Teenage Blues (eBook)
222 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86824-4 (ISBN)
Familie als sicherer Hafen
Kinder und Jugendliche sind wie Boote, sie brauchen Orientierung, einen Rahmen und klare Strukturen. Es ist völlig in Ordnung, dass sie hinausziehen und die Meere entdecken wollen, aber dazu brauchen sie die Anleitung ihrer Eltern, einen Leuchtturm, an dem sie sich ausrichten können, und einen Hafen, in den sie bei Sturm zurückkehren können.
Eltern sind die Ersten, die ihren Kindern dabei helfen, Identität, Wurzeln und Persönlichkeit zu bilden. Und die Familie ist der Hafen, mit dem jedes Kind sein ganzes Leben verbunden bleibt. Sichere Bindung gibt ihnen Halt, und starke Eltern weisen ihnen den Weg durch ruhige wie unruhige Zeiten. Du bist der Leuchtturm im Leben deiner Kinder. Du bist der Experte eures Hafens, kennst die Regeln, Strukturen und Werte. Du sorgst täglich für die Boote und erkennst, was sie benötigen. Diese Rahmenbedingungen sind wichtig, damit kein Chaos entsteht. Denn Orientierungslosigkeit und unklare Entscheidungen verunsichern das Familiensystem. Kinder verlieren sich, können laut, hippelig, aggressiv, aber auch depressiv werden, wenn sie sich bei ihren Eltern, im Hafen, nicht sicher fühlen.
Mein Team und ich treffen auf viele Jugendliche an der Schwelle zur Pubertät, deren Sozialkompetenz eingeschränkt ist, die traurig und bedrückt wirken und keine Perspektiven in ihrem Leben sehen. Herausfordernde Verhaltensweisen, allgemeine Ängste, Sozialangst, nicht mehr in großen Gruppen sein zu wollen, Rückzug, aber auch aggressives Verhalten sind in den letzten Jahren angestiegen.
Wir leben in besonderen Zeiten. Unsere moderne und leistungsorientierte Gesellschaft stellt uns vor große Herausforderungen. Wir haben Gefallen an unseren persönlichen Freiheiten, wählen unsere Familienentwürfe, ob im klassischen Sinne als Mutter-Vater-Kind-Konzept, Patchwork, alleinerziehend oder divers und vieles mehr. Wir genießen einen offenen Zugang zu Bildung und zu jeder Form von Informationen. Unsere Gedanken sind frei, und wir leben in einer Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit und die persönliche Privatsphäre ein wertvolles Gut sind. Dieser Individualismus schenkt uns große Freiheit und Einsamkeit zugleich.
Doch vergessen wir nicht, dass Menschen Sippentiere sind. Schon in der Steinzeit überlebten nur die Stämme mit einem starken Zusammenhalt. Dafür entwickelten sie ihre Hierarchien, Werte und Glaubenssätze. Die Stammesstruktur organisierte die Abläufe, ermöglichte Orientierung und sicherte damit das Überleben der Gruppe. Dieses Bewusstsein ist tief in unserer DNA verankert. Bis heute kommen wir mit einem ausgeprägten Bedürfnis nach Zugehörigkeit auf die Welt.
Wir Menschen möchten zu einem sozialen System dazugehören. Im Laufe unseres Lebens kommen wir mit unterschiedlichen sozialen Systemen in Berührung. Doch das prägendste System ist unser Familiensystem. Hier erleben wir ein tiefes Gefühl der Verbundenheit. Gemeinsame Werte, Visionen und Ziele verbinden uns miteinander. Die bedingungslose Liebe unserer Eltern ermöglicht uns, Selbstvertrauen zu entwickeln. Wir brauchen dieses Gefühl der Zugehörigkeit, um Wurzeln zu schlagen, unsere Identität zu entwickeln, uns in unserem Leben sicher zu fühlen und ein kooperatives, selbstbewusstes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Gleichzeitig mit diesem Bedürfnis nach Gemeinschaft streben wir nach Individualisierung. Vor diesem Hintergrund und der Frage, wie bedeutend Gemeinschaft für den Menschen ist, hat der Neurowissenschaftler John Cacioppo zum Thema Einsamkeit geforscht.1
Er musste feststellen, dass Menschen, die sich einsam fühlen, einen höheren Stresspegel entwickeln und anfälliger für Depressionen werden. Sich einsam zu fühlen kann bedeuten, dass ein Mensch sich mit niemandem verbunden fühlt. Es kann auch bedeuten, dass der Mensch viele Freunde hat, aber zu niemandem eine so tiefe Bindung spürt, dass er sich sicher und aufgehoben fühlt. In unserer schnelllebigen Zeit bleibt oft keine Zeit für tiefe Bindungen. Auch bei geselligen Menschen sind Verabredungen oft davon gekennzeichnet, dass sie parallel auf ihr Handy reagieren und hundert weitere Dinge im Kopf hin- und herschieben. Unter diesen Umständen sind wir nicht präsent, und Präsenz ist nötig für eine klare und stabile Beziehung.
Doch unsere moderne, individualisierte Gesellschaft, auf die wir aufgrund von Freiheiten, Technologien und anderen Errungenschaften sehr stolz sind, entspricht nicht unserem Naturell. Man könnte meinen, dass unsere Lebensform uns geradezu krank machen kann. Diese Welt, gespickt mit alltäglichen, neuen, kleinen und großen Fragen, kombiniert mit großen Krisen, lässt auch uns Erwachsene auf unsicheren Beinen stehen. Wir wählen neue Lebenskonzepte und suchen Antworten auf unsere Fragen. Oft fehlen uns dafür Vorbilder aus vorangegangenen Generationen.
Die digitale Welt ist dafür ein anschauliches Beispiel. Immer wieder sind wir mit Neuheiten konfrontiert, wie zum Beispiel sozialen Netzwerken oder Plattformen. Wie können wir beurteilen, welches Angebot sinnvoll ist und uns oder unseren Kindern weiterhilft? Ein Beispiel ist ChatGPT, eine neue Errungenschaft von Entwicklern, mit dem Potenzial, die Welt zu verändern. Aber wie führe ich meine Kinder da heran, was rate ich ihnen für den Umgang mit dieser neuen Entwicklung? Was heute noch richtig scheint, kann sich morgen als falsch herausstellen. Das alles sind Fragen, die Großeltern – und oft auch Eltern – mithilfe ihres Schatzes an Lebenserfahrung häufig nicht mehr beantworten können.
Leuchttürme als Schlüssel zur New Authority
Für das Bild einer Familie von heute nutze ich gern die Metapher »Hafen«. Der Hafen symbolisiert zum einen, was eine Familie braucht, und zum anderen wird deutlich, was passiert, wenn in diesem Konzept etwas nicht funktioniert. Ein Hafen hat klare Strukturen und feste Regeln. Hier hat jedes Boot seinen Anlegeplatz und wird mit allem Nötigen ausgestattet, um in See zu stechen. Da dürfen ein Anker, Segel, Ruder und Navigationsgeräte nicht fehlen. Der Hafenmeister sorgt dafür, dass die Regeln penibel eingehalten werden. Bist du schon mal vom Hafenmeister erwischt worden, wie du den falschen Anlegeplatz ansteuerst? Das machst du nur einmal!
Jeder Hafen hat einen großen Leuchtturm. Im besten Fall steht dieser in einem festen Fundament, hat geputzte Fenster und ein starkes Licht, mit dem er den Booten die Richtung weisen kann. Der Leuchtturm ist das Symbol für einen festen und klaren Orientierungspunkt. Außerdem befinden sich noch andere große und kleine, in anderen Farben angestrichene Leuchttürme im Hafen. Jeder Leuchtturm hat seine feste Aufgabe und unterstützt damit den Hauptleuchtturm. Und wenn der große Leuchtturm doch mal wegen Renovierungsbedarf ausfällt, übernehmen zeitweise die anderen Leuchttürme gemeinsam die Aufgabe des großen Leuchtturms.
Wenn ein Boot schließlich voll ausgestattet, die Besatzung sicher im Umgang mit den Gezeiten ist und die Regeln für ein gefahrenfreies Vorankommen verinnerlicht hat, kann das Boot den Hafen verlassen und die weite Welt erkunden. Der Leuchtturm weist ihm vielleicht zu guter Letzt noch, welche Richtung es einschlagen könnte. Er hat so großes Vertrauen in die Ausstattung des Bootes, dass er es in See stechen lässt, ohne einen Helikopter zur Sicherheit hinterherzuschicken.
Genauso geht es dem Boot: Es vertraut auf den Leuchtturm in seinem sicheren Fundament und auf sein Licht, das Orientierung gibt. Sollte die See rau werden, findet das Boot, mithilfe des Leuchtturms, zurück in den Hafen.
Aber wie kann es Eltern heute – mit all der Verunsicherung, die das Elternsein, aber auch die moderne Welt, die neuen Medien, gesellschaftliche und globale Krisen etc. mit sich bringen – gelingen, Leuchttürme mit einem festen Stand zu sein, mit einem guten Überblick, mit der Fähigkeit, Ordnung und Struktur zu geben und Grenzen zu setzen? Auf der Suche nach Antworten las ich von einem Haltungskonzept, das zur Beratung von Eltern entwickelt wurde. Es konzentriert sich darauf, Eltern zu stärken, mit ihnen Präsenz zu erarbeiten und sie fest in ihr Fundament zu stellen. Da die meisten psychologischen und pädagogischen Ansätze sich in den letzten Jahren eher auf das Kind...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
ISBN-10 | 3-407-86824-3 / 3407868243 |
ISBN-13 | 978-3-407-86824-4 / 9783407868244 |
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