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Der Fall Nawalny - Mord im Gulag (eBook)

Sein Leben, seine Ermordung - Was wirklich geschah

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-32838-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fall Nawalny - Mord im Gulag -  John Sweeney
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Sein Name war für den russischen Präsidenten tabu, bis Putin sich des verhassten Kontrahenten zuletzt doch entledigte: Alexej Nawalny, Putins gefährlichster Gegner. John Sweeney, der seit Jahrzehnten als Investigativjournalist zu den Abgründen der russischen Politik recherchiert und berichtet, kannte Nawalny persönlich. Nun liefert er eine packende Biografie über den Oppositionsführer und Hoffnungsträger, seine Stärken und Schwächen, die Attacken, denen er ausgesetzt war - und offenbart die Ziele und Strategien von Nawalnys mächtigen Gegnern. Temporeich, spannend und hochinformativ beleuchtet Sweeney die Geschichten hinter den Schlagzeilen und kommt zu einem klaren Schluss: Wenn Putin Einhalt geboten werden soll, muss der Westen ihm mit aller Entschiedenheit entgegentreten.

John Sweeney, Jahrgang 1958, arbeitete als Reporter für die BBC und ist ein vielfach ausgezeichneter Journalist mit internationalem Profil, der seit Kriegsbeginn aus Kiew berichtet. Seit fast 30 Jahren verfolgt er als investigativer Journalist hartnäckig die Geschäfte und Verbrechen der Mächtigen Russlands, allen voran Wladimir Putins.

Kapitel eins


Der Junge aus Tschernobyl

Kein Alarm, keine Zeitungsmeldung, nichts im Fernsehen: nur der Befehl, auf die Felder zu gehen und Kartoffeln zu pflanzen, um später im Jahr die Ernte zu sichern. Und das war seltsam, denn Salissja, das Heimatdorf von Nawalnys Großmutter väterlicherseits, lag weniger als 30 Kilometer vom Zentrum des größten Atomunfalls der Welt entfernt. Nawalnys Mutter war Russin, doch sein Vater war im Schatten der rot-weißen Kamine des Atomkraftwerks Tschernobyl in der sowjetischen Ukraine aufgewachsen, und Nawalny verbrachte dort die ersten neun Sommer seiner Kindheit. Wladimir Putin bezeichnete das Ende der Sowjetunion einmal als »die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts«. Nawalny wusste schon im Alter von zehn Jahren, dass Putin und alle, die dachten wie er, Idioten sein mussten.

Was im April 1986 als Sicherheitstest im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl geplant war, war ein übler Scherz. Der RBMK-Reaktor war die sowjetische Antwort auf die hohen Ölpreise. Doch er hatte eine Reihe schrecklicher Konstruktionsfehler. Er konnte seinen Operatoren nicht mitteilen, was in seinem Inneren wirklich geschah. Die Mitarbeiter konnten an einem Ventil drehen, indem sie ein steuerradgroßes Rad bewegten, wussten aber nicht, ob sie die Situation damit entschärften oder gefährlicher machten. Und der von den Konstrukteuren entwickelte Sicherheitstest konnte eine Kettenreaktion einleiten, die den Atomreaktor zum Kochen brachte.

Genau das war 1975, elf Jahre zuvor, im sowjetischen Leningrad – heute St. Petersburg – passiert, als Putin in seiner Heimatstadt seine Karriere beim KGB begann. Aufgrund der sowjetischen Geheimhaltungspolitik wurde das riesige Strahlungsleck vertuscht. Die betroffene Bevölkerung wurde nicht über die Gefahr informiert. In den Medien wurde über den Unfall nicht berichtet. Das Ministerium für mittleren Maschinenbau machte Baumängel, nicht die desaströse Konstruktion für den Unfall verantwortlich. Die Kommission, die den Vorfall untersuchte, sprach mehrere Empfehlungen aus. Keine wurde umgesetzt. Niemand beschwerte sich, weil niemand davon wusste. Willkommen in der Sowjetunion.

Als die Reaktortechniker in Tschernobyl im April 1986 den AZ-5-Knopf betätigten, um die Regelstäbe in den Reaktor einzufahren, dachten sie, sie würden den Test stoppen. In Wirklichkeit setzten sie eine Kettenreaktion in Gang, die den Kernreaktor in die Luft jagte, das Betondach zerstörte und den Kern freilegte. Es wurde tonnenweise entsetzlich verstrahltes Grafit herausgeschleudert. Die Menschen in der angrenzenden Stadt Prypjat sahen eine außergewöhnlich schöne dunkelblaue Lichtfontäne aus dem geborstenen Kernkraftwerk aufsteigen, dann ein orangefarbenes Leuchten, ohne zu ahnen, dass diese ionisierende Strahlung und das massive Kernleck in den darauffolgenden Jahren zu ungefähr 9000 Krebstoten in der Ukraine, in Weißrussland und Russland führen würden.

Jahre später kehrte Nawalny an einem der wenigen Tage, an denen die Behörden es gestatteten, in die leeren Straßen Salissjas in der Sperrzone von Tschernobyl zurück, um sich die verlassenen Klassenzimmer, die überwucherten Spielplätze, auf denen er herumgetollt war, und das verlassene Haus seiner Großmutter anzusehen. Erschüttert besichtigte er, was die Sowjetunion dort alles zerstört hatte.

2019 wurde die fesselnde HBO-Fernsehserie Chernobyl erstmals ausgestrahlt. Sie basiert auf den persönlichen Geschichten von Überlebenden, die die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zusammengetragen hat, und setzt sich eindringlich und schonungslos mit dem auseinander, was tatsächlich schiefgelaufen war. Die Behörden schoben die Schuld auf den Leuteschinder Anatoli Djatlow, den reizbaren, unsympathischen stellvertretenden Chefingenieur des Kernkraftwerks, weil er noch an dem Sicherheitstest festgehalten habe, als die Dinge bereits aus dem Ruder liefen. Djatlow wurde zum Sündenbock gemacht und ins Gefängnis gesteckt. Doch die HBO-Serie legte Beweise vor, dass die Konstruktion des Reaktors und letztlich die Engstirnigkeit des sowjetischen Systems, die Verantwortung trugen, nicht eine Einzelperson, die so schwer versagt hätte. Putins Anhänger hassten Chernobyl und erklärten die Miniserie kurzerhand zu westlicher Propaganda.

Nawalny wusste, dass diese Leute Unsinn erzählten, und äußerte das auch auf YouTube: »Was in Tschernobyl geschah, war wirklich eine ungeheure Katastrophe, und schuld daran war genau die permanente Lügerei, die widerliche, hässliche Lüge von all diesen Leuten, diesen Sowjetbossen, die in Moskau und Kiew saßen. Ich werde ein bisschen emotional, wenn ich darüber spreche, denn in gewisser Weise ist das meine Familiengeschichte. Alle meine Verwandten väterlicherseits stammen aus Tschernobyl. Ich weiß durch meine Verwandten bestens Bescheid und kenne die ganze Geschichte der endlosen Lügen. Das Kernkraftwerk explodierte, trotzdem sagten sie nichts und trieben die Leute hinaus, um … Kartoffeln für die Kolchose zu pflanzen. Dort gruben die Menschen mit eigenen Händen in der Erde, während der radioaktive Staub auf sie herunterrieselte und sie eine enorme Strahlendosis abbekamen.«

Russia 24, einer der wichtigsten russischen Propagandasender holte zum Gegenschlag gegen Chernobyl aus: »Das Einzige, was fehlt, sind die Bären und die Akkordeons!«, sagte der Moderator Stanislaw Natanson und zeigte als Beweis für eine Fälschung auf Bilder von Sturmfenstern aus den 2000er-Jahren, die angeblich zu einem Gebäude im Prypjat des Jahres 1986 gehörten. Das Fernsehpublikum sah die anachronistischen Fenster nur flüchtig. Natanson widersprach vor den Zuschauern von Russia 24 auch der Behauptung, das Sowjetsystem habe keine ehrlichen Stellungnahmen zugelassen: »Der Wissenschaftler Waleri Legassow leitete nicht nur die Reaktion der Regierung auf die Reaktorkatastrophe, sondern übte auch offen Kritik an ihrem Umgang mit der Atomindustrie.«

Stimmt fast. Legassow hatte tatsächlich 1987 für die meistgelesene Zeitung Komsomolskaja Prawda einen kritischen Artikel über die Sicherheitsstandards der sowjetischen Atomindustrie geschrieben. Darin legte er dar, warum die Konstruktion der RBMK-Reaktoren gefährlich war, und forderte, sie zu verbessern, und zwar drastisch. Doch der Artikel wurde nicht veröffentlicht. Erst nachdem sich Legassow 1988 aus Protest gegen die staatliche Vertuschung das Leben genommen hatte, kam der Artikel mit seiner Forderung, alle RBMK-Reaktoren sofort umzubauen, ans Tageslicht.

Die Strahlenverbrennungen in Tschernobyl waren ein Argument für die liberale Demokratie, doch Putin war zu verbohrt, um das zu begreifen. Zum Zeitpunkt der Katastrophe im Jahr 1986 war er ein Kämpfer im Kalten Krieg und arbeitete als untergeordneter KGB-Offizier mit sämtlichen Tricks aus dem Arsenal der Geheimpolizei, um die Macht der Sowjetunion im ostdeutschen Dresden durchzusetzen. Als die Sowjetunion fünf Jahre später auseinanderbrach, glaubte Putin, dass sich die CIA, der MI6 und andere westliche Geheimdienste verschworen hatten, um das Land, in dem er gelebt und dem er zeit seines Lebens gedient hatte, zu zersetzen. Im Betonkopfdenken eines sowjetischen Geheimdienstlers der 1970er gefangen, begriff er nicht, dass die drei Gründe für den Untergang seines Landes nicht westliche Agenten waren, sondern das chronische Versagen der Planwirtschaft im Wettbewerb mit freien Märkten, das katastrophale Scheitern der sowjetischen Armee bei dem Versuch, die Sympathien und Unterstützung der Menschen in Afghanistan zu gewinnen, und das Unvermögen eines Staates, der ein zivil genutztes Kernkraftwerk in eine Atombombe verwandelt hatte. Nawalnys Sicht auf Tschernobyl gründete auf der Einsicht, dass das System falsch und nicht zu retten war. Putin steckte in den Schlacken eines magischen Denkens fest. Das tut er bis heute.

Tschernobyl hat Nawalny gezeichnet wie Voldemort Harry Potter; die Narbe reichte so tief, dass er sie nicht wieder loswurde. Im Alter von zehn Jahren hatte Nawalny erlebt, dass ein Staat, der seine Bevölkerung belügt, etwas Teuflisches ist, dass man in der Politik – und wenn man an der Macht ist – den Menschen die Wahrheit sagen muss. Nachdem er gesehen hatte, was eine schwachsinnige, verlogene Macht seinem Kindheitsidyll angetan hatte, verbrachte er den Rest seines Lebens damit, andere Menschen nicht anzulügen.

Doch die Freunde und Verwandten in diesen ersten Sommerferien seines Lebens in der Ukraine und in der übrigen Zeit in Russland spürten auch, dass dieser Junge etwas Besonderes war: seine Ruhe, seine Furchtlosigkeit, seine Art, Dinge eigenständig zu durchdenken. Er war groß, blond und blauäugig, mit blendendem Aussehen. Doch er war auch sehr anders als seine Landsleute.

Alexej Nawalny wurde am 4. Juni 1976 in der Militärstadt Butyn, 40 Kilometer von Moskau entfernt, geboren. Sein Vater Anatoli war Offizier in der sowjetischen Armee, seine Mutter begleitete ihren Mann zu den verschiedenen Posten, an denen er stationiert war, die meisten davon nicht weit von Moskau entfernt. Seine lebendigsten Kindheitserinnerungen, so erzählte Nawalny immer, stammten aus der Ukraine. »Der Uzh, der nach Prypjat fließt, ein steiler Hang und die Schwalbennester. Und ich versuche immer wieder, diese Schwalbe zu erwischen, stecke meine Hand in das Nest, kann sie aber nicht fangen.«

Vor der Katastrophe von Tschernobyl...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2024
Übersetzer Eva Schestag, Bernhard Schmid, Karl Heinz Siber, Karsten Singelmann, Sylvia Bieker, Gisela Fichtl, Johanna Wais, Henriette Zeltner-Shane
Sprache deutsch
Original-Titel Murder in the Gulag: The Life and Death of Alexei Navalny
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • Autobiographie • Bestsellerautor • Biographie • Diktatur • Diplomatie • eBooks • Freiheitskampf • fsb • Gefängnis • Giftmord • Julija Nawalnaja • KGB • Korruption • Kreml • Krieg • Kriegsverbrechen • Mordanschlag • Moskau • Neuerscheinung • Opposition • Patriot • Politik • Prigoschin • Putin • Russlandexperte • russland straflager • Ukraine • Wagner • Widerstand
ISBN-10 3-641-32838-1 / 3641328381
ISBN-13 978-3-641-32838-2 / 9783641328382
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