Rén (eBook)
191 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-32264-9 (ISBN)
Yen Ooi ist Autorin und Forscherin, deren Werke sich mit kulturellem Geschichtenerzählen und seinen Auswirkungen auf die Identität befassen. Derzeit arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit an der Royal Holloway University of London und ist auf die Entwicklung chinesischer Science-Fiction spezialisiert.
KONTEMPLATIVE MEDITATION: Diese Art der Meditation wird auch als »Achtsamkeitsmeditation« bezeichnet. Man praktiziert sie normalerweise gleich morgens nach dem Aufstehen, am Ende des Tages oder wann immer man tagsüber eine Möglichkeit hat, innerlich zur Ruhe zu kommen – zum Beispiel während der Fahrt zur Arbeit oder in der Mittagspause. Kontemplative Meditation hilft uns, den Geist zu klären. Dafür gibt es verschiedene Vorgehensweisen – man kann sich zum Beispiel Audioguides mit gesprochenen Meditationsanleitungen anhören, sich auf eine Kerzenflamme konzentrieren oder in völliger Dunkelheit dasitzen oder -liegen –, und oft geht es dabei um die Konzentration auf unsere Atmung oder unsere Gedanken. Bei dieser Meditationspraxis nimmt man alle Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, zur Kenntnis und lässt sie anschließend wieder los, um seinen Kopf frei zu bekommen und einen Augenblick innerer Ruhe und Klarheit zu erleben.
INTEGRIERTE MEDITATION: Diese Bezeichnung verwende ich als Oberbegriff für Meditationen, die man jederzeit praktizieren kann – auch während irgendeiner anderen Aktivität oder Handlung. Dabei stellen wir uns vor, dass wir über unserem Körper schweben und auf ihn herabschauen, während wir unserer jeweiligen Aktivität nachgehen – also gewissermaßen ein simuliertes Out-of-body-Erlebnis, bei dem wir uns selbst von oben bei dem beobachten, was wir gerade tun: gehen, reden, trinken, stehen bleiben, lächeln usw. Dieses Gefühl des Getrenntseins vom eigenen Körper fungiert als eine Art Puffer, der es uns ermöglicht, uns selbst wertfrei und objektiv zuzuschauen: Wir beobachten einfach alles, was wir tun, nehmen es zur Kenntnis und gehen dann wieder zur Tagesordnung über.
Dadurch, dass ich beide Meditationsarten praktiziere, fiel es mir mit der Zeit immer leichter, genau auf meine Sinneswahrnehmungen und mein Handeln zu achten – vor allem in schwierigeren Situationen. Außerdem begann ich, meine Reaktionen und mein Verhalten besser zu verstehen.
AKTIVITÄT
ACHTSAMKEITSÜBUNG
Experimentieren Sie einmal mit verschiedenen Achtsamkeitspraktiken, die Ihnen Ihrer Meinung nach dabei helfen könnten, sich intensiver auf Ihre eigenen Handlungen und Reaktionen zu konzentrieren. Sobald Sie eine Achtsamkeitsübung entdeckt haben, die Ihnen zusagt, praktizieren Sie sie regelmäßig. Wenn es bereits eine Achtsamkeitsübung gibt, die Sie regelmäßig machen, dann ändern Sie nichts an dieser Praxis, probieren die unten beschriebene Übung aber trotzdem aus, denn durch eine kleine Abwechslung bei den Achtsamkeitspraktiken könnten Sie neue Erkenntnisse über sich selbst gewinnen. Wenn Sie möchten, können Sie sich im Anschluss an die Kontemplationspraxis ein paar Notizen machen. Und nun denken Sie einmal über die Ereignisse der letzten Tage nach und setzen dabei jedes Mal einen etwas anderen Schwerpunkt. Hier ein paar Denkanstöße dazu:
- Wie aufmerksam haben Sie Ihre Umgebung oder die Menschen um sich herum wahrgenommen?
- Wie gut ist es Ihnen bei einem Gespräch gelungen, auf Details zu achten?
- Wie viele Gedanken haben Sie sich beim Essen über den Geschmack und den Geruch der Speisen gemacht?
- Haben Sie irgendetwas erlebt, das Sie an eine Begebenheit von früher erinnerte? Was war das für ein Erlebnis?
- Haben Sie im Verlauf des Tages auch auf Ihren Gesichtsausdruck und Ihre Körperhaltung geachtet?
Sobald Sie sich an diese Form von Achtsamkeit gewöhnt haben, wird es Ihnen leichter fallen, sich an Ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu erinnern und sich Notizen darüber zu machen. Dann können Sie versuchen, mehr solche Augenblicke der Reflexion in Ihren Tagesablauf einzubauen – vielleicht mithilfe der oben beschriebenen integrierten Meditationspraxis.
Hören Sie ab und zu in sich hinein, um festzustellen, wie Ihre persönliche Achtsamkeitspraxis sich inzwischen weiterentwickelt hat, und denken Sie darüber nach, ob Ihr Leben (und Ihr Umgang damit) sich dadurch verändert hat. Vielleicht stellen Sie ja fest, dass Sie dadurch übermäßig achtsam geworden sind und immer erst alles hinterfragen, bevor Sie handeln; oder Sie empfinden Ihre Achtsamkeitspraxis mittlerweile als ganz natürlichen, nahtlosen Bestandteil Ihres täglichen Lebens, sind sich aber noch nicht sicher, was sie Ihnen eigentlich bringt. Egal zu welchen Schlussfolgerungen Sie bei Ihren Überlegungen kommen – denken Sie daran, dass diese Reise Zeit braucht und dass diese Übung lediglich dazu dient, sich selbst dabei zu beobachten. Gehen Sie sanft und liebevoll mit sich um.
Isolation und Selbstkritik
» Wer wirklich gerne lernt, der überlegt sich jeden Tag, was er noch nicht richtig verstanden hat, und geht jeden Monat das ganze Wissen, das er erworben hat, noch einmal durch, um nichts davon zu vergessen.
GESPRÄCHE, 19:5
Ein schneller Weg zur Selbsterforschung führt über die Isolation. Die meisten Achtsamkeitspraktiken erfordern ohnehin ein Umfeld, in dem man ganz allein ist, weil einem die Selbstreflexion dann leichter fällt. Wenn wir längere Zeit allein und ungestört sind, schweifen unsere Gedanken dabei unwillkürlich umher – und das gibt uns automatisch Gelegenheit zur Selbstreflexion. Wenn wir verantwortungsbewusst mit diesem Prozess umgehen, können wir daraus eine Achtsamkeitspraxis entwickeln. Doch solche Augenblicke der zufälligen Achtsamkeit, die vielleicht durch erzwungene Isolation oder harte Kritik vonseiten anderer Menschen ausgelöst werden, können uns innerlich auch erschüttern.
Während der Coronapandemie mussten wir lange Zeiten der Isolation ertragen. Manche Menschen machten den Lockdown allein durch, während andere in dieser Zeit wenigstens Partner und/oder Familie, Freunde oder Mitbewohner (da gibt es viele verschiedene Konstellationen) an ihrer Seite hatten. Doch egal in was für einer Situation wir uns befanden: Viele von uns hielten sich während des Lockdowns bei sämtlichen Aktivitäten – Arbeit, Ruhe, Freizeitbeschäftigungen, Mahlzeiten usw. – den ganzen Tag in denselben Räumen auf. Durch diese Enge und Wiederholung entstand ein Umfeld der Isolation, das viele Menschen aus der Fassung brachte, weil sie es nicht gewohnt waren, mit sich selbst allein zu sein. Aufgrund des Mangels an gesellschaftlichen Ereignissen gab es für uns damals keinerlei Ablenkung; wir waren mehr oder weniger immer allein und somit praktisch gezwungen, uns selbst besser kennenzulernen. Genau wie diese Situation kann auch der Blick nach innen – bei Menschen, die so etwas nicht gewohnt sind – Stress und Angst auslösen.
Die Lehre von Konfuzius, die ich an den Anfang dieses Abschnitts gestellt habe, zeigt jedoch, dass ein solcher nach innen gerichteter Lernprozess auch etwas Positives sein kann. Wer gerne lernt, würde sich in so einer Zeit jeden Tag selbst prüfen, um zu analysieren, was er noch nicht weiß; außerdem würde er sein bisheriges Wissen weiter verfestigen und auszubauen versuchen. Wenn es uns (noch) keine Freude macht oder wir (noch) nicht bereit dazu sind, uns selbst näher kennenzulernen, und wir in diesem Entwicklungsstadium irgendetwas über uns selbst erfahren, kann es passieren, dass wir uns zwanghaft mit dieser neuen Erkenntnis beschäftigen.
Als Teenager kaute ich zum Beispiel immer mit offenem Mund, was mir jedoch erst auffiel, als ein enger Freund mich darauf aufmerksam machte. Danach konnte ich nicht mehr kauen, ohne mich befangen zu fühlen, weil ich jetzt ständig darauf achtete, ob mein Mund offen oder geschlossen war. Auch heute noch fällt es mir sofort auf, wenn andere Menschen mit offenem Mund essen. In meinem Fall gab es eine »einfache Lösung«: Ich hörte auf, mit offenem Mund zu kauen; doch gleichzeitig musste ich lernen, es zu tolerieren, wenn andere Menschen auf diese Weise essen.
Manchmal erfahren wir vielleicht Details über uns selbst, die uns unvorstellbar erscheinen – das können sogar Fehler und Schwächen sein, die gegen unsere persönlichen Prinzipien oder unsere moralische Einstellung zu verstoßen scheinen. Angenommen, jemand prangert unser Verhalten in einer bestimmten Situation als rassistisch, sexistisch, rücksichtslos oder gedankenlos an: Das würde uns kränken, weil wir uns nicht im Entferntesten vorstellen können, tatsächlich so zu sein. Vielleicht würden wir in so einer Situation sogar in die Defensive gehen. Deshalb ist es wichtig, unsere Beschäftigung mit Rén in einem Fundament ständigen Lernens zu verankern. Denn wenn wir davon ausgehen, dass wir uns in einem permanenten Lernprozess befinden, können wir Kritik besser annehmen (vor allem, wenn diese Kritik von uns selber kommt), weil wir dann wissen, dass wir uns dadurch weiterentwickeln und verbessern können. Da Rén eine Haltung der Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit uns selbst gegenüber erfordert, werden wir auf unserem Weg zu Rén öfters in Situationen hineingeraten, an die wir bisher vielleicht nicht gewöhnt waren und in denen wir uns verletzlich fühlen. Genau wie bei einer Videoaufnahme, bei der wir alle unsere Gesten, Posen und Bewegungen kritisch betrachten und beim Klang unserer eigenen Stimme unwillkürlich zusammenzucken, bringt auch Rén eine kritische Auseinandersetzung mit uns selbst mit sich.
Konfuzius lehrt, dass wir in unserer Selbsteinschätzung sehr ehrlich sein müssen: Wir sollten uns offen eingestehen, was wir alles noch lernen müssen, und uns in dem, was wir...
Erscheint lt. Verlag | 22.1.2025 |
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Übersetzer | Marion Zerbst |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Rén: The Ancient Chinese Art of Finding Peace and Fulfilment |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | Booktok • Chinesische Philosophie • Chinesisches Neujahr • Dankbarkeit • eBooks • Einklang • Friedvolles Miteinander • hygge • ikigai • konfuzianische lehren • Konfuzius • lagom • Matsumoto • Meditation • Menschlichkeit • Philosophie • Ren • Spiritualität • spirituelle Bücher • tik tok • Wabi Sabi |
ISBN-10 | 3-641-32264-2 / 3641322642 |
ISBN-13 | 978-3-641-32264-9 / 9783641322649 |
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Größe: 10,6 MB
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