Das Altersheim kann warten (eBook)
224 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-32007-2 (ISBN)
(Nina Ruge)
Die meisten Menschen möchten auch den letzten Lebensabschnitt so lange wie möglich selbstbestimmt, am besten zuhause in den eigenen vier Wänden verbringen. Doch mit zunehmendem Alter benötigen Viele Pflege und ein Maß an Unterstützung, das oft aus diversen Gründen vom Umfeld nicht geleistet werden kann. Ergänzende Angebote durch technische Hilfsmittel können eine bedarfsgerechte Lösung ermöglichen, die die individuellen Bedürfnisse ebenso berücksichtigt wie für Komfort, Sicherheit und Teilhabe sorgt. Welche Technologien es heute schon gibt, was sie bereits können und was in Zukunft möglich sein wird, darüber berichtet dieses Buch kurzweilig und gut verständlich. Es zeigt die Chancen und Grenzen der Technik auf und verrät, wie der Alltag mit digitalen Assistenten, e-Health und Robotik aussehen kann. Dabei informiert es auch umfassend darüber, was man selbst tun kann bzw. wie man sich auf eventuelle Herausforderungen digital und technisch vorbereitet, um auch im hohen Alter autonom und zufrieden leben zu können.
Die Unternehmerin Dr. Bettina Horster hat in Deutschland und den USA Informatik studiert. Nach Stationen bei internationalen Unternehmensberatungen und in der Telekommunikation gründete sie 1996 ihr eigenes Unternehmen, die VIVAI AG. Als Pionierin für Digitale Assistenzsysteme für Menschen mit Einschränkungen arbeitet sie seit 2016 daran, die Lebensqualität von Seniorinnen und Senioren zu verbessern. Mit ihrem Produkt VIVAIcare hat Dr. Horster bereits viele Preise und Auszeichnungen gewonnen, u.a. durch die EU-Kommission, UNNGOs Diplomatic Council und die deutsche Standortinitiative »Ort im Land der Ideen«. Für den Preis der Vereinten Nationen war sie in der Endrunde. Die Hongkonger Sozialbehörde hat VIVAICare mehrfach als eines der weltbesten Assistenzsysteme für Seniorinnen und Senioren benannt.
Kapitel 2
FAMILIÄRE UND GESELLSCHAFTLICHE TRENDS BEI DER PFLEGE ÄLTERER MENSCHEN
Bisher haben wir viel über Diskriminierung und eine gesellschaftlich sowie individuell negative Sicht auf das Alter geredet. Unsere Kernaussage bis hierhin lautet: Ältere Menschen gehören dazu und sind mehr als nur alt!
Doch was ist, wenn gesellschaftliche Teilhabe schwieriger wird, weil zusätzlich zum Alter einschränkende Erkrankungen hinzukommen? Je nach Schwere und Anzahl von Krankheiten (deren Entstehung leider mit höherem Alter an Wahrscheinlichkeit zunimmt) wird es schwieriger und mühseliger, am Leben teilzunehmen. Der Aktivitätsradius reduziert sich immer mehr auf die eigene Wohnung. Vielleicht kann man nicht mehr so gut mithalten wie früher, hat Schmerzen und so weiter. Im Zweifel braucht man irgendwann Hilfe, um in den eigenen vier Wänden bleiben zu können. Doch wie sieht diese Hilfe konkret aus? Was stellen sich jüngere Menschen heute darunter vor, wie ihre Pflege irgendwann sein sollte? In Gesprächen hört man oft: »Meine Kinder können sich ja irgendwann um mich kümmern.« Ob das nun ernst gemeint oder nur so dahingesagt ist? Was ist mit Leuten ohne Kinder? Selbst schuld? Ganz so leicht geht diese Rechnung hierzulande nicht mehr auf.
Zum einen ist es so, dass Kinder gar nicht mehr unbedingt in unmittelbarer Reichweite zu ihren Eltern wohnen. Distance Caregiving, Pflege aus der Ferne, ist hier das Stichwort, wenn der Nachwuchs viele Kilometer weit weg wohnt und nicht mal eben jeden Abend nach der Arbeit nach dem Rechten sehen kann.18 Dies wird nur mithilfe von Technologien funktionieren können, auf die wir noch ausführlich zu sprechen kommen. Des Weiteren möchten Eltern ihren Kindern in den meisten Fällen auch gar nicht zur Last fallen, wenn die Pflegebedürftigkeit tatsächlich ein Thema wird. Pflegebedürftige Angehörige wissen, dass es viele Opfer – privat wie auch beruflich – fordert, wenn Kinder einen Teil der Pflege ihrer Eltern übernehmen. Oft möchten Letztere das gern vermeiden.
Ein prominentes Beispiel ist die Topmanagerin Vera Schneevoigt, die ihren hochdotierten Job aufgab, um sich um ihre Eltern zu kümmern. Am Presseecho konnte man ablesen, wie außergewöhnlich dieser Schritt war, der allein aus finanzieller Sicht für den Großteil der Bevölkerung nicht umsetzbar ist. Doch nehmen wir mal an, dass es eine beruflich sehr flexible Situation theoretisch ermöglichen würde, die Pflege der Eltern weitestgehend selbst zu übernehmen. Dann ergäbe sich immer noch das Problem, dass sich die eigene Familienplanung (sofern sie denn gewünscht ist) mit der Pflegebedürftigkeit der Eltern überschneiden könnte. Denn in vielen westlichen Kulturen bekommen Paare immer später ihr erstes Kind – Mütter mittlerweile im Durchschnitt mit 30,2 und Väter mit 33,2 Jahren.19 Das hat zur Folge, dass wiederum die Großeltern in der Kleinkindphase ihrer Enkel deutlich älter sind. Es entsteht schnell eine Doppelbelastung aus der Betreuung des Nachwuchses und der betagten Eltern, die kaum zu stemmen ist, von einem Minimum an Karriere und Privatleben gar nicht erst zu reden.
Derzeit sind es häufig ambulante Pflegedienste, die je nach Pflegebedarf mehr oder weniger Aufgaben bei der Pflege übernehmen und direkt nach Hause zu den Seniorinnen und Senioren kommen. Eine weitere Möglichkeit besteht in den schon erwähnten Seniorenheimen oder im Servicewohnen (auch betreutes Wohnen) beziehungsweise in Senioren-WGs, wenn eine eigenständige Lebensführung zu Hause nicht mehr möglich ist. Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen diesen Wohnformen. Beim Servicewohnen schließen die Seniorinnen und Senioren selbst einen Mietvertrag ab und können benötigte Services, sprich Unterstützungsangebote, dazubuchen. Die Betonung liegt hier auf »können«, da nichts vorgeschrieben wird. Es herrscht immer noch eine autonome und unabhängige Lebensführung, die durch einzelne unterstützende Dienstleistungen erleichtert wird. Ähnlich ist es in Senioren-WGs, in denen mehrere ältere Personen gemeinsam in einer Wohnung leben.
Anders ist es bei den Seniorenheimen. Hier wird aus Gründen der Praktikabilität (zum Beispiel Anpassung an den Schichtplan des Pflegepersonals, Einfachheit) viel vorgeschrieben. Mahlzeiten gibt es nur zu bestimmten Zeiten, und nachts soll doch bitte geschlafen werden. Letzteres ist für Personen, die von nächtlicher Unruhe geplagt sind oder Schlafstörungen haben, gar nicht so einfach. Folge ist ein Verlust an Autonomie und Privatsphäre, der vielen Bewohnerinnen und Bewohnern zu schaffen macht.
Oft wird ein Einzug in das Seniorenheim verweigert, bis es für alle Beteiligten wirklich nicht mehr anders geht. Genau dies verdeutlichen auch Zahlen, die zeigen, dass die Verweildauer in Seniorenheimen sehr kurz ist. Zahlen aus dem Jahr 2014 belegen, dass Personen 27,1 Monate (Frauen im Durchschnitt 31,6 Monate und Männer 17,9 Monate) in Seniorenheimen bleiben.20 Diese Angaben sind nicht mehr ganz aktuell, aber neuere Zahlen deuten darauf hin, dass sich die Verweildauer bis Anfang/Mitte der Zwanzigerjahre auf etwa 24 Monate (Durchschnitt für alle Bewohnerinnen und Bewohner) verkürzt hat.21
Zudem ist das Wohnen in Seniorenheimen für die meisten Bewohnerinnen und Bewohner nicht aus eigener Kraft zu finanzieren. Es werden Sozialleistungen benötigt, wodurch das übrig bleibende »Taschengeld« (meist 50 bis 100 Euro monatlich), das noch frei zur Verfügung steht, nicht ausreicht, um individuellen Wünschen nachzugehen.
Fassen wir also zusammen: Der Generationenvertrag gilt aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr, Seniorenheime sind teuer, für die meisten wenig attraktiv, und für andere Betreuungsmöglichkeiten fehlen ebenfalls Fachkräfte, das nötige Geld oder beides. Kann es dafür eine Lösung geben?
DER DEMOGRAFISCHE WANDEL: PYRAMIDE UND TANNENBAUM
Selbstverständlich haben Sie erkannt, dass die Frage nach einer Lösung eher rhetorisch ist, denn wir würden dieses Buch nicht schreiben, wenn wir hierzu keine Vorschläge hätten. Aber bevor wir dazu kommen, müssen wir noch über den demografischen Wandel sprechen, der uns die Probleme, die wir ohnehin schon haben, nicht gerade einfacher machen wird.
Der demografische Wandel kann als Ausgangspunkt des Gesamtproblems gesehen werden und ist ein zentraler Grund, warum wir ohne Technik – sehr dramatisch gesprochen – den Abgrund hinunterkrachen oder mit voller Wucht gegen die Wand fahren würden. Suchen Sie sich gern eine Formulierung aus. Mit Technologien haben wir jedoch die Möglichkeit, eine Brücke zu bauen oder rechtzeitig die Bremse zu ziehen. Wir müssen selbst aktiv werden und können nicht hoffen, dass sich die Brücke von allein baut, der Abgrund hoffentlich nicht allzu tief oder die Wand vielleicht doch nur aus Schaumstoff ist.
Zur Veranschaulichung des demografischen Wandels wird häufig das Bild von der Pyramide und dem Tannenbaum verwendet, um die Form der Bevölkerungspyramide zu beschreiben. Die Bevölkerungspyramide ist ein Diagramm, das die Altersstruktur einer Bevölkerung darstellt und zeigt, wie viele Menschen in verschiedenen Altersgruppen leben.
Schaut man sich Abbildungen bereits aus dem Jahr 1990 an, ist schon keine Pyramide mehr zu erkennen. Dazu bräuchte es eine breite Basis und eine schmalere Spitze. Eine solche Form tritt auf, wenn es eine hohe Geburtenrate und eine hohe Sterblichkeitsrate in frühen Lebensjahren gibt und eine niedrigere Sterblichkeitsrate in späteren Lebensjahren. In einer solchen Bevölkerungsstruktur gibt es viele junge Menschen und vergleichsweise wenige ältere Menschen. Ein Tannenbaum hat ebenfalls eine breite Basis, aber eine breitere Mitte und eine breitere Spitze. Eine solche Form tritt auf, wenn die Geburtenrate sinkt und die Lebenserwartung steigt. In einer derartigen Bevölkerungsstruktur gibt es viele ältere und mittelalte Menschen, aber wenige in einem jungen Alter.
Die Pyramidenform ist typisch für Länder mit hoher Geburtenrate und geringer Lebenserwartung, während der Tannenbaumtyp für Länder mit niedriger Geburtenrate und hoher Lebenserwartung charakteristisch ist. Neben vielen anderen Ländern fällt Deutschland seit Längerem in die Rubrik Tannenbaum. Generell wird der demografische Wandel die Pflegesituation in Deutschland besonders angespannt werden lassen. Wieso das so ist, schauen wir uns kurz anhand zentraler Zahlen an, die vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht wurden.22
Während die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland für Frauen um 1900 noch bei knapp fünfzig Jahren lag, liegt sie für das Jahr 2020 bei über achtzig Jahren. Die Werte für den männlichen Teil der Bevölkerung liegen übrigens durchgehend ein paar Jahre unter dem des weiblichen. Die genauen Gründe dafür sind nicht hundertprozentig geklärt, es wird jedoch angenommen, dass unter anderem Faktoren wie ein gesunder Lebensstil einen Einfluss haben. Die Sterberate in jungen Jahren ist mittlerweile bekanntlich sehr niedrig, was zur Folge hat, dass mehr Menschen als früher mit großer Wahrscheinlichkeit ein hohes Alter erreichen, während gleichzeitig weniger Kinder geboren werden. Der sogenannte Altersquotient drückt das Verhältnis von Personen im Rentenalter zu Personen im erwerbsfähigen Alter aus (immer bezogen auf hundert Personen). Anfang der Zwanzigerjahre lag dieser bei 37; das heißt, auf hundert Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kamen 37 Seniorinnen und...
Erscheint lt. Verlag | 2.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | 2024 • Alexa • Altern • Altern Gesundheit • altersgerecht leben • alt werden ist ein vergnügen, wenn sie es richtig anstellen • ambulante Pflegekräfte • Autonomie • Demenz • Digitale Assistenten • Digitalisierung • distance caregiving • dr. jürgen bludau • eBooks • E-Health • Elke Heidenreich • individuelles Lebensglück • intelligente Assistenzsysteme • KI • Lebensfreude • Neuerscheinung • Partizipation • Pflege • Pflegebedarf • Pflegekräfte • Pflegeroboter • Psychologie • Roboter • Sehschwäche • selbstbestimmt alt werden • Technische Hilfsmittel • Teilhabe • unterstützung im alter |
ISBN-10 | 3-641-32007-0 / 3641320070 |
ISBN-13 | 978-3-641-32007-2 / 9783641320072 |
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