Ein Ende und ein Anfang (eBook)
288 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-31808-6 (ISBN)
In diesem Sommer ist nichts mehr, wie es war: In den vier Monaten von Mai bis September 1945 bricht die alte Welt zusammen, und eine neue tut sich auf. Das verbrecherische »Dritte Reich« ist am Ende, und eine Zeit der Freiheit, aber auch neuer Konflikte, nimmt ihren Anfang.
Wie erleben die Menschen diesen Sommer - Sieger wie Besiegte, Opfer wie Täter, Prominente wie Unbekannte? Die »Großen Drei« bestimmen auf der Potsdamer Konferenz den Gang der Geschichte, und die Berliner Hausfrau Else Tietze bangt um das Leben ihres Sohnes. Der US-Soldat Klaus Mann spürt Nazi-Verbrecher auf, und in Berlin plant Billy Wilder eine Komödie über das Leben in den Ruinen. Cafés und Restaurants öffnen ihre Türen, und der Rotarmist Wassili Petrowitsch wird von deutschen Kindern um Brot angebettelt. In vielen Geschichten und Szenen, die von Berlin nach Tokio führen, von München nach Paris oder von Bayreuth nach Moskau, fängt Oliver Hilmes die einzigartige Atmosphäre dieser Zeit der Extreme ein: das große Glück und die Hoffnung der Befreiten, das Elend und die Trauer, die Ängste der Besiegten und die neue Freiheit.
Oliver Hilmes, 1971 geboren, wurde in Zeitgeschichte promoviert und arbeitet als Kurator für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Seine Bücher über widersprüchliche und faszinierende Frauen 'Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel' (2004) und 'Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner' (2007) wurden zu großen Verkaufserfolgen. 2011 folgte 'Liszt. Biographie eines Superstars', danach 'Ludwig II. Der unzeitgemäße König' (2013) sowie 'Berlin 1936. Sechzehn Tage im August' (2016), das in viele Sprachen übersetzt und zum gefeierten Bestseller wurde. Zuletzt erschienen 'Das Verschwinden des Dr. Mühe. Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre' (2019) und 'Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe' (2023).
Truman lässt die Anwesenden zu Beginn wissen, dass er eine Erklärung verlesen werde, die noch bis neun Uhr streng vertraulich sei. Die Nachricht sei aber so kurz, dass die Vertreter der Presse danach genug Zeit hätten, ihre Meldungen zu schreiben. Die Reporter lachen. Truman scherzt, dass dies ein ganz besonderer Tag sei, denn er habe zudem Geburtstag. Er wird einundsechzig Jahre alt. »Happy Birthday, Mister President!«, ruft jemand im Saal. Dann ist es neun Uhr, und Truman beginnt mit seiner Ansprache: »Eine feierliche und glorreiche Stunde ist angebrochen. Ich wünschte nur, Präsident Franklin D. Roosevelt hätte diesen Tag erlebt. Von General Eisenhower ist die Meldung eingegangen, dass sich die deutschen Streitkräfte den vereinten Nationen ergeben haben. Über ganz Europa wehen die Banner der Freiheit.« Truman weist darauf hin, dass der Zweite Weltkrieg noch nicht überall zu Ende sei, da Japan und die USA noch immer in einen schrecklichen Krieg im Pazifik verwickelt seien. Er warnt die Japaner, dass die gesamte amerikanische Militärmaschinerie nun gegen sie gerichtet sein werde. Man habe erst die Hälfte des Kriegs hinter sich. Nach wenigen Minuten ist die Pressekonferenz beendet.
Während Harry S. Truman nun weitere Glückwünsche entgegennimmt, unzählige Hände schüttelt, eine üppige Geburtstagstorte in appetitliche Stücke schneidet, diese an seine engsten Mitarbeiter verteilt und irgendwann zu seiner Arbeit zurückkehrt, beginnen sich in New York bereits zahllose Menschen am Times Square zu versammeln, und Zehntausende marschieren in den nächsten Stunden die Fifth Avenue hinunter, während Konfetti auf sie herabregnet. Alles in allem sind gut 500.000 Menschen auf den Beinen. Es ist die mit Abstand größte Feier zum »Victory Day« in den USA. Doch schon am Abend kehrt die Stadt zu ihrer üblichen Betriebsamkeit zurück. »Die Nachricht hatte gestern Abend kaum Auswirkungen auf die Theaterkassen«, weiß die New York Times am nächsten Tag zu berichten. »Die Ticketverkäufer sagten, dass sie einige Stornierungen von Reservierungen zu verzeichnen hatten, aber diese Plätze wurden sogleich von eifrigen Käufern ergattert.«
Wie lange hat Alfred Döblin auf diesen Tag gewartet! Und wie oft hat er sich das Ereignis in Gedanken ausgemalt? Dass die Erde sich öffnet, ein gigantischer Schlund entsteht und Adolf Hitler geradewegs zur Hölle fährt! Zwanzig Mal? Dreißig Mal? Oder noch häufiger? Döblin weiß es nicht. »Dass diese Bestie endlich daliegt, gut«, schreibt er Anfang Mai Freunden, »aber was hat sie angerichtet.« Rund sechzig Millionen Menschen sind gestorben, Soldaten wie Zivilisten. Neun Millionen Männer, Frauen und Kinder sind in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet worden, darunter sechs Millionen Juden. Weite Teile des europäischen Kontinents sind verwüstet, Deutschlands Städte gleichen Ruinenlandschaften.
In Los Angeles, wohin der Schriftsteller fünf Jahre zuvor emigriert war, notiert er: »Vielleicht ist in einigen Monaten das Exil zu Ende, – und was kommt nachher? Das Leben eine Serie von Abenteuern.«
Gut eine Woche nach Adolf Hitlers Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei schwirren abenteuerliche Gerüchte durch Berlin. »Hitler sei in Japan, Spanien, sei in der Nähe von Hamburg gefallen, habe sich erschossen, sei im Kampf um die Reichskanzlei gefallen«, grübelt Else Tietze in ihrem Tagebuch. Eigentlich heißt sie Elisabeth Anna Henriette, doch solange sie denken kann, nennen sie alle nur Else. Sie weiß nicht recht, was sie von dem Gerede halten soll. »Wenn Gott ihn einen Soldatentod hätte sterben lassen, hätte er es sehr gut mit ihm gemacht. Dass der Mann Gutes wollte, glaube ich noch immer, aber er muss zuletzt wohl wahnsinnig gewesen sein.« Eine echte Nationalsozialistin sei sie ja nie gewesen, beteuert Frau Tietze, doch die Russen seien nun mal die Feinde. Wenn sie aber jetzt durch die Straßen der Reichshauptstadt geht, kommen ihr immer mehr Zweifel an Hitler. »Man hat fast das Gefühl, dass Hitler den Feinden nur ein ganz zerstörtes Berlin hinterlassen wollte und an die armen, unglücklichen Menschen gar nicht gedacht hat.«
Else Tietze ist Anfang siebzig und lebt in einer stattlichen Wohnung in der Holsteinischen Straße unweit des Stubenrauchplatzes im Berliner Bezirk Steglitz. Ihr Mann Richard war zuletzt pensionierter Oberst und ist vor drei Jahren gestorben. Die Leute aus ihrem Haus, das den Krieg wundersamerweise ohne größere Schäden überstanden hat, sprechen Else mit »Frau Oberst« an, worüber sie sich immer besonders freut. Ihr Richard sei eine Respektsperson gewesen, denkt sie dann, vor dem hatte man Achtung, die jetzt auch ein wenig auf sie abzufärben scheint.
Die Tietzes haben drei Kinder – Traute, Hildegard und Richard Junior –, von denen Else seit mehreren Wochen ohne Nachricht ist. Als die Rote Armee in Berlin einmarschierte, flohen Traute und ihr Mann Hans Hals über Kopf nach Süddeutschland, denn sie hatten gehört, Stalins Soldaten würden mit SS-Männern wie Hans oftmals kurzen Prozess machen. Elses Sohn Richard ist wie sein Vater zum Militär gegangen und soll zuletzt in Potsdam gekämpft haben – auch von ihm fehlt seither jede Spur. Einzig ihre Tochter Hildegard weiß Else in Sicherheit. Sie hat einen Klavierbauer geheiratet, mit dem sie bereits 1933 in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist.
»Die Sehnsucht und Sorge ist manchmal gar zu groß«, klagt Else in diesen Tagen mehr als einmal. Es nagt an ihr, nicht zu wissen, wie es den Kindern geht. Obwohl sie über ihre Gefühle nie groß gesprochen oder gar geschrieben hat, führt sie seit ein paar Wochen ein Tagebuch. Es ist ihr »Journal intime«, dem sie ihre quälenden Ängste und Sorgen ebenso anvertraut wie ihre leisen Hoffnungen. Sollten Traute und Richard noch am Leben sein, will sie ihnen irgendwann die Kladde übergeben. Bis dahin notiert Else, so gut es geht, ihre täglichen Erlebnisse. Am 8. Mai schreibt sie: »Die Kinder spielen hier schon wieder vergnügt auf der Straße, und auf meinem Weg heute, der mich an vielen Russenwagen vorbeiführte, sah ich, wie ein Russe einem Jungen eine dicke Scheibe Brot abschnitt, die der strahlend nahm. Übrigens haben sie eine Unmenge meist sehr gut aussehender Pferde, keine kleinen Russenpferde, sondern schöne, große; sicher lauter geraubte und eroberte deutsche.«
Der 8. Mai 1945 ist ein arbeitsreicher Tag im Buckingham Palace. Um elf Uhr findet wie üblich die Wachablösung statt, eine Zeremonie, die während des gesamten Krieges fortgesetzt worden war. Zeitgleich hält König Georg VI. im Ballsaal eine Investitur ab, bei der er mehr als zweihundertsiebzig Orden, darunter die »Distinguished Service Medal« und die »Military Medal«, an verdiente Soldaten verleiht. Gegen Mittag trifft Premierminister Winston Churchill zum Lunch mit dem König ein. Als ihn die Menschenmenge, die sich bereits vor dem Palast versammelt hat, erkennt, muss die Polizei einschreiten. Der siebzigjährige Churchill ist der Mann der Stunde, gilt er doch als treibende Kraft hinter dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland. Nun, da der lang ersehnte Frieden da ist, will das britische Volk diesen mit seinem Premier feiern. Nach dem Mittagessen kehrt Churchill in seinen Amtssitz in Downing Street 10 zurück, um sich in einer Radioansprache an das Volk zu wenden. »Wir können uns eine kurze Zeit der Freude gönnen«, mahnt er darin, »aber wir sollten nicht einen Augenblick lang die Mühen und Anstrengungen vergessen, die vor uns liegen. Japan mit all seinem Verrat und seiner Gier ist noch nicht besiegt. Die Verletzungen, die es Großbritannien, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern zugefügt hat, und seine abscheulichen Grausamkeiten verlangen nach Gerechtigkeit und Vergeltung.«
Vor dem Buckingham Palace ist die Menschenmenge mittlerweile auf rund hunderttausend Personen angewachsen. Zunächst sind es nur einzelne Stimmen, doch dann werden es immer mehr: Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge – sie alle skandieren »We want the King!«. Dann öffnet sich die Tür, und König Georg VI., Königin Elisabeth, Prinzessin Elisabeth und Prinzessin Margaret treten zum ersten Mal an diesem Tag auf den Balkon des Palastes. Der König erscheint in der Uniform eines Admirals der Flotte, und Prinzessin Elisabeth trägt die khakifarbene Uniform des »Auxiliary Territorial Service« – der Frauenabteilung des britischen Heeres –, dem sie im selben Jahr beigetreten ist. Königin Elisabeth und Prinzessin Margaret sind beide in Blau gekleidet.
Winston Churchill begibt sich derweil von Downing Street zum nahen Richmond House, dem Sitz des Department of Health. Vom Balkon des Gebäudes hält er nun eine weitere Rede. »Meine lieben Freunde, dies ist eure Stunde«, ruft er der Menge zu. »Dies ist nicht der Sieg einer Partei oder einer Klasse. Es ist ein Sieg der großen britischen Nation als Ganzes. (…) Nun sind wir aus einem tödlichen Kampf hervorgegangen – ein schrecklicher Feind wurde zu Boden geworfen und wartet auf unser Urteil und unsere Gnade.«
Der Jubel kennt hier wie überhaupt in der ganzen Stadt keine Grenzen mehr. Am späteren Nachmittag empfängt der König Churchill mit den Mitgliedern des Kriegskabinetts zu einer offiziellen Audienz im Buckingham Palace. Um 17.30 Uhr begibt sich die königliche Familie dann erneut auf den Balkon, um sich der Menge zu zeigen – dieses Mal zusammen mit dem Premierminister.
Zeitgleich in Paris: Während Truman zum amerikanischen und Churchill zum britischen Volk sprechen, wendet sich Charles de Gaulle, der Chef der provisorischen Regierung der Französischen Republik, an...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2025 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Aufarbeitung des Nationalsozialismus • Befreiung • Berlin • Berlin 1936 • Deutschland 1945 • eBooks • Frieden • Geschichte • Kapitulation • Klaus Mann • Kriegsende 1945 • Nachkriegsgesellschaft • Nachkriegszeit • NS-Verbrechen • Potsdam • Schattenzeit • Sommer • Stalin • Stunde Null • Thomas Mann • Truman • Vergangenheitsbewältigung • Winston Churchill • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-31808-4 / 3641318084 |
ISBN-13 | 978-3-641-31808-6 / 9783641318086 |
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