

Andere hatten eine Kindheit in einem entsprechenden Milieu oder eine Jugend oder auch ein Erwachsensein, in denen sie immer wieder enttäuscht wurden und sich lieber in eine Seifenblase träumten, als ihre Welt zu akzeptieren. Weil vielleicht auch die Erziehungspersonen kein Selbstwertgefühl hatten und sich am Außen orientierten. Weil sie eine Pseudoidentität entwickelten und das sind, was sie glauben, sein zu sollen. Weil sie keine Resilienz erlernten und Angst vor Rührung haben. Weil emotionale, sexuelle, psychische Gewalt anders nicht mehr zu ertragen waren. Weil nur mehr das wahrgenommen werden wollte.

Vielleicht war auch alles perfekt gewesen und nichts war verwickelt in der Familie, aber im eigenen Leben gab es ein Trauma oder akkumulierte Traumatisierungen, einen Auslöser, eine Entscheidung, bei einer Wegkreuzung im Leben abzubiegen, nicht geradeaus zu gehen oder weiterzugehen und nicht umzukehren, weil die Spur zum eigenen Ich verwischt war.

Da die Biografie eines Menschen einzigartig ist, sind auch die Gründe für eine Abhängigkeit individuell. Genauso individuell muss die Behandlung erfolgen. Und diese ist nicht nur der Entzug. Denn hinter jeder SehnSucht liegt viel mehr.

Abhängig sind nicht nur die Fixerin, die in der Wartehalle an der Mauer lehnt, oder der Sandler, der sein Lager im Geschäftseingang aufschlägt, neben sich einen Liter Weißwein im Tetra Pak. Rauschmittel sind nicht nur psychoaktive Stoffe oder Substanzen. Es gibt auch Handydauernutzer und Onlinejunkies, Arbeits- und Sexsüchtige. Menschen leiden an unterschiedlichsten exzessiven Angewohnheiten. Es gibt auch kollektive, politische SehnSüchte, die kippen können, wenn etwa Sehnsucht nach Ferne zu Machthunger und Gier wird und zu Kolonialismus, Unterdrückung und Krieg führt.

Eine Sucht kommt nicht von heute auf morgen. Sie entwickelt sich aus der Belohnung, wird zu Gewohnheit und zum regelmäßigen Seelentröster, zum festgefahrenen Ritual und zur unkontrollierbaren Notwendigkeit. Eine Sucht heißt dann auch nicht mehr Sucht, sie ist eine Abhängigkeit, eine Krankheit, ein Zwang. Auch Konsumstörung wird sie heute genannt. Das neugierige Hirn hat brav gelernt, es hat folgsam gespeichert. Eine Löschtaste kennt es nicht. Die Entscheidung für die Abstinenz muss immer wieder bewusst getroffen werden, auch nach langer Zeit kann es Situationen geben, die das Suchtverhalten reaktivieren. Die erste Zigarette nach Jahren schmeckt genauso gut wie jene damals, als das Rauchen noch keine Kette war, beim Sonnenuntergang auf einem Segelboot, beim Lagerfeuer oder unter den Linden. Das Rauchen war anfangs bei besonderen Momenten ein Ritual, wie der besonders schmackhafte Kaffee zum Samstagsfrühstück am Stadtplatz. Bis es Gewohnheit wurde, wie auch der Kaffee täglich genossen nach Wochen nicht anders schmeckte als in irgendeiner Bar. Dieser Verknüpfung, dieser Gedächtnisspur zu entkommen, ist die größte Hürde beim Ausstieg. Zugleich liegt darin die Chance: Dass das Gehirn lernwillig ist, dass es möglich ist, neue Dinge zu erfahren, die Alt-Gelerntes in den Hintergrund bannen, dass es möglich ist, Verhaltensweisen neu zu ritualisieren, einen Ersatz zu finden, der guttut, geglückte Gefühle und Freude schenkt.

Vielleicht fehlt uns etwas zu unserem Ganzen. Vielleicht sind wir nicht im Gleichgewicht. Vielleicht suchen wir nach Beziehung im Außen, vielleicht im Außen nach Anteilen, die im Inneren verkümmert sind, aufgerieben von anderen Teilen, die stärker sind. Es ist komplex. Auch darin liegen Trost und Hoffnung. Weil wir in uns Dinge finden können, die uns wirklich guttun, die uns das geben können, was wir brauchen. Es ist alles in uns, wir sind ganz, nur ist manches verschüttet. Und außen gibt es nicht nur Verlockung, es gibt auch Hilfe, um die wir bitten können und die uns gegeben wird. Ein Mensch, der alleine aufbricht, um die Welt zu erkunden, mit Rucksack und Wanderschuhen, wird einen Busfahrer treffen, der ihm den Weg weist, und Freunde, die ihm Wasser reichen. Ein Mensch,...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2024
Verlagsort Bozen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Abhängigkeit • Abschalten • Alkohol • Belohnung • Essstörungen • Genuss • Glücksspiel • Kaufsucht • Konsum • leere im leben • Medikamente • Sportsucht • ständiges Sehnen • Vergessen
ISBN-10 88-7283-961-0 / 8872839610
ISBN-13 978-88-7283-961-4 / 9788872839614
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