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Die Kraft der Unsicherheit -  Anne Otto

Die Kraft der Unsicherheit (eBook)

Wie wir die Angst vor Bewertung überwinden und uns selbst annehmen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
236 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86810-7 (ISBN)
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Wir sind unsicherer geworden: In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Menschen, die sich unter Leuten unwohl fühlen, zugenommen. Schuld daran ist nicht nur die Pandemie, sondern auch andere Faktoren, wie die raue Bewertungskultur in den sozialen Medien oder unsere Optimierungsgesellschaft. Sozial unsichere Menschen empfinden eine tiefe Angst vor Bewertung und haben ständig das Gefühl, dagegen ankämpfen zu müssen. Psychologin Anne Otto entlastet: Wir müssen unsere Unsicherheit nicht überwinden. Wir dürfen sie annehmen und erkennen, dass sie uns alle miteinander verbindet. Daraus können wir Kraft schöpfen. Mit erhellenden Einsichten, Mut machenden Geschichten und konkreten Impulsen zeigt dieses Buch, wie wir selbstbewusster durch schwierige soziale Situationen navigieren, ohne uns zu verbiegen.

Anne Otto ist Psychologin, Psychodramatherapeutin und Autorin. Sie arbeitet seit Jahren für »Spiegel Wissen«, »Psychologie Heute« und »Brigitte«, konzipiert Lernformate zu psychologischen Themen und schreibt Sachbücher. Sie berät und begleitet Menschen in Krisen und Veränderungsprozessen, ist gefragte Seminarleiterin und Speakerin. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt sie in Hamburg.

Einleitung

Zeigen, was ist


»Bist du ein unsicherer Mensch?« Diese Frage kam vor einiger Zeit bei einem Geburtstagsessen auf. Wir saßen mit etwa acht Leuten um einen Tisch, die Pasta-Teller hatten wir gerade abgeräumt, bei neuen Getränken und Espresso herrschte Plauderstimmung: Unsicher sei er schon seit seiner Jugend, erzählte ein Jurist Mitte vierzig. Er hätte auf Partys oder auch später in Bars nie jemanden ansprechen können und sei heilfroh, dass es heute Dating-Apps gebe. Eine Freundin von mir ergänzte, sie sei zwar beim Ausgehen nicht scheu, hasse dafür Small Talk im Job. Bei Empfängen oder Konferenzen würde ihr schnell der Schweiß ausbrechen, sie habe deshalb immer ein Oberteil zum Wechseln in der Handtasche, klein gefaltet in einer speziellen Technik, man könnte sie Angst-Origami nennen. Plötzlich war es, als wäre ein Understatement-Wettbewerb ausgerufen worden. Alle versuchten, sich gegenseitig in Peinlichkeiten zu überbieten, erzählten Geschichten vom Stottern, Hüsteln, Stolpern, Rotwerden. Es wurde viel gelacht, komplizenhaft und erleichtert. Eine Frau sprach dann noch ernst über die lähmende Angst, etwas Falsches zu sagen, die sie einhole, wenn sie neue Leute kennenlerne. Und immer wieder sagte jemand: »Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet du unsicher bist« oder: »Jetzt übertreibst du aber – du bist doch nun wirklich eine Rampensau.« Wir hätten den anderen keine Hemmungen oder Ängste angemerkt. Doch am Ende des Abends stand fest: Wir sind eine Bande von sozial Unsicheren. Kein Einziger von uns hielt sich für souverän, gelassen oder cool im Kontakt mit anderen.

Was war passiert? Konnte es sein, dass mein Bekanntenkreis eine Ausnahme ist, eine Bubble von unsicheren Zweiflern, die an so einem Abend einen Echoraum der Betretenheit bilden, während draußen in der Welt jede Menge selbstsicherer, unerschrockener und sozial versierter Leute herumlaufen, die wir aber alle nicht kennen? Oder haben die allermeisten Menschen zumindest gelegentlich mit Hemmungen und sozialer Unsicherheit zu tun und sprechen nur nicht darüber? Eine abschließende Antwort darauf gibt es nicht. Doch nach den Monaten, in denen ich für dieses Buch Fakten, Zahlen und Ansichten recherchiert und zahlreiche Interviews geführt habe, wage ich die Einschätzung, dass soziale Unsicherheit weitverbreitet ist. Bei manchen Menschen nur in speziellen Job-, Flirt- oder Party-Situationen, die sie zum Teil auch geschickt vermeiden. Bei anderen sind es diffuse Befürchtungen, in Teams, Gruppen oder an der Supermarktkasse irgendwie blöd dazustehen, falsch und ungenügend zu sein. Man kann also durchaus sagen: Wir sind soziale Wesen. Deshalb haben wir auch immer wieder soziale Ängste. Eine Störung ist das erst mal nicht. Im Gegenteil. Eine abwartende, verschämte, tastende, stille Haltung zur Welt gehört nicht nur zum normalen Repertoire menschlicher Temperamente, es gibt sogar so etwas wie eine Kraft der Unsicherheit – sie kann in vielen Situationen auch sinnvoll und vorteilhaft sein. Sozial ängstliche Menschen bringen auch immer besondere Stärken mit, sind beispielsweise häufig besonders einfühlsam und sensibel im Umgang mit anderen.

Doch beliebt sind soziale Unsicherheiten verständlicherweise erst einmal nicht. Es ist schließlich kein angenehmes Gefühl, sich vor anderen gehemmt zu fühlen, darüber nachzudenken, was all die Leute wohl von einem denken oder welchen Satz man als Nächstes sagen könnte. Oft schlagen sich solche Zitterpartien auch körperlich nieder und sind mit »Blood, Sweat and Tears« verbunden. Und wer im Kontakt mit anderen Menschen regelrecht Panik bekommt – obwohl rational eigentlich klar ist, dass kein Grund dazu besteht –, fühlt sich ausgeliefert, bedroht und ohnmächtig. Wenn wir uns beim Betriebsausflug oder Klassentreffen so fühlen, als würden wir gerade auf einem Hochseil zwischen zwei Berggipfeln balancieren und könnten jeden Moment fallen, halten wir die Idee, die Unsicherheit als etwas Normales anzusehen oder ihr sogar noch etwas Gutes abzugewinnen, für einen blanken Hohn.

Und auch wenn alle Menschen sich gelegentlich mal unsicher fühlen, gibt es in den Angststärken und beim empfundenen Leid selbstredend Unterschiede: Mindestens zwei Prozent der Menschen fühlen sich durch soziale Unsicherheit und Angst vor der Bewertung anderer sehr eingeschränkt,1 vermeiden zahlreiche soziale Situationen häufig so konsequent, dass sie sich privat oder beruflich oft selbst im Weg stehen, nicht auf ihre Wünsche und Träume zugehen können. Manche ziehen sich auch komplett zurück, igeln sich ein und verlassen kaum noch das Haus. Eine so starke Belastung wird als »Soziale Phobie« bezeichnet, eine klinisch relevante Angst vor anderen, die im Diagnosemanual klinischer Psychologen beschrieben ist als »deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten« und die manchmal auch primär aus der oben beschriebenen Vermeidung besteht.2 Hier ist häufig eine psychotherapeutische Behandlung hilfreich und angeraten.

Darüber hinaus gibt es laut Studien sehr viele Menschen, die sich selbst als schüchtern oder gelegentlich sozial unsicher beschreiben, die in einigen Situationen sehr leiden, sich in anderen Momenten aber auch angstfrei bewegen. Diese Art leichte, man könnte auch sagen subklinische soziale Unsicherheit ist je nach Kulturkreis unterschiedlich weit verbreitet und liegt in Deutschland und den USA bei etwa 40 Prozent der Bevölkerung, in einigen Ländern des afrikanischen Kontinents liegt sie etwas niedriger, im asiatischen Raum etwas höher.3 Auch bei diesen Menschen ist die Unsicherheit ein Lebensbegleiter – man navigiert trotzdem halbwegs eigenständig durch die Welt des Arbeitens, Lebens und Liebens. Mehrere aus der Geburtstagsgesellschaft würden sich in dieser Beschreibung wiederfinden, sich als betreten oder wenig selbstbewusst im Umgang mit anderen beschreiben. Wie normal es ist, gelegentlich soziale Ängste zu haben, wird besonders deutlich, wenn man den Schwierigkeitsgrad steigert und sich eher herausfordernde soziale Situationen ansieht: Wie wäre es zum Beispiel, bei einer Familienfeier eine Rede zu halten oder vor einer Gruppe von Kolleg:innen eine Präsentation vorzutragen? Zum Reden vor Gruppen gibt es unterschiedliche Untersuchungen. Je nach Studie geben bis zu 75 Prozent der Menschen an, davor Angst zu haben:4 so viele Augen, so viele Fehlerquellen, so viele Fettnäpfchen. Sie selbst bekommen bei der bloßen Vorstellung ein mulmiges Gefühl? Eben, genau darum geht es. Eine gewisse soziale Angst ist für jeden Menschen spürbar. Nur das Ausmaß ist unterschiedlich. Und die Schwelle, ab wann man eine Situation als Herausforderung ansieht. Ob Sie sich mit den eigenen Hemmungen und sozialen Unsicherheiten weiter beschäftigen wollen, hat also bis zu einer bestimmten Ausprägung vor allem mit dem eigenen Bauchgefühl zu tun. Es wird Ihnen sagen, ob soziale Ängste für Sie gerade ein Thema sind oder nicht. Und ob Ihnen die Komfortzone, in der Sie sich mit anderen sicher fühlen, im Augenblick groß genug ist oder ob die Unsicherheit Ihr Leben immer mehr schrumpfen lässt.

Der Schluss aus den Statistiken ist jedenfalls nicht, die Hälfte der Menschheit als ängstliche, unsichere Problemfälle abzustempeln. Auch hier kann man es genau umgekehrt betrachten: Der Blick auf die Zahlen zeigt, dass ein bestimmtes Maß an sozialer Angst für viele Menschen zum Leben gehört. Und zwar, obwohl man weiß, dass es rational nicht nötig wäre, sich irgendwie zu ängstigen oder zu kontrollieren. Das bedeutet aber auch: Obwohl uns Betretenheit, Zweifel, Schamgefühle und Unsicherheiten gelegentlich hemmen und quälen, macht es keinen Sinn, diese Emotionen zu verteufeln, abzuwerten oder um jeden Preis loswerden zu wollen. Psychologen verschiedener therapeutischer Schulen sind sich heute einig, dass es im Umgang mit Gehemmtheit und sozialer Unsicherheit ein erster wichtiger Schritt ist, das Gefühl von Angst nicht mehr zu bekämpfen – sondern wahrzunehmen, einordnen zu können und zu akzeptieren. Der Psychotherapeut Matthias Wengenroth, Vertreter der Akzeptanz- und Commitment-Therapie und Autor mehrerer Fachbücher zum Thema, schlägt beispielsweise sowohl bei alltäglichen als auch bei klinischen Ängsten vor, eine neue Grundhaltung auszuprobieren: »Es hilft, sich klarzumachen, dass es nicht peinlich, gefährlich, unerträglich oder schlimm ist, Angst zu haben – es ist...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
ISBN-10 3-407-86810-3 / 3407868103
ISBN-13 978-3-407-86810-7 / 9783407868107
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