Der Schmerz verlassener Eltern (eBook)
Anders als in ihrem Buch »Kontaktabbruch in Familien« nimmt die Autorin hier die Perspektive der verlassenen Eltern ein und eröffnet neue und entlastende Sichtweisen auf die eigene Biografie, die Familiendynamiken sowie auf die Beziehung zum erwachsenen Kind.
Bricht ein erwachsenes Kind den Kontakt ab, fühlt es sich für die vielen betroffenen Eltern wie ein Beben an. Fassungslos versuchen sie zu verstehen, was geschehen ist. Das Zerwürfnis hinterlässt eine tiefe Scham, ein Gefühl von Schuld und den Drang nach Rechtfertigung. Die erfahrene und auf dieses Thema spezialisierte Therapeutin Claudia Haarmann steigt tief in Familiengeschichten ein, um die Ursachen von Kontaktabbrüchen zu beleuchten. Durch Fallgeschichten und Experteninterviews erklärt sie einfühlsam und anschaulich, warum der Bruch nicht plötzlich kommt und welche Rolle gesellschaftliche Aspekte sowie die Bindungserfahrungen der Elterngenerationen bei Familienkonflikten spielen.
Claudia Haarmann, geboren 1951, arbeitete lange als freie Journalistin und ist heute Heilpraktikerin für Psychotherapie. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind die Bindungs- und Beziehungsdynamiken in Familien und deren Auswirkungen im Erwachsenenalter. Sie berät heute Eltern und erwachsene Töchter und Söhne, die sich mit familiären Kontaktabbrüchen auseinandersetzen. Ihre Bücher »Mütter sind eben Mütter« und »Kontaktabbruch in Familien« sind erfolgreiche Longseller.
Einleitung
Die glückliche Familie ist wie ein Phantom, nach dem man sucht. Nichts wünschen wir uns mehr als ihren Zusammenhalt und ein freundliches, liebevolles Miteinander, eine Familie als einen Ort, der Sicherheit gibt. Das ist eine menschliche Sehnsucht, und dieser Wunsch wird angesichts der Katastrophen um uns herum noch verstärkt. Die Realität ist anders. Familie steht oftmals für Konflikt, es wird geschimpft, beklagt, geschwiegen und geweint und sogar das Miteinander aufgekündigt.
Vom eigenen Kind verlassen! Nie hätte man sich das ausmalen können. Wohin mit all dem Schmerz, mit all den unbeantworteten Fragen? Für Sie, als Mutter oder Vater, die das betrifft, ist dieses Buch geschrieben.
Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich bei dieser Kündigung von Töchtern und Söhnen nicht um Familien, in denen erschreckende Zustände vorherrschen. Kontaktabbrüche treffen Menschen »wie du und ich«, Familien »wie deine und meine«. So ein heftiger Konflikt trifft Freunde und Verwandte, Nachbarn und Bekannte, er findet sich überall.
Es gibt natürlich Familien, in denen Missbrauch, Gewalt, massive Vernachlässigung und Entwürdigungen zum Alltag gehören, Atmosphären und Situationen, bei denen es den erwachsenen Kindern angeraten ist, die Familie zu verlassen. Über diese Familien schreibe ich nicht. Das ist ein eigener Bereich. Ein Kind, das im Elternhaus bedroht worden ist und sich weiterhin bedroht fühlt, muss diese Zäsur machen. Um schwerwiegende psychische Erkrankungen in einer Familie kann es an dieser Stelle auch nicht gehen.
Ich schreibe vielmehr über die Fälle, bei denen junge Erwachsene das Gefühl haben: Ich leide unter einem emotionalen Mangel, bekomme nicht das, was ich brauche, oder ich bekomme von etwas zu viel, was ich gar nicht möchte. Man würde sich wundern, wie »normal«, im Sinne von bekannt, es in den betroffenen Familien zugeht. Die Kommunikation spielt dabei eine große Rolle, sie ist oft schwierig, es gibt viel Unausgesprochenes und meist läuft sie schon lange auf kleiner Flamme und verebbt dann ganz. Und das ist, wie Sie sehen werden, keine vereinzelte Problematik, sondern eine Wahrheit, die einen erstaunlich großen Teil der Gesellschaft betrifft.
Seit dem Erscheinen meines Buches über Mütter und Töchter im Jahr 2008 werde ich mit Anfragen, mit Briefen, die von Familienzerwürfnissen berichten, überflutet; es sind verzweifelte und traurige Berichte, aber auch wütende. Seit dieser Zeit berate ich fast ausschließlich Eltern aus allen gesellschaftlichen Schichten und erwachsene Kinder, die sich mitten in diesen Konflikten befinden. Diese erwachsenen Kinder melden sich, weil auch für sie das Ganze überaus schmerzhaft und problematisch ist, aber die Gespräche mit den Eltern sind in ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit bedrückend. Hunderte an Gesprächsnotizen aus meinen Beratungen sind die Grundlage dieses Buches.
In erster Linie sind es Frauen, also betroffene Mütter und Töchter, die sich an mich wenden. Männer melden sich selten, anteilig sind es etwa 10 Prozent, die bei mir Unterstützung suchen. Vor allem den älteren Männern fällt es immer noch sehr schwer, über sich oder über emotionale Themen zu sprechen. Eine Tatsache, die natürlich einen Einfluss auf dieses Buch hat, es wird häufiger um Berichte von Frauen gehen.
Erstaunlich ist, dass es keine wissenschaftlichen Studien, wenig Literatur gibt, die die Hintergründe der Kontaktabbrüche untersuchen, vor allem nicht, was das Erleben der verlassenen Eltern betrifft. Und so habe ich mit diesem Buch versucht, meine Erfahrung, meine Gedanken und Erkenntnisse zu bündeln, um die Ursachen des Zwistes zu ergründen. Geleitet wurde ich dabei von dem Satz, der mich seit Langem begleitet und den Moshé Feldenkrais formuliert hat: »Bewusstsein gibt uns die Freiheit, eine Wahl zu treffen.« Meine Überzeugung ist: Wenn man ein Handwerkszeug hat, mit dem man die Familiendynamik aus einem gewissen Abstand sehen kann, wenn ein Erkennen der Hintergründe möglich ist, wenn das ganze Familienbild deutlich wird, dann erst entsteht eine Idee, warum dieser Schmerz die eigene Familie trifft. Erst damit taucht die Möglichkeit auf, etwas zu verändern. Die vielen ungelösten Fragen erfahren Antworten, das Gedankenkarussell hört auf, sich zu drehen.
Eine Information ist mir bei alldem wichtig. Das erwachsene Kind, das einem den Rücken zukehrt, wird nicht mehr zu verändern sein. Eine Änderung der Einstellung und des Verhaltens kann erst einmal nur bei den betroffenen Eltern selbst beginnen. Jeder Blick auf sich selbst, jedes Erforschen des eigenen Anteils, jede Erkenntnis über die Familiendynamiken verändert die Perspektive auf den Konflikt. Das ist aus meiner Erfahrung die realistische und gangbare Möglichkeit, die die verschlossene Tür zwischen den Generationen wieder öffnen kann. Dieses Buch zeigt, dass das kein Wunsch ist, sondern der Weg dahin.
Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch Ihnen dabei hilft, mit dem Schrecken und dem Schmerz besser umgehen zu können, dass die Familiendynamik deutlicher wird. Und vielleicht kann das, was Sie als Ursache irgendwie schon ahnten oder wussten, mehr an die Oberfläche kommen. So, als würde ein Vorhang zur Seite gezogen, und man kann jetzt das ganze Bild, das vorher verschwommen war, genauer sehen. Dazu gehört auch zu erkennen, dass die gute Beziehung zwischen Eltern und Kind gelernt und selbst erlebt sein will, bevor sie weitergegeben werden kann. Eine nach heutigem Kenntnisstand stimmige Bindung hätte Vorbilder gebraucht. Und so kann die Frage nur heißen, was hat die Beziehungsfähigkeit der Elterngenerationen beeinflusst, dass dieses erhoffte Glück so brüchig ist? Dieser Frage werde ich in diesem Buch nachgehen. Vielleicht tut es aber auch gut, von anderen Betroffenen zu hören und Parallelen zu entdecken. Denn eines ist sicher, Sie sind mit dem Thema nicht allein. Mehr und mehr Familien sind davon betroffen.
Nicht alle Fragen können hier beantwortet werden. Dazu gehört das sehr kontrovers diskutierte Thema: Sind die erwachsenen Kinder ihren Eltern etwas schuldig? In der Bedeutung des Wortes »schuldig« steckt so etwas wie »haftbar sein« oder »Schulden einlösen« müssen. Ich glaube, ob und was man den Eltern zurückgeben möchte, ist sehr persönlich. Jede Tochter, jeder Sohn wird für sich entscheiden müssen, was sie, er als angemessen empfindet. Dankbarkeit ist nichts, was man einfordern könnte. Dankbarkeit ist eine Resonanz auf das, was man bekommen hat. Das kann auch das Lebensgeschenk sein.
Manchmal beschäftigt erwachsene Kinder, die über viele Jahre keinerlei Kontakt zu ihren Eltern hatten, diese Frage sogar. Denn mit dem Gedanken, dass Kinder den Eltern etwas schuldig sind, ist man groß geworden, und lange Zeit galt er als gesellschaftliche und christliche Norm. Für mich ist es keine Frage, auf die es eine grundsätzliche Antwort geben kann, sondern jedes Kind, gleich welcher Generation, wird sie für sich lösen müssen.
Ein anderes Thema, das nicht behandelt werden kann, sind Kontaktabbrüche als Folge von Trennung der Eltern. Dann, wenn Kinder oder Jugendliche sich für einen Elternteil entscheiden müssen oder sollen. Ich höre Fälle, wo Minderjährige gegen den Vater oder die Mutter manipuliert werden. Mit dem Kampf der Eltern entsteht ein Klima von der »gute Papa und die böse Mama« oder die »gute Mama und der böse Papa«. Die Entfremdung des Kindes ist für den verlassenen Elternteil katastrophal, aber der Konflikt geht in erster Linie die Eltern an, es ist nicht die ursprüngliche Entscheidung der Kinder.
Ich schreibe ausschließlich über Familienkonstellationen, bei denen sich die erwachsenen Kinder aus emotionalen und psychischen Beweggründen von ihren Eltern distanzieren. Mir ist bewusst, und das möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass sich aktuell junge Erwachsene von ihren Eltern zurückziehen, weil sie die Elterngenerationen für den Zustand der Welt verantwortlich machen. Sie haben berechtigte Zukunftsängste, was die klimatischen und ihre persönlichen wirtschaftlichen Lebensbedingungen betrifft. Themen, denen wir Eltern uns sicherlich auch stellen müssen.
Wenn ich hier in diesem Buch von Eltern spreche, dann betrifft das eine große Altersspanne. Frauen und Männer ungefähr zwischen fünfzig und über neunzig Jahre sind die Zielgruppe, entsprechend ist das Alter ihrer Kinder. Es geht also um mindestens zwei Elterngenerationen. Ich beschreibe persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen, die auf die Menschen und ihre Beziehungen Einfluss haben. Es erhebt keinen Anspruch darauf, ein vollständiges Generationenbild zu sein, meine Erkenntnisse basieren auf meinen Daten und Beobachtungen im Abgleich mit der aktuellen Literatur. Die Erfahrungen und Lebensumstände dieser Altersgruppen sind, wie wir sehen werden, fließend. Was für den einen noch gilt, ist für den anderen schon nicht mehr relevant. Also nehmen Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, das, wo Sie sich wiedererkennen. Und so sind Begriffe wie die »Jungen« in Abgrenzung zu den »Alten« und »Älteren« als dynamisch zu verstehen.
Eine junge Probeleserin hat mich nach der Lektüre der ersten Kapitel erstaunt gefragt: »Ja, sollen jetzt die Eltern die Armen sein?« Ja, genau. Es ist an der Zeit, dass anerkannt wird, was die Elterngenerationen im Gepäck haben. Zu dem Vorgängerbuch Kontaktabbruch in Familien, bei dem es im Wesentlichen um die Perspektive der Kinder geht, stellen Töchter und Söhne oft die Frage: »Könnte ich das Buch wohl meinen Eltern schenken? Meinen Sie, meine Eltern würden mich dann besser verstehen?« Die Frage beantworte ich mit einem klaren »Ja«. Wenn mich jetzt Eltern fragen sollten, ob sie...
Erscheint lt. Verlag | 6.11.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | 2024 • Beziehung • Beziehungsratgeber • Bindung • das war’s • der sturm vor der stille • Dorothee Döring • eBooks • Eltern-Kind-Beziehung • Entfremdung • Familiengeschichte • Familienprobleme • Familienstreit • Familientherapie • Funkstille • Gesundheit • Inneres Kind • Kindheitserfahrungen • Kontaktabbruch • kontaktabbruch in familien • mütter sind eben mütter • Mutter Sohn Beziehung • Mutter Tochter Beziehung • Neuerscheinung • Psychologie • Ratgeber • Sprachlosigkeit • Tina Soliman • transgenerational • Trauma • unglückliche Kindheit • Verhältnis zwischen erwachsenen Kindern und Eltern • verlassene Eltern |
ISBN-10 | 3-641-31671-5 / 3641316715 |
ISBN-13 | 978-3-641-31671-6 / 9783641316716 |
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